Auf dem Meer der Ruhe

oder Der gelobte Mond
von J.A. Tillmann

Das Meer der Ruhe - oder wie es man früher mit dem lateinischen Name Mare Tranquilitatis nannte - ist der Ort, wo der Mensch erstmal auf den Mond den Fuss setzte. Dieser Sommertag im Juli 1969 ist mir dadurch in Erinnerung, weil er das erste "weltgeschichtliches Ereignis" in meinem Leben mit sich brachte, wo ich Augenzeige war, und dessen Bedeutung ich zu verstehen meinte.
In dem damaligen allgemeinen Enthusiasmus gab es nur einen Zweifler. Der dissonante Ton kam von meinem Grossvater, der erklärte, dass es unmöglich ist: der Mond ist nicht für den Mensch.
Aus der Distanz von fast drei Jahrzehnten, nach dem Nachlassen der von dem kosmischen Ausflug ausgelössten Begeisterung, verstehe in schon den Standpunkt meines Grossvaters, dabei dämmert es mir, was damals wirklich im Meer der Ruhe geschehen ist.
Ich versuche es seitdem zu verstehen, als mir aufgefallen ist, dass die Dekade der Mondlandung sich mit dem in der Computerentwicklung und -vernetzung entscheidende Jahrzent deckt. Nachher stellte es sich heraus, dass der Abschluss des Apollo-Programms fast bis dato mit dem In-Betrieb-Setzen des Arpanets - des "Vorfahren" des Internets - zusammenfällt. Seither bin ich der Meinung, dass nicht bloss eine Zufälligkeit dabei eine Rolle spielt. Doch ist der Zusammenhang zwischen so verschiedenen Ereignissen nicht offenkundig; auch dann nicht, wenn man weiss, dass beide Folgen der aus dem Machtwettbewerb resultierenden militärtechnischen Entwicklungen sind.
Das Apollo-Program wurde 1961 von J.F.Kennedy beschlossen, das Ziel war die amerikanische Mondlandung innerhalb der nächsten zehn Jahre. Dieses Program war ein Gegenschritt, der auf die erfolgreiche Raketentechnik der damaligen Sowjetunion folgte, die den Höhepunkt im selben Jahr mit dem Raumschiff Wostok erreichte, das am Bord den ersten Mensch, Jurij Gagarin, in dem Weltraum trug.
        Wie wichtig dieser Wettbewerb für die den Kalten Krieg Führenden (und für die die Kriegspsychose wachhaltende Propaganda nicht minder, wie auch für die militärtechnischen Fronten) war, zeigt eine Erklärung des Ministerpräsidenten der damaligen SU, wie auch die ausgelöste Resonanz: "Wir sind - sagte Chruschtschov - die ersten in der Welt, die eine Bahn von der Erde zum Mond in den Himmel brennen." Diese nicht wenig übertriebene und absurde, aber in der westlichen Presse an führenden Plätzen zitierten und kommentierten Worte erreichten auch Heidegger in seiner Abgeschiedenheit, und lössten, ungewöhnlicherweise einen Kommentar von ihm aus: "Allem zuvor - schreibt er in seinen Aufzeihnungen aus der Werkstatt - müssen wir Chruschtschovs Erklärung auf jene Sachverhalte hin durchdenken, an die auch Nikita Chruschtschov nicht denkt: Weder gibt es "die Erde" noch "den Himmel" im Sinne des dichterischen Wohnens des Menschen auf dieser Erde. Was die Rakete leistet, ist die technische Verwirklichung dessen, was seit drei Jahrhunderten immer ausschliesslicher und entschiedener als die Natur ge-stellt und jetzt als universaler, interstellarer Bestand bestellt wird. Die Raketenbahn stösst "Erde und Himmel" in Vergessenheit. Wozwischen sie sich bewegt, ist weder das eine noch das andere..."
        Und was die Computer, bzw. das Computernetz betrifft: "IBM produzierte den ersten programmierbaren digitalen Computer erst - schreiben Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrer Studie Die kalifornische Ideologie -, als die Firma vom Verteidigungsministerium während des Koreakrieges dazu aufgefordert wurde. Seitdem wurde die Entwicklung der aufeinanderfolgenden Computergenerationen direkt oder indirekt vom Verteidigungshaushalt der USA gefördert."
Das erste Computernetzwerk wurde auch dank der militärischen Logik ausgebaut: für eventuelle, aus dem Weltraum kommenden (sowjetischen) atomaren Angriffe wurde ein Netzwerk der Verbindungen entwickelt, welches auch in dem Fall der Zerstörung jedweder seiner Teile, die Verbindung zwischen den verschiedenen Einheiten und Leitzentralen der amerikanischen Armee ermöglichen sollte.
Jedoch führte nicht bloss eine Reihe militärtechnischer und machtpolitischer Momente zur Mondlandung und zum Computernetz. Mir scheint, dass dabei andere Motive auch wirksam waren, die entscheidendere Bedeutung hatten. All dies lässt sich in der Frage zasammenfassen:
Wie wurde aus dem Gelobten Land der Gelobte Mond ?

