Die Namen nicht auf Wahnhaftes tragen
Von Josef a Tillmann


Spuren von Religiösem gibt es überall. –
schrieb ein Freund, als ich erwähnte, was mich gerade beschäftigt. Tatsächlich gibt es solche Spuren überall, wo es Menschen gibt. In den Häusern, auf den Märkten, in den Medien. Und es braucht gar nicht eine der vielen etablierten Religionen sein. Man glaubt an Heilsbotschaften verschiedener Heilpraktiker und Unheilpraktiker, folgt dem Werbewort so vieler (Frohe)Botschaften versprechender Bild- und Tonträger.
Religiosit ät ist anthropologische Gegebenheit. Eine menschliche Konstante, nur die zeit- und kulturgebundene Verteilung seiner “Gegenstände“ zeigt verschiedene Muster.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich im Grunde genommen das ungarische Universum nicht besonders von anderen (mittel)europäischen Universen.
Einige Spezialitäten müssen jedoch kurz erwähnt werden: Neben neuen Synkretismen, Esoterismen aller Art dominiert der alte nationale Paganismus – wie in allen retardierten Regionen unseres Kontinents. Es ist jedoch eine “renovierte” Version, neben christlichen Deckfarben zeigt er auch oft anthroposophische Allüren. (Das Groteske an diesem “organischen” Naturpolytheismus zeigt sich u.a. in seiner Boden- und Wurzelverehrung – wobei man bedenken muss, dass die Anhänger Abkömmlinge der zuletzt angesiedelten Nomaden Europas sind.) Das dominante Element ist jedoch in allen religiösen Strömungen – handelt es sich um christliche oder nichtchristliche – das gnostisch-manichäistische. Es hat sich im vorigen Jahr – es war ein Wahljahr – breit und offensichtlich manifestiert. Durch die geschickt ausgeübte und mit ungewöhnlichen Marketingtechniken verbreitete machiavellistische Machtpolitik der vorigen Regierung gipfelte es in einer “gnostischen Aussschweifung”. (Ich zitierte die Formulierung eines katholischen Theologen, von einem der Besten übrigens.)

In seinem eben erschienen Buch Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn schreibt der Gehirnforscher und Neurophilosoph Detlef B. Linke: “Wenn man die Religion als Begleiter der menschlichen Evolution betrachtet, dann lässt sich die geistige Entwicklung des Menschen als zunehmende Einsicht in seine religiöse Beziehung beschreiben.”[1]
Zu Sichtbarkeit, zur Einsicht ist Licht unerläßlich. Licht, Lumière, Aufklärung. Die Theologie, das Nachdenken über Gott, (hat) die Aufklärung selbst hervorgebracht – sagt Hannes Böhringer - Theologie in der biblischen Tradition ist das Wort Gottes, seine Selbstaufklärung, Ausgangspunkt jedes weiteren Nachdenkens über ihn. Aus der Aufklärung über ihn ist dann eine Aufklärung von ihm (weg) geworden. Dank dieser Bewegung ist ein großer Teil der Theologie selbst fortgerissen worden und gewissermaßen vor der Aufklärung untergetaucht, existiert aber verwildert und verwahrlost weiter und taucht z.B. in der romantischen und modernen Kunst auf.[2]

(Verschärfter Verdacht)

