Die Fernbedienung - Über nahe und metaferne Ferne

Ereignisse lassen stets Vorausgegangenes erahnen: später hervortretende Konstellationen, über sie entstehende Bilder, nachträglich geschaffene Mittel und Systeme von Objekten, sowie die durch sie geschaffenen Tatsachen, ja auch die nur im Ansatz vorhandenen Annahmen und Hoffnungen verwandeln sich. Sie treten ihren Platz an andere Geschichten, Erklärungen und Symbole ab.
Tag für Tag können wir erleben, daß uns noch so bedeutsam erscheinende Begriffsinhalte, Vorstellungen und Bedeutungen, Kode und Vereinbarungen plötzlich historisch werden, das heißt von der Schwelle der Gegenwart nach draußen, in die Speicher des Gedächtnisses von Personen oder Institutionen übergehen.
Die neue Sachlichkeit der Technokultur ordnet nicht nur ganze Lebensräume und -welten um, sondern verändert auch unsere Begriffsinhalte, die Perspektiven unserer Orientierung sowie unsere Bezugspunkte.
Die Neuzeit ist nicht nur eine Geschichte der Entdeckung neuer Erdteile und Welten, sie ist zugleich auch die Geschichte der Neuordnung des Raumes und der Neuinterpretierung dessen, was wir gemeinhin unter Entfernung verstehen. Zunächst wurde das Weltbild von den geographischen, astronomischen und optischen Erkenntnissen in seinen Grundfesten erschüttert (nicht von ungefähr verwendet Kopernikus im Titel seines bedeutendsten Werkes das Wort "Revolution"). Darauf folgten die die Entfernung besiegenden Verkehrsmittel und -netze, anschließend - schon in unserer unmittelbaren Gegenwart - die Systeme der Ton- und Bildübertragung.
Das Ferne wird seither fortwährend von dem Nahen durchdrungen, verfärbt und unterbrochen, ebenso das Globale vom Lokalen, die faßbare Realität von dem virtuell Gegenwärtigen. Die Bilder der verschiedenen, sich voneinander immer deutlicher abhebenden Lebensräume türmen sich aufeinander. Die Geschichte der Entfernung und unseres Verhältnisses zu ihr wartet auf Enthüllung. Da die Entfernung gerade durch die Fernbedienung in "greifbare" Nähe gerückt ist, liegt es auf der Hand, daß wir eben dieses Gerät zum Inhalt unserer Betrachtungen machen.

Die Metaferne

Das Meer der sich uns von allen Seiten aufdrängenden Bilder hat die unermeßliche Metaphorik verwaschen. Im seinen stetig wachsenden Wellenschlag verfärben sich die Wörter unablässig, ihre Leuchtkraft verblaßt beinahe proportional zur Färbung des Ortes ihres Wirkens. Anstelle von Worten, Begriffen und Symbolen werden elementare Zeichen, eindeutige Bilder und greifbare Dinge bevorzugt. Diese auf eine Elementarisierung hinauslaufende Vereinfachung wirft - während sie unüberschaubare Schwierigkeiten beseitigt und überbrückt - Fragen der Welt unserer frühen Vorfahren und ihrer Vorlieben auf, Fragen bezüglich der Produkte ihrer Hände, ihrer ersten Vorstellungen und den Folgen ihres Schaffens.
Zuerst ergriffen wir, wahrscheinlich von einem Reflex gesteuert, einen Stein oder einen Stock. Anschließend taten wir dies offensichtlich schon in fester Absicht. Wir fingen an, das Verhältnis von Entschluß und Durchführung, der Verbindung von Gewicht und Kraft sowie von Wirksamkeit und Schnelligkeit abzuschätzen. Inmitten von vagen Ahnungen und bisher nicht gestellten Fragen begannen wir zu planen: wir errichteten Brücken der Absicht zwischen den ausgewählten Brückenköpfen der Gegenwart und denen der Zukunft. Durch diese Überbrückung konnten wir uns in Zeit und Raum ausbreiten. Wir entfalteten unser erstes -wahrscheinlich von Beginn an existente - Verkehrsmittel: die Phantasie. Als Rollbahn in eine ersehnte Welt, in Wildgärten und Gärten Eden dienten uns vorgestellte Bilder.
Die Höhlenmalereien sind Zeugnisse für die ersten Fahrzeuge unserer Sehnsüchte. Die von Hand gemalten oder gehauenen Bilder führen uns auf Jadgzüge, unter Hirsche und Eber, unter Büffel und Rehe. Im Laufe der Zeit wurden aus den Großwildtieren immer kleinere und bildhaftere Tiere, es entstanden Wesen, Städte oder Personen, Landschaften und Hoffnungen, - Dinge, die zu sehen oder wiederzusehen die Sehnsucht der Menschen war. Die mit Bildern genährte Phantasie erwies sich als derartig wirksam, daß sie den Menschen bei zunehmender Seßhaftigkeit die durch Umherziehen vermittelte Abwechslung ersetzen konnte.

