Da die Fraktalgrafiken und die
durch Iteration generierten anderen grafischen Forme in der ersten Linie mathematische
Probleme darstellen, ist es ratsam, ihre Struktur von der Seite der Mathematik
zu erklären auch dann, wenn sie, wie jetzt in unserem Fall, im Zusammenhang
mit der Kunst auftauchen. In der folgenden Übersicht werden wir einige
Variante jener Iterationen kennenlernen, die zu den Lindenmayer-Fraktalen (kurz:
L-System) gehören und durch die s.g. "Turtle Methode" zu generieren
sind. Vieles von den Eigenschaften dieser einfachen Fraktalen sind heute noch
nicht ausreichend erforscht, deshalb ist es doppelt interessant, mit ihnen zu
experimentieren. Die hier angewandte Kodierung folgt vereinfacht der Bezeichnung
der populären Software "Fractint".
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Unser
erstes Beispiel ist ein allgemein bekannter klassischer Fraktal, die Koch-Kurve.
Man kann sie durch den folgenden Kode generieren:
Angle 6
Axiom F
F = F + F - - F + F
wo F eine gerade Strecke bedeutet, die + und Zeichen auf
eine Abbiegung nach rechts oder links hinweisen und die "Angle" den
Winkel dieser Richtungsänderung angibt (das ist hier 360 / 6, d.h. 60°).
Der "Axiom" (auch Iniziator genannt) ist eine gerade F-Strecke
(gegebensfalls mehrere F-s), die als Anfangsform der Iteration dient und die
F=.... Gleichung (oder der Generator) ist jene Formel, die man anstelle
der F des Iniziators (und auch jeder weiteren F-Strecke in der Formel selbst)
während des Iterationsprozeßes hineinsetzt. Wenn wir jede F des Generators
tatsächlich mit der ganzen Formel ersetzen und diese schrittweise Erweiterung
unendlich wiederholen, bekommen wir eine quadratisch wachsende Formel und dementsprechen
auch eine Zick-Zack-Linie, die immer mehr gebrochen und länger wird. Die
Koch-Kurve wird sich infolge der ersten Schritten so aussehen:
n =1
n = 2
n = 3
n = 6
Wir können
auch ohne die oben angegebenen Formel von diesen Zeichnungen direkt ablesen,
was passiert ist: die Anfangsstrecke wurde drei geteilt und die so entstandene
mittlere Strecke wurde durch die zwei Seiten eines gleichseitigen Dreiecks ersetzt.
In den weiteren Iterationen wiederholten wir dieses Verfahren an jeder neuentstandenen
Teil-Strecke. Es ist leicht einzusehen, daß die Koch-Kurve auch nach unendlich
vielen Iterationen nicht wesentlich anders aussehen wird, als unsere letzte
Zeichnung (die übrigens nur die sechste Iteration darstellt). Man nennt
diese virtuelle End-Form, die die Kurve schrittweise an sich zieht, Attraktor.
Die s.g. Fraktaldimension
ähnlicher Kurven kann man nur durch eine Bruchzahl ausdrücken, die
zwischen einz und zwei liegt, weil die endlos iterierte Kurve zwar sicher "dicker"
als eine eindimensionale Linie wird, sie wird jedoch nie die zwei dimensionale
Ausdähnung einer Fläche erreichen. Man rechnet diese Dimensionszahl
mit Hilfe der logarrithmischen Form jenes Quotients aus, die die Maßstabsänderung
zwischen dem grafischen Ergebnis zweier Iterationsschritte angibt. Wenn der
Kode des Fraktals bekannt ist, haben wir es leicht, weil die Maßstabsänderung
durch jenen Quotient gemessen wird, dessen Dividend die Länge der F-Kette
des Generators ist, seiner Nenner jedoch die jewels gemessene tatsächliche
Vergrößerung des Fraktalbildes ebenfalls in F ausgedrückt.
In unserem Fall fällt auf einem 4 F langen Generator nur eine 3 F lange
Streckung (siehe die n=1 Figur). So ist es leicht, durch die logarrithmische
Form dieser Maßstabänderung auch die gesuchte Fraktaldimension anzugeben:
D = = 1,26185...