All die heute anzutreffenden religiösen Phänomene stehen im Zeichen der Postmoderne. Gegenüber ihrer modernen Vorgeschichte schmückt sich die Postmoderne gerne mit religiösen Referenzen. Ihre Hauptmerkmale sind Beliebigkeit, Unverbundenheit und Historismus.
Für denpostmodernen Historismus ist Vergangenes ein Magazin der Formen und Figuren. Die digitalisierten Speichermedien machen Archive ferner Zeiten und Orte mit einem Mausklick zugänglich. Durch Kollagierung- und Insertierungstechniken aller Art werden die Reservoiren aus den Lagerräumen schnell auf die Benutzeroberfläche gebracht.
Das Aneignen von Fremdem, Vergangenem ist mühsam und braucht gewisse Vertiefung, wiederum geht das Zitieren und Reziklieren – besonders mit Computern - leicht und ist konform.
Inmitten der historisierten Bild-, Sprach-, Klang- und Textlandschaften erscheinen selbst die überkommenen Modi der religiösen Traditionen als postmodern und werden auch so akzeptiert. Die Rezitation heiliger Texte scheint den neueren Zitierungsverfahren sehr ähnlich, wie auch überkommene Sprachgewohnheiten mancher Gläubiger und Kleriker. Oft ist die Ähnlichkeit nicht scheinbar, sondern wesentlich: das bloße Gebrauchen von Vorgefundenem, von Überkommenem, ohne die geringste Mühe des Aneignens, des Bedenkens, des Erfahrens.
In der wohlbeleuchteten Postmoderne lassen sich nicht nur neue Lichtgebilde, sondern auch neue Schatten beobachten. Damit geht ein verstärkter Verdacht gegenüber der ganzen Moderne einher. Neben der neuen Unbefangenheit gegenüber Religion zeichnen sich merkwürdige Veränderungen in der Selbstdeutung mancher konfessioneller Gläubiger ab. Ghislain Lafont, französicher (Benediktiner-)Theologe hat daran aufmerksam gemacht, dass die Versuchung groß ist, dass die Katholiken sich in der Rolle jener gefallen, die `Recht hatten`, die es `schon vorhergesagt hatten`, und die Moderne schon beerdigen, ohne jemals die Begegnung mit ihr gewagt zu haben; und dass sie, wenn auch nicht führende, aber doch eine`bewegende` Rolle in der radikal antimodernen `Postmoderne` einnehmen.[3]
Modernität läßt sich aber nicht so leicht eliminieren - letzten Endes ist Postmoderne auch eine Art Moderne. Und der moderne Verdacht - oder feiner formuliert: die Skepsis - vertieft sich durch die Erfahrung mit der postmodernen Religiosität zusätzlich.
Wenn nun Religion und Philosophie ihre Überzeugungskraft verlieren– schreibt in seinem letzten Buch Hannes Böhringer - , wenn sie als Fiktion, als Dichtung erscheinen, wenn ihr Kunstcharakter hervortritt, dann kommen auf die Kunst die Funktionen der Religion und der Philosophie zu.[4]
Offensichtlich gibt es eine Verschiebung der Proportionen sowie auch eine neue Verteilung der Funktionen. Die Fragestellung dieser Konferenz weist ebenso darauf hin wie zahlreiche andere Zeichen. Bei dieser “funktionellen Veränderung” kommen verschiedenen Künsten nicht nur religiöse Funktionen verstärkt zu, sondern es wird noch mehr auf ihre wahrnehmenden Fähigkeiten gesetzt.
Um sich auf das Unerwartete, auf das Neue entsprechend einzustellen, genügt nicht das bloße Warten. Um es überhaupt zu Entdecken, bevor es eintrifft, muß es eine Bereitschaft für das Aufnehmen, für das Wahrnehmen geben. Um die entsprechenden Fähigkeiten parat zu halten raten uns alte wie neue Schriften – vom Neuen Testament bis hin zu neuorologischen Sachbüchern. 
Die neuere Hirnforschung hat aufgedeckt, dass Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist, der gewöhnlich komplexe sensomotorische Mechanismen ins Spiel bringt. Und dass das Wahrnehmungserlebnis nicht sensualistisch strukturiert ist.[5]
Das Wahrnehmen ist eine Aktivität. Und die besten “Aktivisten” sind unumstritten die Künstler und Künstlerinnen. Fabrizio Plessi, Bildhauer und Video-Künstler hat diese spezifische Fähigkeit folgendermaßen beschrieben: “Ein Künstler ist ein Tier mit großer Sensibilität, mit weitreichenden Antennen, die ihn befähigen, Probleme zu sehen und zu ahnen, die andere Menschen nicht sehen[6].
Auf die Beziehung Religion bzw.Theologie und Schriftkunst bezogen bedeutet dies ungefähr, dassnicht die Kunst die Theologie braucht, sondern die Theologie braucht die Kunst – wie es der ungarische Literaturwissenschaftler und Theologe Marcell Mártonffy schrieb.
Seine Behauptung wird von Seiten des schon erwähnten Ghislain Lafont weitgehend bestätigt. In seinem Aufsatz Ort der Wahrheit im theologischen Denken schreibt er darüber, daß das theologische Denken, ohne es wahrzunehmen, unterwegs zu rationalistischen Glaubensdeutungen verarmt und sich verirrt, und “dass dabei wesentliche Dimensionen verachtet wurden, “besonders die der sinnlichen Wahrnehmung musste seine Wirkung langsam einbüßen, und damit auch die Metaphern und das unendliche Spiel spiritueller Bedeutungen.” [7]

(Die Namen nicht auf Wahnhaftes tragen)


Der Literatur kommt in der heutigen Situation noch eine besondere Rolle und dadurch eine heikle Position zu. Ein Schriftsteller hat es nicht leicht mit seinem Rohstoff, mit der Sprache. Denn nicht nur Gegenstände, Schriften, (Texte, Ur-Texte) veraltern, verschleißen durch Gebrauch, sondern auch Sprachen, Sprechweisen nutzen sich ab. Und durch die Wörter werden auch Denk- und Sichtweisen, Perspektiven abgenutzt. Oft begangene Wege der Betrachtungsweise verfallen, bieten keine wahre Aussichten mehr, eher Erinnerungsbilder einstiger Ausblicke: Bilder der Nostalgie, Bilder der Phantasie. Trugbilder, Götzenbilder. Der oft geübten Traditionspflege dieser Art, der Idolatrie entspricht in Schriftkulturen die Textolatrie. Die Schriftverehrung erscheint nicht ausschließlich in Buchkulten, wie etwa im Islam, sondern auch in viel aufgeklärteren Kulturen.
Gute Schriftsteller folgen dem alten Rat, der besagt: Trage nicht den Namen auf das Wahnhafte (Ex 20,7 - Über. V. Buber-Rosenzweig. Luther übersetzte die Stelle etwas vereinfacht: Den Namen nicht missbrauchen.)
Auf Schriftkunst bezogen bedeutet es etwa: die Namen, die Wörter, die uns zur Verfügung stehen, nicht verschwenden, nicht auf Wahnhaftes tragen. Um dieser Gefahr auszuweichen, wählen einige den umgekehrten Weg: sie gehen lieber via negativa. Aus Behutsamkeit, oder aus Verdacht, oder auch aus Vorsicht. Sie nehmen sozusagen schon von Anfang den Rat zum Umkehren an: sie kehren um. Wechseln die Angehensweise, die Perspektive.