Dies herauszufinden muss man etwas weiter zurück in die Zeit blicken, bis zur Wende des 15/16. Jahrhunderts. Um 1500 verlief eine grosse Umwandlung der europäischen Vorstellungen. Die Grössenordnung dieser Umwälzung lässt sich besonders in der künstlerischen Darstellungen, als eine scharfe Zesur beobachten. Diese Zeitwende bedeutet - nach Hans Belting - nicht weniger, als dass die kultische Qualitäten des Bildes erlosch und daraus Kunst wurde. Was früher zum Erscheinen-lassen des Himmlischen auf Erden diente, wurde Kunstobjekt. Diese Wende, die nur eien Moment der viele Lebensbereiche durchdringenden Umwälzungen bildet, ist nicht nur sinnbildlich zu verstehen. Hier geschieht tatsächlich eine Wende; die Wendung, das Umdrehen einer Achse:
Das ganze Universum des europäischen Mittelalters ist auf die Achse Himmel-Erde, Sakral-Profan aufgebaut. Diese axis mundi zeigen die gothischen Kathedralen, die Riesenbauten der "versteinerten Scholastik" offensichtlich:" Als würden sie gar nicht auf dem Boden stehen - schreibt Max Dvorak - , erheben sich die gotischen Dome im schrankenlosen Vertikalismus riesengross und doch nicht schwer über die Städten, im Raume aufgelöst, frei wachsend wie die vegetabile Natur." Diese dominnante Vertikale, die Verhältnisse von Hoch und Tief tragende Achse drehte sich, und damit wendete sich die Betrachtung Vieler ins Horizontale. (Man findet bei Franz Kafka, in seiner letzten grossen Erzählung, Forschungen eines Hundes einen beachtenswerten, ironischen Hinweis darauf: "Und nun das Merkwürdige, das Volk richtet sich mit allen seinen Zeremonien in die Höhe. /.../ Und ich, der ich niemals tiefer in die Wissenschaft eingeweiht worden bin, kann mir gar nicht vorstellen, wie die Gelehrten es dulden können, dass unser Volk, leidenschftlich wie es nun einmal ist, die Zaubersprüche aufwärts ruft, unsere alten Volksgesänge in die Lüfte klagt...")
Diese Wende wurde zum Teil begleitet, zum anderen verursacht durch die Verschiebung der Interessen in Richtung extern, territorial-äusserlich. Es ist die Epoche der sg. Grossen Geographischen Entdeckungen, in der die europäischen Seeleute die Grenzen der bis dahin bekannten Welt überschreiteten. Die Entdeckung und fortschreitende Eroberung der "Neuen Welt" ging einher mit der Umbildung eines traditionellen Grundmotivs der jüdisch-christlichen Kultur, des Gelobten Landes. Das Gelobte Land war zunächst für Israel Ort der erfüllten Verheissung - das nach der aegyptischen Gefangenschaft und der darauffolgenden Langen Wüstenwanderung erreicht wurde. Das Land der Verheissung hat sich später für Christus und seine Nachfolger als Reich Gottes: nicht von dieser Welt bewiesen. So wurde das Land der Verheissung deterritorialisiert: es verlor seine irdische Ausdehnung, wie auch seine territorialen Merkmale und wurde utopisch, d.h. nicht-orthaft.
Im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte, in christlichen Jahrhunderten, wurde der Ort der Verheissung schrittweise reterritorialisiert. So konnte die Entdeckung der Neuen Welt schon in ein neues Gelobte Land führen: Amerika war für die Einwanderer immer schon das Gelobte Land, und blieb es bis heute. Am Ende der 60-er Jahren veröffentlichte Robert R. Bellah eine Studie über die amerikanische Zivilreligion. Darin beschreibt er neben anderen biblischen Begriffen auch das Gelobte Land als die der amerikanischen bürgerlichen Mentalität und dem Gemeinwesen zugrundeliegende, bestimmende Idee. (Wenn man heute die Selbstdarstellungen der amerikanischen Massenkultur betrachtet, findet man diesbezüglich keine wesentliche Veränderung.)
Jedoch konnte die Neue Welt die Verheissung des Gelobten Landes nicht vollkommen und nicht für alle erfüllen. Durch die christliche Transformation trägt diese Verheissung einen Zug, der das Verheissene von allen irdischen Gebieten unterscheidet: es liegt im Jenseits. Es ist ausserhalb der irdischen Gebiete. Es ist aber nicht ausserirdisch, sondern transzendent. Es können daher Länder voller Verheissung sein, fallen aber nicht mit Jenem zusammen. Dies lässt sich auch dadurch erkennen, dass jene, denen es schon als erreicht scheint, darin keine Ruhe finden können. Diese seltsame Lage erklärt auch, weswegen von Zeit zu Zeit das "Gelobte Land" seinen Ort wechselt. In unserem Fall erklärt es auch, wie aus dem Gelobten Land der Gelobte Mond wurde.