Die Koch-Kurve
hat sich trotz die sich vermehrenden F-Strecken und die ständigen Richtungsänderungen
nie sich selbst geschnitten sie ist ein selbstmeidender Fraktal. Schon
eine kleine Veränderung des Kodes reicht jedoch aus, um eine sich hin-
und her schlingende und auch sich selbst schneidende und teils sich überdeckende
Linienkurve zu erzielen. Eine solche Koch-Mutant erzeugt der folgende Kode:
Axiom F - F - F
Angle 6
F = F - F + + F - F - F + F - - F + F
Wenn wir die
grafischen Ergebnisse der ersten vier Iterationen ansehen, fällt es uns
sofort auf, daß die generierte Kurve ab der zweiten Iteration ein sich
stets wachsendes regelmäßiges Parkettenmuster darstellt. Anderseits
büßt diese Form jene offenkundige Selbstähnlichkeit ein, die
die Koch-Kurve noch inne hatte. Die Anfangsform (in der wir den Beginn der einzelnen
Generators mit einem schwarzen Punkt markierten) überdeckt sich mehrfach
schon bei der zweiten Iteration (die 3x8= 24 F-Strecken der ersten Figur sollten
sich bei der zweiten Iteration schon auf 3x82=192 vermehren, wir
sehen jedoch anstatt 192 nur 120 F-Strecken, d.h. 72 wurden durch Überlagerung
abdeckekt):
n = 1 n = 2
n = 3 n = 4
Zwischen den zweiten und dritten
Iteration gibt es eine Selbstähnlichkeit, die nicht ganz makellos ist,
weil die Scheibe der zweiten Figur nur 7-mal auf der dritten zu legen ist (es
sollte eine mit 3 teilbare Zahl sein). Bei dem nächsten Schritt kommt es
zu einem noch größeren Verlust, wir könnten nämlich mit
der Figur der dritten Iteration nur sehr unvollkommen (Schuppen oder Dachziegeln
ähnlich) die vierte Iteration abdecken. Auf den nächsten Bildern sind
die auf die Selbstähnlichkeit hinweisenden Teilforme durch Schattierung
sichtbar gemacht worden:
n = 3 n = 4
Können wir unsere Parkette
mit so vielen Unregelmäßigkeiten noch immer für einen echten
Fraktal halten? Dies zu entscheiden, untersuchen wir, ob sie eine fraktale Dimension
hat. Es fällt auf die 8 F lange Kette des Generators eine 4.5 F lange tatsächliche
Streckung und dies entspricht einer Fraktaldimension von D=1,382553.... Dies
gilt jedoch nur auf den gezackten Rand des Parkettenfeldes!
Was für eine Dimension
kann das Innere des Parkettenflecks haben? Bei den zweiten und dritten Iteration
haben wir eine 1 zu 7 Vergrößerung der Fläche gesehen, die tatsächliche
Streckung des Gesamtbilds ist jedoch nur 1 zu 3/2.. Daraus ist mit einer zufriedenstellenden
numerischen Genauigkeit eine Dimensionszahl von 2 auszurechnen. Diese Dimension
ist jedoch nicht für die Linien, sondern für Flächen typisch.
Das heißt, der Liniennetz dieses Parkettenmusters würde sich nach
unendlich vielen Iterationen schließen und (der bekannten Peano-Kurve
ähnlich) die Fläche lückenlos abdecken.
Es gibt noch einen Weg die Fraktaldimension
des Parkettenmusters zu ermitteln. Da die Knotenpunkte des Liniennetzes mit
den Schnittpunkten eines Parallelogramm-Gitters zusammenfallen, auf die wir
einen Netz aus gleichseitigen Dreiecken zeichnen könnten, auch unsere Parkette
ist topologisch gesehen ein gleichseitiger Dreieck-Gitter (ähnlich dem
vorgedruckten Netz eines Isometrie-Papiers). Dies hat jedoch ebenfalls die Dimensionszahl
2. Das Ergebnis: diese Parkette ist wirklich ein flächendeckendes Linienmuster
(sie ist also kein Fraktal). Nur ihr gezacktes Randmuster ist ein Fraktal.