Für einen Perspektivenwechsel solcher Art gibt es in der neueren ungarischen Kunst eine beispielhafte Geschichte.
Es handelt um den Maler Béla Veszelszky, der es liebte, lange Stunden in dem Garten seiner Budapester Wohnung mit dem Studium des Sternenhimmels zu verbringen. Damit ihn bei dieser Lieblingsbeschäftigung die Vorbeigehenden nicht störten, begann er, auf Freundesrat übrigens, eine Grube zu graben. Die Arbeit hat er im Jahre 1956 begonnen und wurde erst 1959 fertig. Er arbeitete leidenschaftlich, bestimmte Stunden des Tages verbrachte er mit schaufeln. Bei dieser, auch als Exerzitie zu betrachtenden Tätigkeit zogen ihn besonders die Bodenschichten an, die sich nacheinander auftaten. Es faszinierte ihn in einem solchen Maße, dass er erst viel tiefer als geplant aufhörte zu graben.
Veszelszky observierte aber nicht nur auf diese unmittelbare, sozusagen vorsteinzeitliche Weise den Sternenhimmel, sondern auch durch ein astronomisches Fernrohr seines Freundes. Die Resultate dieser Himmelsbetrachtungen - die mit dem Studium astronomischer Bücher verbunden waren - finden sich auf seinen Gemälden. Nicht als ob er den nächtlichen Himmel mit seinen unzähligen Lichtquellen auf die Leinwand bannen wollte. Unter seinen, mir bekannten Bilder befinden sich keine Himmelsgemälde; er malte fast ausschließlich die Landschaft, die er aus dem Fenster seiner Wohnung sah, und Porträts der ihm Nahestehenden (seiner Töchter und Freunde); sowie Selbstporträts, weil er, wie er sagte, sich jederzeit zur Verfügung stand.
All die Bilder aber, die im Tageslicht stehenden Landschaften wie die Menschengestalten malte er auf seine einzigartige Weise wie himmlische Phänomene: aus vielen farbigen Lichtpunkten - auf der Kehrseite des nächtlichen Himmels, auf weißem Grund.
Veszelszky hat nicht nur Zwiesprache mit Gelehrten sondern auch mit der Natur geführt. Während seiner Graben-Kontemplationen hatte er das größte Bild der Natur sogar gerahmt vor sich, den bestirnten Himmel im Rahmen der Erde, in den Rahmen der Bodenschichten seiner kreisförmigen Grube gefaßt.

Die Angehensweise solcherart gewechselt, auf die Kehrseite gehend, tun sich neue Perspektiven, neue Sichtweisen auf. Sogar wohlbekannte Wörter bekommen einen neuen Glanz. Verbraucht scheinende Wendungen klingen unbekannt.
Wenn man zum Beispiel in einem Gedicht von dem kürzlich verstorbenen György Petri liest: Gras wächst nicht mehr. / Vergebens peitschen heftige / Regenfälle den Boden erwartet man als Fortsetzung keine Genesis-Apokryphe wie es hier folgt: Es scheint so, dass Gott / Keinen neuen Garten hier plant. (Kaputt)[8]
Oder wenn ein anderer Dichter, Szilárd Borbély, in seinem neuesten Zyklus Amor und Psyche – Sequenzen ein Liebestreffen via negativa beschreibt: “Und wenn Liebende sich in der Nacht / treffen, im Dunklen begegnet sich ihre Seele.” erwartet keiner die Umkehrung, wie folgt: “Denn im Körper zu leben ist selbst der Tod” (VI.)

(Wo beginnt und wie weit reicht das literarische Feld?)


Und schon bin ich fast unbemerkt bei der reinsten Form der Literatur angekommen, obwohl es mir am Anfang gar nicht so evident schien über ungarische Gegenwartsliteratur zu sprechen. Denn wo beginnt und wie weit reicht das literarische Feld?
Anscheinend gehören Beschreibungen von Betriebsunfällen ebenso dazu, wie Berichte von Agenten oder Denunzianten. Und sie werden auch so behandelt, d.h. als Literatur veröffentlicht. Für den ersten Fall sollen Franz Kafkas Amtliche Schriften stehen, die er während seiner Arbeit bei einer Arbeiterkrankenkasse verfertigte und die noch in DDR-Zeiten verlegt wurden. Für den letzteren die eben publizierten Geheimakten Mátyás Esterházy`s – ausführlich kommentiert von seinem Schriftstellersohn Péter Esterházy. (Gerade auch deutsch erschienen.)
Dabei half mir die fast philosophische Definition von Imre Kertész auch nicht, auf die ich in seinem Galeerentagebuch gestoßen bin “tiefgekühlte Verbalität – also die Literatur – ist nur Form, d.h reine Vermittlung, wo sich Aufrichtigkeit wiederum nur vermittelt, sozusagen durch Technik äußern kann.”
Ebenso mußte ich mir die Frage stellen: was heißt Zeitgenossentum? Welche ist die zeitgenössische Kunst? Zeitgenössisch sind die Zeitgenossen. Es scheint ein tautologischer Satz zu sein, ist es aber nicht unbedingt. Denn es gibt häufig “Genossen” in der Zeit, die, in mehrfacher Hinsicht, nicht nur andere Zeiterlebnis haben, sondern auch in anderen Zeiten leben, sich in andere Zeiten versetzen oder einfach stehen geblieben, wenn nicht zurückgefallen sind.
Eine von den bemerkenswertesten Erfahrungen der letzten Dekade für unsereiner war, wie unter dem Deckmantel der totalitären Einheitskultur Überkommenes verschiedener Vor-Zeiten und Vorstellungswelten überdauerte. Nicht vollkommen verwahrt, meistens eher verkümmert, teilweise abgestorben, nicht selten entstellt.
Erstaunlich für mich war daran nur der Ausmaß der Deformiertheit, die als solche in der Öffentlichkeit ihre Stimme hören ließ. Um so mehr, da mir aus der Nähe eine zeitlich ziemlich “abgelegene” und im Grunde genommen unversehrte Welt gut bekannt war: die meiner Großeltern. Sie waren immer völlig “unzeitgemäß”, territorial und kulturell fast vollkommen isoliert, in einem kleinen Dorf, als Donauschwaben – einen fast unveränderten Dialekt aus dem 18. Jahrhundert sprechend – sprachlich nicht nur von der ungarischen Umgebung, sondern auch vom “Mutterland” abgeschnitten.
Während ich an diesem Vortrag arbeitete, stieß ich zufällig – in der rumänischen Kunstzeitschrift BALKON - auf das Manifest der New Yorker Kritikerin Sina Najafi. Das aufsehenerregende, ziemlich dichte und einschlägige Manifest[9] der Chefredakteurin der Zeitschrift Cabinet beginnt mit der Aufforderung: Ban the word `contemporary`. Und die Verbannung des Wortes `zeitgenössisch` begründet sie damit, daß es keinen philosophischen Grund hat und die Möglichkeit einer historischen Perspektive verstellt (It has no philosophical basis and discourages a historical perpective.)
Zeitgenössische Künstler, Literaten sind letzten Endes jene, mit denen man die gleiche Zeit teilt, mit denen man aufwächst. Wenn man die neuere ungarische Schriftkunst (Kunst, Kultur) aus einer “historischen Perspektive” zu betrachten versucht, kann einem die besondere Zeiterfahrung auffallen. Die Rezeption der (Mode)Wellen der euro-amerikanischen Kunst- und Literaturszenen lief asynchron. Wie auch die Aneignung der Formen und des Gedankenguts der Klassischen Moderne und Vormoderne. Durch diese Verschiebung wurden andere Zusammenhänge entdeckt, wie auch gemeinsame Erfahrungen der Modernität anders gedeutet. Die Folgen dieser Verschiebung lassen sich auch im Wahrnehmen beobachten. Und nicht unbedingt zum Nachteil.