Die Hand und ihr Handhaber

Die Hand ist nicht nur von Beginn an für die Ausführung der Werke unserer Phantasie zuständig, sie hinterläßt auch ständig ihre eigenen Zeichen: ein Abbild der Hand, eine Erinnerung an das Wunder der Hand. Die Hand ist der erste Mittler zwischen der Bilderwelt unserer Phantasie und ihrer Verwirklichung. Die Verbindung zwischen der Hand und ihrem "Handhaber" ist am Anfang nicht so direkt, wie wir es heute für selbstverständlich halten. Der aus dem Alten Testament stammende Ausdruck "die Hand ausstrecken (wörtlich entsenden)" und der ungarische Ausdruck "die Hand erheben" künden im gleichem Maße davon. In diesen Ausdrücken wird die Entfernung zwischen der Absicht des Individuums und der ausführenden Handbewegung, das Wissen um deren Unterschiedlichkeit deutlich. Im Laufe der Zeit verschwindet diese Mittelbarkeit. Die besondere Rolle der Hand als Vermittler löst sich in verschiedene Handlungen auf. Bei komplexeren Vorgängen spielt sie schon nicht mehr die Hauptrolle. Gemeinsam damit zerfließt das inzwischen Raum (und Zeit) bekommene Nachdenken, die elementare sprachliche Reflexivität - ebenso wie das Erstaunen. Das Wissen um den Abstand zwischen dem Körper und seinen Extremitäten, von Zentrum und Peripherie und der sich in direktester Nähe verbergenden Ferne schwindet. Es übergibt seinen Platz an das Wissen um andere Entfernungen, welche im Vergleich zu diesem geringen Abstand wirklich verschwindend klein sind.
Die Unterscheidung von Hand und Arm, also der Extremitäten, vom Körper (und dessen geistigem Zentrum) findet nicht nur in der Sprache, sondern auch in den ältesten Strafprozeßordnungen ihren Niederschlag, z.B. in der Praxis des Abtrennens von Händen und Armen. Diese Unterscheidung ist eigentlich nur eine bei der verbalen Bezeichnung bewußt werdende Entfernung, ein Quellgebiet für das Bedenken von Handlungen und für das Entstehen von moralischen Erwägungen.
Die Fähigkeiten der Hand belebten auch immer wieder auf's neue den Wunsch nach Allmacht, nach einer Ausbreitung der Hände, nach ihrer Verbindung mit anderen Mitteln und Menschen. Diese Sehnsucht wird ebenso aus der Praxis des Gebrauchs von Werkzeugen, aus dem Zwang zur Handhabung von Dingen, wie auch aus dem bei allen Kindern zu beobachtenden Wunsch nach einer mechanischen Einwirkung auf Gegenstände genährt. Sie rührt vom Bestreben des Körpers nach Ausbreitung und Verlängerung her.
Mit Instrumenten ausgerüstet verschafft sich die Hand Macht, und diese Macht ist - noch bevor sie sich mit der Elektronik vereinigt - zu Fernwirkungen fähig. Sie ergreift eine Waffe, hebt das Zepter und schwingt den Zauberstab. Zu den ersten Dingen, die sich mit der Hand vereinen, zählen Stöcke, Stäbe und Äxte, physische, symbolische und metaphysische Kräfte. In der Hand von Moses wird aus dem Stock eine Schlange, die weiter als alles bisherige weist: über die Hand auf das Wissen des Anführers.