Als nächster Schritt untersuchen
wir, wie verhält sich diese Parkette während der fortlaufenden Iteration,
d.h. was sind ihre Wachstumseigenschaften? Da bestimmte Teile der Parkette unterwegs
überdeckt werden, wir sollten zwischen den tatsächlich generierten
F-Strecken und jenen, die durch Abdeckung "verloren gehen", einen
Unterschied machen. Es gibt also die Zahl der insgesamt generierten F-s (totale
F), dies wird während der Iteration quuadratisch wachsen. Dann gibt
es die Zahl der abgedeckten F-s (virtuelle F) und schließlich,
wenn wir diese Zahl von den totelen F-s abziehen, bekommen wir die sichtbare
Elemente der Parkette (aktuelle F).
Es ist einzusehen (und mit entsprechenden
Methoden auch auszurechnen), daß auch die Zahl der abgedeckten (d.h. virtuellen)
F-s mit der Iteration stets wachsen wird und zwar in einer Proportion, die dem
Wachstum den Zinserzinsen ähnelt. Die sichtbare F-s und damit auch
die Größe der generierten Parketta wird also durch die folgende
Relation ermittelt:
Der Wert dieses
Bruchs soll in allgemeinen kleiner als 1 bleiben, da die Zahl der virtuellen
F-s immer kleiner ist als die der insgesamt generierten F-s. Ferner: es kann
Fälle geben, in denen sich dieser Quotient während des Wachsens so
regelmäßig verhält, daß wir die regelmäßig
wachsende Kohärenz auch durch eine Funktion ausdrücken können:
Es gibt jedoch
Fälle, wo dies sicher nicht gilt, weil die Iteration der fraglichen Form
nach einigen Schritten steckenbleibt (und ab diesem Moment der Wert der Kohärenz
sich zu dem sonst untypischen 1 nähert). Diese Anomalie kommt dann vor,
wenn der Kode "defekt" ist und eine Transformation definiert, die
das grafische Gebilde zu einer sich selbst überschreibenden Kreisbewegung
zwingt. Dies kann passieren, wenn die Kurve nach einigen Iterationen zu ihrem
Anfangspunkt wieder erreicht, welcher Punkt in den folgenden als der Mittelpunkt
einer mehrachsigen Spiegelung dient. Die so erzeugte kreissymmetrische Form
wächst nicht weiter, sie wird eine Rosette. Ein sehr einfaches Beispiel
für diesen Fall stellt die folgende Variant dar (wobei zu merken ist, daß
auch dieser Kode mit der Koch-Kurve verwandt ist):
Axiom F
Angle 6
F = F - F + + F - F + F - F + + F - F
Es ist lehrsam
dem Gang der ersten drei Iteration zu folgen, weil in den weiteren es zu keinem
Wachstum mehr kommt, sondern bleibt die Rosette in ihrer Bahn gefangen:
Man kann die
Form der Rosette als einen Attraktor betrachten, der so stark ist, daß
er die Iteration unterbricht, befor ein unendlich wachsender Fraktal sich überhaupt
entwickeln könnte (wir haben in diesem Fall, sozusagen, einen möglichen
Attraktortyp innerhalb dieser Fraktalenfamilie L-System "voll getroffen").
Wenn man versucht, meistens gelingt es, den Kode der rekursiven Fraktale so
mit modifizierenden Ergänzungstransformationen auszustatten, daß
sie den latenten Attraktor verstärken und den Gang der Transformation in
eine Rosette-Form zwingen.
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Zu dieser
skizzenhaften Darlegung, die sich begnügte, nur an Hand einiger einfachen
iterierten grafischen Bilder darauf hinzuweisenn, was für Probleme auftauchen
können, wenn diese Gestalte während der Iteration von den Wachstumsregeln
der klassischen Fraktale abweichen, würde ich noch so viel hinfügen,
daß es zumindest drei Gesichtspunkte gibt, die die weitere Untersuchung
solcher "defekten" Fraktale lohnend machen:
1. Die sich in Strudelbewegung
windenden, einen Liniennetz erzeugenden und unterwegs teils sich selbst abdeckenden
iterierten Forme bekunden eine Verwandtschaft mit der Wellenmechanik. Der Akt
der Selbstschneidung und der Selbstüberschreibung scheint zum Beispiel
ein spezieller Fall des Interferenz zu sein und die paradoxen Züge der
gerade erwähnten Rosetten erinnern an die Charakteristik der stehenden
Wellen. Die Bezeichnung "schwaches Chaos", die ab und zu in der sich
mit der Dynamik der Wellenbewegung befassenden Fachliteratur vorkommt, deshalb
könnte auch für die hier vorgestellten iterierten Forme zutreffend
sein.