(Das Koordinatenkreuz der ungarischen Nachkriegsliteratur)


Wenn man das Koordinatenkreuz der ungarischen Nachkriegsliteratur zeichnen wollte, wäre es mit mit zwei Oeuvres zu entwerfen: die horizontale Achse wäre dann das Prosawerk von Géza Ottlik, die vertikale die Dichtung von János Pilinszky.
Dass diese Behauptung nicht bloß sinnbildliche Aussagekraft hat, ist an zwei Bildern abzulesen.
Das eine ist eine eigenartige Graphik von dem Schriftsteller Péter Esterházy. Dieses Bild ist ein ganz sonderbares Zwischengebilde - mit Zügen der modernen (Landschafts-)Darstellung, der Abstraktion, der Kalligraphie und der mittelalterlichen Askese. Die Entstehungsgeschichte des Bildes erklärt all die Besonderheiten: Anfang der 80er Jahre hat Esterházy das Hauptwerk von Géza Ottlik Die Schule an der Grenze [10] auf ein DIN A-3-formatiges Zeichenblatt kopiert.
Diese lange, täglich wiederholte Übung läßt auf tiefe, sogar identifizierende Aneignung deuten. Ähnliches findet man nur in vorgutenbergischen Zeiten – als Handwerk oder als asketische Übung. In der monastischen Tradition wurde das Kopieren heiliger Bücher, besonders der Heiligen Schrift als Penitenz verhängt.
(Auf ungarisch ist das Drehbuch zu den Film Andrei Rublov von Andrei Tarkovsky in den 70er Jahren erschienen, worin der Gefährte des großen russischen Ikonenmalers damit bestraft wird, fünfzehn Mal die ganze Heilige Schrift niederzuschreiben...)

Esterházy`s Bild lässt sich als Geste der Ehre, als Anerkennen der Meisterschaft, der “Heiligung” des Buches von Ottlik deuten. Es ist aber nicht bloß eine handgefertigte Kopie eines Textes, sondern auch ein modernes Kunstwerk ersten Ranges. Da man die Sätze des umfangreichen Buches auf einem Blatt nicht nach- und untereinander schreiben kann, hat Esterházy sie auf- und übereinander geschrieben. Das so entstandene Gefüge der Zeilen ist nicht homogen, sondern zeigt eine Schriftlandschaft, es gibt darin dunklere und hellere Streifen, dichtere wie dünnere Schichten. Es weist übrigens gewisse Züge der Verwandschaft mit einigen Graphiken und Gemälden von Paul Klee auf (u.a. Hauptweg und Nebenwege).
Der Titel eines Bildes bei Klee ist keine bloße Sprachform um das Bild von anderen Werken unterscheiden zu können, sondern er enthält eine diskrete, meistens metaphorische und oft ironische “Anweisung”. Er deutet den point of view, die Perspektive an, woher es im Entfalten betrachtet wurde und empfiehlt einen ähnlichen einzunehmen. Bei Esterházy lautet der Titel schlicht und sachlich: Géza Ottlik: Die Schule an der Grenze, es gibt aber auch einen Untertitel: Einleitung in die (Schöne)Literatur.
Er nennt es später “Der Text als Landschaft[11]. Eine paradiesische Landschaft, eine ideale literarische Landschaft würde man denken, aber der Roman von Ottlik ist nicht gerade paradiesisch – eher ist er durch Schnee und Schlamm gekennzeichnet. Schnee und Schlamm ist nämlich der Titel des II., des Kernkapitels. Ottlik hat den ganzen Romantext mit einer Stelle des Römerbriefes – es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen (Röm 9,16) – verwoben, sozusagen daran aufgehängt. Nur hat er den, als lateinische Inschrift in den Roman inkorporierten Satz des Paulus, leicht umgestaltet. So erscheint in der zentralen Szene Gottes Erbarmen zwischen Non est Volentis (Erstes Kapitel) und Neque currentis (Drittes Kapitel) nur indirekt.
Trotz Schnee und Schlamm ist in diesem Roman alles da.