Die erste Menschen auf dem Mond

Die ersten Menschen auf dem Mond waren Amerikaner; Nachkommen der Eroberer der Neuen Welt, des neuen Gelobten Landes. Mich hat ein ungar-amerikanischer Schriftsteller endgültig davon überzeugt, wie treu die Schiffer des Weltraumes die Ziele ihrer Vorfahren, dem "Geist des Ortes" gefolgt sind: "Wir Amerikaner - schreibt Paul Olchvary - haben einen derartigen Raum für Ortsveränderungen (und meistens auch die materiellen Möglichkeiten dazu), dass wir uns nicht nur davon überzeugt haben, dass wir dahin gehen können, wohin es uns beliebt, sondern auch, dass wir werden können, was uns beliebt. Unsere weltberühmten Erfolge im Weltraum, wie auch unsere technischen Ereignisse generell sind letztendlich als erweiterungen von Innenraum des Nordamerikanischen Kontinentes und - wagen wir uns ein Schritt weiter - unserer eigenen inneren Raumes zu betrachten."
Doch wie steht es mit den "weltberühmten Erfolgen im Weltraum"? Wurde das Trachten ins Ausserirdische tatsächlich so erfolgreich? Wohin haben sie es mit der Mondlandung gebracht?
Der Mond ist nicht geeignet für den Mensch, da irrte mein Grossvater nicht. Seine radikale Skepsis inmitten der hymnischen Chöre des Fortschritts wurde nachträglich bestetigt. Zur breitere Einsicht seiner Wahrheit brauchte man lange Jahre (Experimente, Erfahrungen, Niederlagen). "Erst jetzt beginnt man allmählich darüber zu sprechen - sagte kürzlich Stanislaw Lem in einem Interview -, dass es nicht allein die Barriere der Kostenentwicklung ist, die uns an Fahrten zu anderen Planeten oder an einem langen Aufenthalt in einer orbitalen Station hindert. Es ist einfach so, dass der Mensch ein durch und durch irdisch geformtes Lebewesen ist, das im schwerelosen Raum nicht längere Zeit leben kann."
Dann schildert er einige schädliche Folgen, die durch die Verschiedenheit der Lebensbedingungen auftreten: dass die Astronauten auf einer nahe der Erde gelegenen Weltraumstation wegen der dort herrschenden Strahlung sehr schnell altern. Eine weitere Folge der Raumfahrt ist, dass wir Menschen, als durch irdische Schwerkraft geformte Wesen, bei einem langen Aufenthalt im schwerelosen Raum die Knochensubstanz verlieren, die Knochen werden brüchig, die Muskeln leiden. Man konnte sehen, dass der auf die Erde zurückkehrende Astronaut auf einer Bahre getragen wurde, weil er nicht mehr in der Lage war zu stehen und zu gehen. Lems Schlussfolgerung: es" ist traurig, aber wir sind nun einmal sehr stark erdgebunden."