Schnitte, Montagen und Schnittstellen

Die Hand ist der erste Calculator, sie fädelt Kiesel und Muscheln auf Ketten, sie ist Mittel und Medium für das Rechnen und Kalkulieren. Das Wissen und der Gebrauch der Hand entwickelten sich in den vergangenen Jahrtausenden auf verschiedenen Wegen. Dank der Ausbreitung der Technokultur haben sich aber beide Dinge heutzutage in der Fernbedienung (und den ihr verwandten Geräten) wieder vereint.
Die Fernbedienung, insbesondere ihre schlankeren Varianten, sind direkt mit dem Faustkeil und dem Zauberstab verwandt. Diese im ersten Augenblick etwas bizarre Assoziation ist für unser an Schnitte und Montagen gewöhnte Auge dennoch selbstverständlich. Wir leben in einer Zeit der Verkürzungen, Verkleinerungen, Schrumpfungen und einer sich immer stärker ausprägenden Übergangslosigkeit. Wir haben weder Zeit, noch empfinden wir es als notwendig, daß wir, um den exakten kontinuierlichen Ablauf von Handlungen zu verstehen, bis ins kleinste Glied um deren Ablauf wissen und eine haargenaue "technische Beschreibung" von den Qualitäten, dem Wesen und der Vielfalt der Details erhalten.
Unsere Fähigkeit des Sehens macht es uns unmöglich, die vollständige Reihe und panoptische Vollständigkeit von Einzelheiten zu erfassen. Zur Vermeidung und Überwindung von Übergängen sind Schnitte unvermeidlich. Wir sind gezwungen, den Weg der großen Sprünge zu wählen. Unsere Art des Sehens kann besonders bei Filmen deutlich dargestellt werden: der Betrachter braucht weder die vollständige Darstellung des Handlungshorizontes einer Geschichte, noch den gesamten Ablauf von Szenen zu sehen, um sie zu verstehen. Es ist völlig ausreichend, dem Zuschauer einzelne Phasen der Bewegung im Abstand von Zehntelsekunden nacheinander zu zeigen, damit er auch von den dazwischenliegenden Phasen eine Ahnung bekommt.
Durch die kinematographischen Bilder bekommen wir eine kontinuierliche Vorbereitung. Wir werden immer mehr an Auslassungen, Schnitte und schnelle Wechsel gewöhnt. Der Schnitt, diese Zäsur der fragmentierten Betrachtung stellt eine Brücke im zeitlichen Ablauf dar: sie macht den Übergang zwischen zwei von einander entfernt liegenden Augenblicken möglich, ohne daß wir die dazwischen vergehende Zeit wahrnehmen und durchleben müßten.
Hier erreicht eine mit der Renaissance beginnende Epoche ihren Höhepunkt, eine Epoche, in der "alle trennenden Zwischenäume überwunden werden, als ein Eindringen in die Morphologie, was direkt die Wirkung des Realen verändert" (Virilio). Eine solche Schrumpfung des Raumes geht mit einer Kompression der bewegten Abbilder der Zeit einher: die Intensität und Verdichtung wird immer größer. Da erst die Bewegung die Kinobilder zum Leben erweckt, ist sie zugleich unfähig, die Ruhe des Wartens darzustellen. Die Bewegungslosigkeit, die Stille oder auch sanfte Bewegungen und langsame Veränderungen werden auf diese Weise aus dem Universum der Bewegung geschnitten. Der Platz der gewohnten Dramaturgien wird von den sich periodisch wiederholenden Highlights übernommen.

Der Zauberstab

Mit dem Aufkommen der Fernbedienung und der Vergrößerung des Programmangebotes konnte nun auch der Zuschauer selbst den Zauberstab "in die Hand nehmen": bequem kann er jetzt den Strom der auf ihn einströmenden Bilder unterbrechen und aus ihm auswählen. In seiner Hand befindet sich eine Apparatur, die sowohl mit einem Schwert (Laserschwert), als auch mit einem Gewehr verglichen werden könnte: man kann mit ihr schneiden, aber man muß auch mit ihr zielen. Die Hiebe dieses "Schwertes" vollziehen sich im für das menschliche Auge unsichtbaren infraroten Bereich. Diese Tatsache weckt auch die Erinnerung an die alles andere als friedlich motivierte Entstehung der Fernbedienung: ihre Entwicklungsgeschichte beginnt auf dem Gebiet der Waffen und der Aufklärungssysteme. So wie die meisten technischen Erfindungen ist auch sie das Produkt des Wissensdranges und der verselbständigten Phantasie des Militärs.
Doch ist die Fernbedienung nicht ganz in diesem Licht zu sehen. Ihr fast unendlicher Beziehungsreichtum, ihre Zukunftsbezogenheit und ihre direkte Verfügbarkeit räumen ihr innerhalb der elektronischen Geräte einen Sonderplatz ein. In ihr ist der Geist der Technokultur kompakt und greifbar verkörpert, in ihr erscheint das übrigens sehr weit gehende abstrakte Prinzip der Vereinigung von Macht und Elektrifizierung. Über einen unsichtbaren Strom von Zeichen und Symbolen wird der Mensch plötzlich allmächtig. Dabei steht aber ständig die Frage: wer oder was hält wen oder was in der Hand? Wer oder was ergreift die Hand des anderen? Wer ist wessen Diener oder Gefangener? Die jüngste Generation der Fernbedienungen ist schon äußerst gelehrig: sie sind imstande, sich die Kode verschiedener Geräte anzueignen und in einem einzigen Gerät zu vereinigen. So kann sich langsam wirklich alles in einer Hand konzentrieren: die Fernseher, die Ton- und Bildaufzeichnungsgeräte, die Betätigung von Türen und die Steuerung der Entwicklung von im Entstehen begriffenen zukünftigen Dinge.