(Es ist alles da)

Es ist alles da– wie in der so betitelten Erzählung von Géza Ottlik auch alles da ist, in einer noch komprimierteren Erzählform. Es ist die meisterhafte Beschreibung eines erfüllten Lebens, ein Gefühl der Lebensfülle eines Violinisten, genannt Jacobi. Er kehrt am Ende seines weltbewanderten Musikerlebens zurück in seine Geburtsstadt und findet den Stein seiner Kindheit – nicht jenen worauf Jacob sein Haupt niederließ und die Engel ihre Leiter ansetzten – aber doch einen Stein, der vieles trägt und verbindet:
“Aber es war zuerst der Stein, den er wiedererkannt hatte. Nicht die rauhe Oberfläche, die Schattenspiele, sondern sein Wesen, sein Inhalt, seine Bedeutung – seine Musik. Musik in c-Moll. ‘Mein Gott !’ dachte Jacobi (…) Der Straßenlärm löste sich auf, breitete sich aus, das Brausen der Stadt schwam dahin, hinweg über den Heumarkt, hinweg über den Fluß, in die Ferne, es schwam dahin und klang zurück von den Weihnachtsinseln her. Von den Hebriden. Von irgendwo unter dem Kreuz des Südens. Mein Gott, dachte Jacobi, ich bin auf dieser Erde gewesen.(...) 
‘Mein Gott’ dachte er, ich bin auf dieser Erde gewesen, habe in der Abendstunde den Sonnenschein gesehen, der über den rauhen Stein strich. Du hast mir Gras, Kieselsteine (…) gezeigt. (…) Und jetzt gewann ich diese frühe Erkenntnis wieder. Oder etwas für dessen Erscheinungsform, für dessen Existenz es in der menschlichen Sprache noch gar keinen Namen gibt. Empfinden, Zustand, Temperatur ? Substantiv, Attribut, Verb, Adverb ? Vielleicht’ dachte Jacobi, ein Augenblick der Schöpfung in seiner ganzen Vollendung und Einfachheit, vor der Namensfindung. Er geht der Sprache voraus, dem Geigenspiel, wie soll ich es also den Engeln melden ?[12]

Die Erzählung von Ottlik erschien 1968. Einige Jahre später notierte Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch, das fast als ein Postskriptum zu der Novelle von Ottlik zu lesen ist:
Die transzendente Wirklichkeit umschließt uns wie ein Mutterschoß. Sie ist das einzig Gewisse, alles, was wir als materielle Gewissheit ansehen, ist tausendfach ungewisser. So gesehen ist die individuelle Tragödie ein Irrtum, das Glück dagegen nicht. Das Göttliche spiegelt sich in der Freude, als schöpferischre Gedanke oder Gedanke der Schöpfung.(...)
Das Staunen des Menschen über die Schöpfung; seine andächtige Verwunderung darüber (...) Seine Verwunderung über das Bestehen der Welt ist vergangen und damit eigentlich die Ehrfurcht vor dem Leben, die Andacht, die Freude, die Liebe.[13]
Diese Sätze machen gleichzeitig eine Zäsur in der Zeit deutlich, die nicht nur bei ihm erscheint. Dennoch erkundeten Schriftsteller die singulären Momente der Fülle. Der große Roman Buch der Erinnerung von Péter Nádas ist letztlich ein Entdeckungsweg, der in die Grenzsituationen höchster Intensität führt und sozusagen In Gottes Hand – so der Titel des sechsten Kapitels – gipfelt.

(Die vertikale Achse)


Im imaginären Koordinatensystem der neueren ungarischen Literatur lässt sich die vertikale Achse mit der Dichtkunst von János Pilinszky zeichnen. Nicht anders wie bei der Horizontalen (Ottlik) erscheint auch diese Achse nicht nur als Sinnbild. Im Fall Pilinszky`s ist das Bild ein Wandbild: eine mit seinem Vierzeiler vollgeschriebene Wand, die ich vor vielen Jahren in der Wohnung einer Medizienstudentin sah.
In dem Werk des 1981 verstorbenen Dichters und einem der größten theologischen Denker der letzten Epoche in Ungarn vollzieht sich eine sprachliche Wende, die für die ganze ungarische Literatur paradigmatisch ist. Sie läßt sich sogar mit dem Titel eines seiner Gedichte beschreiben: Fest des Tiefpunkts. (Übrigens wurde diese Wendung Teil der Umgangssprache, mindestens unter Gebildeten.)
Bis dahin verwendete Pilinszky in seiner modernen Sprachpoesie ab und zu Wörter, wie auch Wendungen der traditionellen religiösen Sprache. Wie etwa in dem Gedicht Bevor: Der Vater nimmt das Kreuz zurück, / wie einen Splitter, / und die Engel, die Tiere der Himmel / schlagen die letzte Seite der Welt auf. () Manchmal gebrauchte er – sorgfältig platziert - sogar lateinische Termini, wie Monstranz; Et resurrexit tertia die. (Am dritten Tag).
In den 70er Jahren hat er diese modern rekontextualisierte, gehobene Sprache der traditionellen Religiosität nicht mehr gebraucht. Statt deren bediente er sich der radikalen Einfachheit, wie in der folgenden, einfach als Gedicht betitelten Dichtung:
Keine Erde ist Erde. / Keine Zahl ist Zahl. / Kein Buchstabe ist Buchstabe. /Kein Satz ist Satz.
Gott ist der Gott. / Blume ist Blume./ Tumor der Tumor. / Winter ist Winter. / Konzentrationslager ist das eingegrenzte Gebiet ungewisser Form. (Költemény)

(Pathos der Ironie)