Von Exo nach Endo gewendet

Aus dieser Sicht ist der Auftritt im ausserirdischen Raum, mit dem Höhepunkt der Mondlandung, ein spektakuläres Scheitern. Das Mass des Misserfolges ist heutzutage nicht mehr richtig zu spüren, verglichen mit den damaligen Erwartungen ist es aber riesig: wie man es aus dem, - übrigens fast unlesbaren - Reportagenbuch des Oriana Fallaci erfahren kann - hatten die Entwickler und Teilnehmer des Apollo-Programs ganz konkrete Vortellungen darüber, wie sie in einigen Jahren die Wochenenden auf dem Mond, den Sommerurlaub auf der Venus oder auf dem Mars verbringen werden. Zu der Zeit, als der Mensch zum erstenmal den Mond betrat, erklärte z.B. Wernher von Braun, übrigens kein Phantast, eher ein Pragmatiker, der früher ein Hauptkonstrukteur der nationalsozialistischen Raketentechnik V1, V2 war, und später "Vater" der amerikanischen Raumfahrt: "In Zukunft wird es genauso nützlich sein, den Weltraum kennenzulernen, wie Autofahren zu lernen."
Die mit dem Weltraumfahrten verbundene Hoffnungen haben seither stark nachgelassen." Solange man sich nicht auf dem Mond befand - sagt Stanislaw Lem - , konnte man sich noch vorstellen, dass es dort sehr interresante Landschaften gebe. Nein, das ist eintönig, das ist wirklich eine Wüste. Wer will schon für 10 oder 20 Jahre oder gar für das ganze Leben in der Wüste und dazu noch in einem geschlossenen Gefängnis leben?"
Die Weltraumtouristik betreffende Hoffnungen gelangten dann zum Tiefpunkt, als die Entfaltung eines anderen Raumes, die des Cyberspace begann. Statt einem Interesse an dem Space wurde das Interesse an dem Cyberspace wach. Das Geschehen im Meer der Ruhe wurde dadurch auch anders deutbar: das Trachten nach dem Weltraum ist gestutzt, und mündete in dem kybernetischen Raum. Die jahrhundertelange Eroberung des äusseren Raumes endete mit der Mondlandung; der Bogen der ins Exoterische gehende Tendenz wurde gebrochen und wendete sich nach Innen.
Die Entwicklung der neueren Technologien lassen sich schon diesem Scheitern verdanken." Nach den vielen bitteren Enttäuschungen -schreibt Paul Virilio -, die die amerikanische Raumfahrtbehörde bei der Eroberung des Realraums hinnehmen musste, hat man riesige Summen in die Suche nach Instrumenten gesteckt, die ihr künftig die Eroberung der nicht vorhandenen Weite des virtuellen Raums ermöglichen sollen."
Derzeitig, wie es jedermann überall erleben kann, ist ein forcierter Prozess im Gange, der auf den Ausbau einer isolierten technischen Innenwelt, einer Endosphäre zielt. Statt Raumanzug wird in dieser Sphäre eine eigenartige Taucherausrüstung gebraucht: bei dem Versinken ins Virtuelle bekleiden sich die Reisende mit Datenanzug und rüsten sich mit Datenhelmen.