2. Einen interessanten Aspekt
der Untersuchung könnte die Frage der Entropie dieser iterierten Forme
darstellen. Was über die Kohärenz gesagt worden ist, weißt auf
eine Verwandtschaft mit dem von Shanon definierten Begriff "Information"
hin. Die Kohärenz ist proportional zu der Information des sich abzeichnenden
Bildes und umgekehrt proportional zu der Entropie der Kurve. Die Frage wirft
erneut all jene Probleme auf, die dann entstehen, wenn wir den von Shanon geschaffenen
Informationsbegriff nicht auf die Physik begrenzt anwenden (ein markantes Beispiel:
auch Max Bense konnte sich mit seiner kibernetischen Ästhetik deshalb nicht
durchsetzen, weil er die Qualität der Kunst mit jener Wertskale gleichsetzte,
die er unveränder aus diesem Informationsbegrifft übernahm).
Der gleichseitige Dreieck und
der Quadrat sind unter den metrisch gegliederten Formen die jenigen, die über
die größte Information verfügen. Auch sie gehören zu den
Rosetten, ihre Koden sind: Angle=3, F=F+F; bzw. Angle=4, F=F+F. Das Wachstum
des gleichseitigen Dreiecks bleibt schon nach anderthalb Iteration stecken,
das von dem Quadrat tut das selbe nach zwei Iterationen, und dementsprechend
steigt auch ihre Kohärenz sehr schnell.
Es ist verständlich, wenn
gerade der Dreieck und der Quadrat als Protagonisten unserer Theorie viel zu
trivial erscheinen. Sicher werden sie viel weniger Bewunderung ernten, als jene
stärker gegleiderten Forme, die zwar über eine kleinere Kohärenz
und eine größere Entropie verfügen, trotzdem den Eindruck geben,
"man könnte einen Roman über sie schreiben" (ein gutes Beispiel
ist dafür die Mandelbrot-Menge). Auch für unsere grafischen Gebilde
gilt das, was die allgemeine Ansicht der gängigen Fachliteratur ist, namentlich,
daß von dem Standpunkt der Komplexität aus betrachtet die am meisten
interessanten Fälle nicht unbedingt jene sind, die den größten
Wert der physikalischen Information aufweisen. Viel mehr sind es die jenigen,
die eine optimale Mischung der Information und der Entropie darstellen (allgemein
bekannt ist dieses Problem als die Diskussionen über das Gleichgewicht
zwischen Ordnung und Chaos).
3. Die ganze Fragestellung paßt
gut zu den Bestrebungen, die die bisherige statische Betrachtungsweise der Wissenschaften
mit einem neuen Aspekt ergänzen wollen, der die Dinge im Prozess der Entstehung
und des Werdens erfasst und beschreibt, und deren Name "Emergence"
ist. Es ist fast eine Kuriosität, daß jetzt dank der Chaosforschung
auch jener Faktor in der Mathemathik eine Rolle spielt, der bisher vollkommen
fremd für die Welt der Zahlen und der geometrischen Forme war: die Zeit.
Es handelt sicht nicht nur darum, daß die Forschungen an diesem Gebiet
die "experimentelle Mathematik" entwickelten, sondern auch selbst
in dem mathemathischen Denken begannen Begriffe wie "früher"
und "später" sowie die Bedeutung eines sich während des
Entstehenprozeßes zeigenden Optimums eine größere Rolle
zu spielen.
Dieses Optimum ist es, wessen
heuristische Kraft die Grenzen der Mathematik überschreitet und was fähig
ist, allgemeingültige Symbole zu erzeugen. Solche Symbole werden Konvention
und auch ein Gemeingut für die Kultur. Wir erkennen, daß ein Wandel
in unseren Tagen zu beobachten ist: Die alten Mythen über die schönen
Proportionen werden durch einen neuen Mythos, durch die Begriffe und die visuellen
Ergebnisse der iterierten Geometrie ersetzt.