Eine Zäsur zeichnet sich in der neueren Literatur nicht nur sprachlich ab. Es betrifft außer der Wortwahl besonders den Ton. Statt dem Tragisch-Ernsten wurde das Ironische dominierend, nicht unbedingt in der heiteren, eher in der bitteren Version. An der Ironie des Kontrastes (Hofmanstahl) mangelte es in unserer Region schon in alten k.u.k-Zeiten nicht. Seither gab es in Ungarn davon immer schon Unmengen. Und der Reichtum an Kontrasten wird nicht nur durch Die Ironie der Dinge, sondern auch durch die der Sprache gesichert. Da der ironische Kontrast der Sprechweisen früher durch den pathetischen Nationalismus der sog. “christlichen feudalen Mittelschicht” gegeben war, brauchte der pathetische Sozialismus nur einige Wörter auszutauschen. Der Ton und der Jargon der Wortblasengebilde blieb letzten Endes unverändert und hatte alle öffentlichen Bereiche durchdrungen. Er sickerte sogar in ganz abgelegene Regionen, wie etwa Gebrauchsanweisungen technischer Geräte ein. Der Schriftsteller Péter Esterházy stellte z.B. den folgenden Satz aus dem Begleitheft eines PKWs als Motto vor einen seiner Texte: “Die Bodenhaftung des TRABANTes ist ausgezeichnet, aber es darf einen nicht zu Leichtsinnigkeit verführen”.Esterházy hat mit seinen Büchern nicht nur die “hohe“ Kunst der Literatursprache erneuert und deren Enge gelöst, sondern auch einen weitreichenden “Linguistic Turn“, eine sprachliche Revolution ausgelöst. Ironie ist nicht eine Sache, die man wählt; heutzutage kann man nicht unironisch sein – sagte er in einem Gespräch.[14]Seine ironiereiche Schreibweise hat auch weite Bereiche öffentlicher Diskursmoden durchdrungen; nicht wenige seiner Wendungen wurden “Gemeingut“. Die zugespitzte ironische Sichtweise hinderte ihn nicht daran, an angemessenen Plätzen Einschnitte und Übergänge in das Textgewebe zu setzen, wo existentieller Ernst waltet. So z.B. gipfelte sein früher, 1979 erschienener Produktionsroman in einer umfangreichen Fußnote, wo er das Vater unser der Weihnachtsmesse beschreibt - ohne einen Hauch der postmodernen Unverbindlichkeit.
Ähnliches findet man übrigens in der neueren deutschen Literatur auch: erwähnenswert finde ich hier besonders die beiden Romane von Thomas Kapielski: Davor kommt noch; Danach war schon.[15] Die “Gottesbeweise” – so der gemeinsame Untertitel beider Bücher – verbergen sich nach Hannes Böhringer “in kleinen, unscheinbaren Ausdrücken wie “gottlob“ oder “Gott sei’s geklagt“, die gottweißwarum aus unserer Sprache noch nicht verschwunden sind (...). Grammatisch werden diese Ausdrücke als Interjektionen bezeichnet. Hier finden sich großer Gott, gottseidank, um Gottes willen, ogottogott in der Gesellschaft von igittigitt, auweia, rums, yeah, super, geil und den aus den Comics bekannten, grammatisch aus Imperativformen von Verben gebildeten ächz, stöhn usw. Kapielski entdeckt die Gottesbeweise der Sprache, Interjektionen in der Babylonischen Gefangenschaft der Umgangssprache und entläßt sie aus ihrer gedankenlosen Betulichkeit.[16] Spuren von Ironie und Humor lassen sich auch in den Evangelien entdecken, obwohl ihnen im frühchristlichen Gedächtnis wenig Platz gewährt wurde und aus den überlieferten Schriftfassungen fast völlig fehlen. Doch scheint aus dem Jesuslogion darüber, was dem Kaiser gebührt, heute viel mehr göttliche Ironie, als “realpolitische“ Anerkennung einer Besatzungsmacht. Wie auch jene Geste, mit der Jesus in den Staub schrieb, in einer der Textolatrie verfallenen Kultur nicht der Ironie entbehrte. Bei seinem feinfühligsten Nachfolger, wie etwa Dietrich Bonhoeffer, findet man entsprechende Resonanz - im Ernst des Gefängnisses machte er die Notiz: Letzter Ernst ist nie ohne eine Dosis Humor.[17]Die Frage des göttlichen Humors taucht auch in den theologischen Reflexionen bei Imre Kertész auf:Mir erscheint  – schreibt er in seinem Tagebuch -, Gott als ein Humorist, ein etwas gnadenloser Humorist, dem die weise, wenn auch beschränkte Güte des wahren Humoristen jedoch nicht fehlt. – Doch das stimmt nicht, denn den Humor haben die Menschen erfunden, gerade wegen der Unzulänglichkeit Gottes; wäre Gott vollkommen und mit ihm das Leben (durchschaubar sowie ohne Tod und Schrecken), gäbe es keinen Humor.[18]

Ein Dosis ernsten Humors hatte auch Esterházy, als er zufällig erfahren mußte, daß sein verehrter Vater – den er in seinem großen Buch Harmonia caelestis fast hymnisch besungen hat - jahrzehntelang als Spitzel des Geheimdienstes tätig war. Sein durch das Lesen der Agentenberichte seines Vaters verursachtes Entsetzen beschrieb er in seinem letzten Buch Verbesserte Ausgabe. Beilage zur Harmonia caelestis. Darin schrieb er u.a. folgendes: Ich mußte so, aus meinem Vater vertrieben, auf Vieles verzichten.[19] Dann auch: Vatertum ist Parodie. (d. im Orig.) Und am Ende des Buches wiederholt er den alttestamentarischen Ton: Ich wurde aus meinem Vater vertrieben. Ich werde aus meinem väterlichem Feld/Gut (?apaföldemröl)vertrieben.[20] Die Vertreibung aus dem “väterlichen Paradies“ hat nicht nur eine persönlich-familiäre Bedeutung, sondern ist auch im übertragenen Sinne bedeutend. Und wird auch literarisch thematisiert – hauptsächlich in den Werken von Imre Kertész.