Das Zepter der Neuzeit

Es ist genauso schwer, uns von uns selbst, wie auch von vielen anderen Dingen, so der Fernbedienung, fernzuhalten. Gewollt oder ungewollt betreten wir ferngesteuerte Türen, empfangen oder senden Fernschreiben und führen Ferngespräche. Die Techniken der Entfernung und des Verkehrs sind auf Schritt und Tritt mit uns, sie umgeben und folgen uns. Durch sie werden unsere Empfindungen zweifelhaft und die Realität relativ. Die Mittelbarkeit wird zur Unmittelbarkeit. Der Mensch bekommt auch dann eine Fernbedienung, wenn er sie nicht verlangt hat; das liegt in der Natur gewisser Geräte. Deren Wesen ergibt sich aus der Logik der technischen Möglichkeiten: aus der Vermehrung der über- und unterirdischen Kanäle. Die Fernbedienung ist seitdem ein Massenprodukt.
In der Fernbedienung ist die jahrhundertelange Geschichte der Entfernung verborgen. Ihr direktes Vorausereignis ist im Verlaufe der Jahrhunderte wahrscheinlich in der Erfindung des Fernrohres zu sehen. Der Zauberstab der Fernsicht weist, was seine Gestalt und seine Anwendung betrifft, eine ebenso starke Ähnlichkeit mit der Fernbedienung auf, wie in Hinsicht auf seine Auswirkung auf die Kartographie. Die früheren Fernrohre erinnern an knotige Stöcke oder an sich verjüngende Stäbe und basieren ebenso auf dem Medium Licht, wie ihre späteren Nachfahren. Dank ihrer Anwendung und der "Kopernikanischen Mobilmachung" wurden die bisher grundlegenden Relationen des Raumes und der menschlichen Existenz darin sowie die der Informationsbeschaffung erschüttert. Die Bruchlinien dieser Erschütterung vertiefen sich seither ständig: "Wenn wir astronomisch den Eindruck haben, daß das Waltall nach allen Richtungen auseinanderfliegt, so steht es mit unserem Wissensbestand um unsere irdische Wirklichkeit nicht viel anders, und es ist kein Bewußtseinsort denkbar, von dem aus man alles in den Blick bekäme, d.h. keine Philosophie im alten Sinn"(Gehlen).
Im heutigen von den Medien beherrschten Alltag bietet die Fernbedienung einen erhöhten Orientierungspunkt, von dem aus entfernte Gebiete und Geschehnisse in direkter Sendung überschaubar sind. Mit einer Fernbedienung in der Hand kann sich jeder Mensch auf dem Gipfel seiner Macht fühlen. Auf ein Winken seines elektronischen Zepters können Welten vergehen und wieder auferstehen. Durch eine Handbewegung können Folgen von Bildern entstehen, werden unhörbare entfernte Laute hörbar. Unter seiner in die Ferne ausgestreckten Hand können wollüstige Wünsche oder auch Alpträume Wirklichkeit werden. Mit einem Streich seines fiktiven Schwertes können tausende Menschenleben ausgelöscht werden ...
Das bei dieser Machtfülle und dem Genuß daran entstehende ozeanische Gefühl läßt aber nur das Individuum größer werden, das dadurch zu sich selbst findet. Die Mittelbarkeit verbreitenden und vertiefenden Instrumente isolieren nämlich den Konsumenten durch die Ausschaltung der Unmittelbarkeit und der Nähe; sie verbreiten und vertiefen auf diesen Weise die Einsamkeit. So ist die Fernbedienung der verborgene Totempfahl in der Zeit einer von der Technik verordneten Untätigkeit und Lethargie, der Zauberstab für übergangsloses Schneiden und Wechseln, das Steuerorgan der Verbindung von Fernem und Nahen.
Die Fernbedienung ist ein Gegenstand. Sie hat einen Umfang, Länge ebenso wie Breite und kann in die Hand genommen werden. (Ebendeshalb ist sie zu einem ähnlich starken Symbol für unsere Zeit geworden, wie seinerzeit das Zepter für die ihre.) Über sie wird die Trennlinie zwischen dem Fernen und der Nähe spürbar.
Die Fernbedienung ist - bis jetzt zumindest noch - greifbar. Früher oder später wird aber auch sie perfektioniert werden. Es kann sein, daß - sofern die Entwickler der virtuellen Realität keine andere Lösung finden - sie eines Tages unserem Wort gehorchen wird. Dann kann es schließlich zu einer direkten Verschmelzung von weichen und hartem Maschinen kommen. Bis dahin können wir aber noch über unsere Fernbedienungen nachsinnen.

< main page | über KUNST/PHILOSOPHIE >