(Vaterfragen)

Während unserer Entwicklung lösen wir uns erst von unserer Mutter, später von unserem Vater und zuletzt scheiden wir meistens aus der Familie aus. Diese Evolutionslinie hat ihre Paralelle in der Religionsgeschichte. Das Erwachsen beginnt mit der Loslösung von der (Mutter-)Erde und von den mit ihr zusammenhängenden Kulten. Später, viel später folgen darauf die Wegbewegungen vom Vaterkult. Beide Loslösungen können nie die Verbindung nichtig machen, aber beide sind nötig zum Erwachsen werden. Zum Freiwerden. Wie in der entsprechenden Phase eines aufwachsenden Menschen zieht sich der Vater zurück, um genügend Freiheit zu bieten, die ein Kind braucht, um Erwachsen zu werden.Die Freiheit des Menschen entfaltet sich evolutiv. Die menschliche Evolution läßt sich als zunehmende Einsicht in seine religiöse Beziehung (Linke) charakterisieren. In dem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind von Kertész erscheint diese Beziehung nicht bloß als eine historische Perspektive, sondern als das persönlichste Anliegen eines Jeden - mit dem menschlichen Weltverständnis gleichbedeutend: “…dass also das Verständnis der Welt die religiöse Aufgabe des Menschen ist, völlig unabhängig von den verkrüppelten Religionen verkrüppelter Kirchen…”[21]

Unter den heutigen ungarischen Schriftstellern gehen seine Werke am offensten und tiefsten an diese Fragen heran. Bei Kertész hängt die Loslösung vom Vater von der “Vaterkultur, dieser weltumfassende Vaterkomplex[22], mit der Emanzipation vom Vater-Gott, mit der Emanzipation von der Religion am engsten zusammen – als persönliches Schicksal eines Schicksallosen. Im Kaddisch schreibt er über einen seiner Erzieher: “A.(...) erschien mir später bloß als Übertreibung jener Tugenden, zu denen ich von frühester Kindheit an erzogen worden war (…) A.(...) erscheint mir im Bild des Vaters, ja die Worte Vater und A. erzeugen in mir das gleiche Echo (…) Und wenn es stimmt, daß Gott ein glorifizierter Vater ist, dann hat Gott sich mir im Bild von Auschwitz offenbart.[23]In seinem nächsten Buch Ich – ein anderer führt er seine theologischen Reflexionen noch weiter:“Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen.Ich stelle mir eine Theologie vor, die sämtliche schlechten Erfahrungen der Schöpfung zu einer Wissenschaft zusammenfaßt, deren Sprache jedoch von einem göttlichen Stil, von einem metaphysischen Kontrapunkt geprägt ist, aber nur rhetorisch, nicht argumentativ”[24].

Diese unmittelbare theologische Reflexivität ist einzigartigin der ungarischen Literatur. Das Fehlen anderer Stimmen, des Bedenkens des Religiösen solcher Art und auf diesem Niveau hat nicht hauptsächlich persönliche Gründe. Es wird vielmehr von der öffentlichen-institutionellen Religiosität vereitelt. “Die Performanzen des zeitgenössischen ungarischen Paganismus – diagnostiziert der Dramatiker-Dichter András Visky – lassen gerade die christlichen (und gläubigen) Stimmen fast verstummen. Das Wort in Sachen Religiosität ist vor allem Frage der Form; das Schwierigste ist jetzt in Ungarn Christ zu sein, natürlich nicht im neopaganen Sinn. In dieser Hinsicht ist in der Literatur die jüdische Tradition und Sprachreserve in einer besseren Lage“[25].

(Zusammenklingen zweier Stimmen)

Neuerlich hat Péter Esterházy das Schweigen auf diesem Terrain gebrochen. Sein letztes Buch, das ich schon erwähnte, ist eine Art öffentliche Beichte, ein Soliloquium, womit er die christliche Tradition der Vergebung anregte (A.Visky). Darin kommt auch die sonst tief verschwiegene Frage unseres Gottesbegriffes nach Auschwitz auf. Er fragt – das Buch Jeder ist Judas von Wolfgang Teichert lesend – “Ob selbst Gott nicht Verräter ist? (Auschwitz.) Kein irdischer wie kein himmlischer Vater antwortet darauf. Es ist auch ein Teil des Verrats, dieses Schweigen”.[26]
Mir scheint, dass das Schweigen doch nicht so vollkommen ist, wie es Esterházy behauptet, und es gibt einige, die die Frage zu beantworten suchen. Unter denen, finde ich, stammt die bedeutendste Antwort von Paul Ricoeur: “Besonders nah stehe ich den Einsichten von Hans Jonas, wenn wir versuchen den Gottesbegriff nach Auschwitz zu formulieren. Wir müssen die Kategorie der Allmacht aufgeben, denn es ist nicht eine rein religiöse, sondern eher eine theologisch-politische Kategorie. Einerseits wurde die Idee von der Quelle der Offenbarung nach Muster der absoluten politischen Macht geformt, im Tausch wurde dafür diese Vorstellung der Gottheit zur Legitimation der politischen Macht. Demnach dient die Religion dazu, Furcht in den Menschen zu wecken. Am Ende der Drohung ist die Hölle. Man müßte die Gedanken von Allmacht und Hölle gleichzeitig verwerfen und müßte eine andere Konzeption der Macht entwickeln – das wäre die Offenbarung. Man müßte es mit jener Schwäche der Liebe verknüpfen, die sich dem Tode ausliefert. ”[27]

Zuletzt lassen Sie ihre Aufmerksamkeit auf das Zusammenklingen zweier Stimmen lenken:

In demselben Gespräch, das Paul Ricoeur mit den Gehirnforscher Jean-Pierre Changeaux führte, äußerte er sich noch folgendermaßen: “Das Zeichen einer großen religiösen Kultur und Mäßigkeit ist die Einsicht, daß andere auf anderen Wege sich auch nähern können (...) Ich befinde mich auf einer fragmentierten Kugeloberfläche, die verschiedene Orte der Religiosität enthält. Wenn ich an der Oberfläche der Kugel zu laufen versuche, bin ich ein Eklektiker, und finde die universale Religiosität nie, werde höchstens ein Synthetiker. Wenn ich mich aber genügend in meiner eigenen Tradition vertiefe, überschreite ich die Grenzen meiner Sprache. Sobald ich mich der von mir “grundlegend” genannten Schicht nähere – den andere auf anderen Wegen erreichen – kann ich durch diese Tiefbohrung meine Distanz zu andern Traditionen vermindern. Die Entfernung ist auf der Oberfläche riesig, wenn ich aber mich vertiefe, komme ich dem anderen, der die selbe Wegrichtung hat, näher.[28]

Es gibt eine Stelle in dem erwähnten Buch von Géza Ottlik – Die Schule an der Grenze – worin fast das Gleiche zu lesen is:
An der Oberfäche der greifbaren Wirklichkeit leben wir voneinander getrennt. Doch irgendwo, jenseits des Wahrnehmbaren und außerhalb der Zeit, im Raume einer allumfassenden Wirklichkeit, sind wir miteinander verbunden. Unsere Antennen schneiden nur die Ebene dieser Welt und reichen über sie hinaus in eine unbekannte Dimension. Dort, in jenem glatten Kontinuum sind wir zu einer einzigen Einheit verbunden.
(...) Wäre es anders, wäre all unser Bemühen eitel. Da es aber so ist, ist es uns möglich, obwohl wir an der Oberfläche des Seins die Hände vergeblich nacheinander ausstrecken, aus armseligem Schein und mit Hilfe toter Formen lebende Wirklichkeit zu erzeugen – wenn wir nur nicht müde werden, auf die Kräfte zu achten, die, im rechten Winkel von der Oberfläche weg, nach einer unbekannten Dimension streben. Wir können uns ja auch als Strahlen in einem Strahlenbüschel verstehen; denn je tiefer wir in uns selbst eindringen, auf den gemeinsamen Brennpunkt unserer Einsamkeit zu, um so mehr nähern wir uns einander, auch wenn die diskreten Punkte, in denen die Strahlen nahe oder ferne Peripherien schneiden, und die unscheinbaren Bahnen, die wir an der Kugeloberfläche beschreiben, einander überhaupt nicht berühren.[29]


[1] Detlef B. Linke: Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn. Reinbek, 2003. 34.
[2] Hannes Böhringer: “So irre ich auch zwischen Philosophie und Kunst hin und her.” Gespräch mit Hannes Böhringer In: HB: Kísérletek és tévelygések. A filozófiától a művészethez és vissza. Balassi, Budapest,1995.
[3] Ghislain Lafont: Histoire théologique de l’Église catholique. Cerf, Paris, 1994.
[4] Hannes Böhringer: Auf der Suche nach Einfachheit. Eine Poetik. Berlin, 2000.
[5] Detlef B. Linke: Kunst und Gehirn. Die Eroberung des Unsichtbaren. Reinbek, 2001.
[6] Interview mit Fabrizio Plessi. KUNSTFORUM Bd. 136.
[7] Ghislain Lafont: Az igazság helye a teológiai gondolkodásban. Pannonhalmi Szemle 95/4
[8] György Petri : Schöner und unerbittlicher Mummenschanz (Hg. und nachgedichtet H.-H. Paetzke) Ffm.,1989.
[9] Sina Najafi: Ten Enemas for Contemporary Art. BALKON (Klausenburg), Beilage. 2002/12.
[10] Géza Ottlik: Die Schule an der Grenze. (Ü. v. Charlotte Ujvary). Fischer, Ffm. 1963; Volk und Welt, Berlin (O), 1973.
[11] Esterházy Péter: Bevezetés a szépirodalomba. Budapest, 1986. 11.o.
[12] Géza Ottlik : Es ist alles da. (Dt. von Heinrich Weißling) In Liebe. Ungarische Kurzprosa aus dem 20. Jahrhundert. (Ausgw. von I. Bart) Corvina, Budapest, 1993. S. 231.
[13] Imre Kertész: Galeerentagebuch (A.d. Ungarischen v. Kristin Schwamm). Reinbek, 2002.S. 270.
[14] Üzenet (Subotica / Szabadka), 2002/7–9. http://www.zetna.org.yu/zek/folyoiratok/51/esterhazy.html
[15] Thomas Kapielski: Davor kommt noch; Danach war schon. Gottesbeweise. Merve, Berlin, 1999.
[16] Hannes Böhringer: O Gott! Lobrede auf Thomas Kapielski(Manuskript)
.[17] Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Berlin (O), 1982.408.o
[18] Imre Kertész: Galeerentagebuch (A.d. Ungarischen v. Kristin Schwamm). Reinbek, 2002. S. 189.
[19] EsterházyPéter: Javított kiadás. Melléklet a Harmonia caelestishez. Budapest, 2002. S. 100.
[20]EsterházyPéter: Javított kiadás. Melléklet a Harmonia caelestishez. Budapest, 2002. S. 228.
[21] Imre Kertész : Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (Dt. Von György Buda und Kristin Schwamm), Reinbeck, 1996. S. 86.
[22] Imre Kertész : Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (Dt. Von György Buda und Kristin Schwamm), Reinbeck, 1996. S. 132.
[23] Imre Kertész : Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (Dt. Von György Buda und Kristin Schwamm), Reinbeck, 1996. S.145.
[24]Imre Kertész:Ich – ein anderer (Valaki más. A változás krónikája) Ilma Rakusa, Berlin, 1998.S.100.
[25] Brief am 15.12. 2002. An den Verfasser.
[26] EsterházyPéter: Javított kiadás. Melléklet a Harmonia caelestishez. Budapest, 2002. S. 24.
[27] Jean-Pierre Changeaux – Paul Ricoeur: Ce qui nous fait penser. La nature et la régle. Odile Jacob, Paris, 1998.
[28] Jean-Pierre Changeaux – Paul Ricoeur: Ce qui nous fait penser. La nature et la régle. Odile Jacob, Paris, 1998.
[29] Géza Ottlik: Die Schule an der Grenze. (Ü. V. Charlotte Ujvary). Fischer, Ffm. 1963; Volk und Welt, Berlin (O), 1973.S. 415-6.
< main page | über KUNST/PHILOSOPHIE >