Synthetische Seifenblase

Welche Wende das Verändern der Interessen am ausserirdischen Raum in Richtung virtuelle Innenwelt bedeutet, zeichnet sich für mich an einem alten Bild besonders anschaulich ab: auf einem bekannten Holzschnitt aus dem Spätmittelalter ist ein Mensch zu sehen, der seinen Kopf aus der Atmosphere, weit über die irdischen Sphären hinaus steckt, um dort die Sternen zu beobachten. (Sein Körper bleibt zurück, er ist erdgebunden, nur das Haupt ragt in die himmlische Höhe.) Dieses Bild ist ein Emblem der Neuzeit geworden; es illustriert in Geschichtsbüchern den Aufbruch des Menschen an der Schwelle der Neuzeit. Unsere Gegenwart könnte man als eine Inversion dieses Bildes bezeichnen: wie der Mensch der Spätneuzeit aus der Exosphere - meistens nur vorläufig - seinen Kopf in die Endosphere steckt. In eine synthetische Seifenblase, die mit dem ganzen Spektrums des Regenbogens aus aller Welt die Köpfe anzieht, jedoch jederzeit wieder zerfasern kann. Doch scheint es nicht nur die Augen anzuziehen und die darin versunkenen Köpfen anzugehen.
Proportional mit der Steigerung der endospherischen Aesthetik und Erotik scheint die Anziehung der Exosphere nachzulassen. Man könnte auch sagen, dass die Exotik des "Real Existierenden" schwindet. Diesbezüglich formuliert Virilio ganz Präzise: "Im Zeitalter der supersonischen Luftfahrt und Datentransfer - sagt er in einem Gespräch - werden wir die Erde als eine immer enger werdende Zelle fühlen. Aus den kollektiven Vorstellungen von Morgen werden auch noch die Erinnerungen der geheimnisvollen Fernen getilgt."
Auf die Anzeichen dieses Prozesses wurde Victor Segalen schon am Anfang dieses Jahrhunderts aufmerksam: er schrieb 1917 in seiner Aesthetik des Diversen dass "die exotische Spannung der Welt abnimmt. Der Exotismus, Quelle geistiger, ästhetischer und physischer Energie nimmt ab." Er beschreibt nicht nur Symptome, sondern deutet auch Ursachen an:
"Die Verschleissursachen des Exotismus in der Welt: alles was man Fortschritt nennt. Die Gesetze der angewandten Physik; mechanisierte Reisen, die die Völker miteinander konfrontieren und, oh Graus, vermischen und vermengen..."
Segalen fragt zuletzt: "Wo ist das Geheimnis? Wo sind die Entfernungen?"
Mit der Anziehungskraft der Realität nimmt nicht nur das Exotische ab, sondern auch andere Diversitäten: Biologen berichten schon seit einigen Jahren über dass sich beschleunigende Abnehmen der Biodiversität, der Artenvielfalt - was nicht zuletzt Voraussetzung für Resistenzfähigkeit gegen Epidemien, für eine weitere Evolution, etc., und eines ökologischen Gleichgewichtes ist.
Die neuen Technologien versprechen jedoch auch neue exotische Perspektiven; deuten ein neues "Gelobtes Land" an; z.B. bieten sie durch Cyberspace erreichbare exotische "psychogeographische" Gegenden an. Ein Entwickler dieser Technologie, Jaron Lanier aus Kalifornien behauptet, dass "nach der allgemeinen Verbreitung der Virtualität nicht mehr die physische Realität als die in Frage stehende Realität betrachtet wird, sonder als eine zusätzliche. Die virtuelle Realität bedeutet für uns die Eröffnung eines neuen Kontinents."
Die "Neue Welt", die Bürger und Firmen der Vereinigten Staaten, sind die Pioniere bei dem Aufdecken dieses Kontinentes. Deswegen finde ich eine Bemerkung von Paul Virilio besonders beachtenswert:"Das 20. Jahrhundert hat einerseits die echten Kolonien befreit- sagte er in einem anderen Gespräch -, anderseits aber auch das letzte Kolonialreich geschaffen: das Reich der virtuellen Realität. Und es ist kein Zufall, dass im Mittelpunkt dieses Prozesses die Amerikaner stehen. Denn vergessen wir nicht: Amerika ist die einzige Kolonie, die nicht befreit wurde. So kann sie nur ihr Ebenbild erschaffen."
Virilio spricht über nichtbefreite Kolonie, seine Behauptung wird aber deutlicher, wenn man es als eine Befreiung nicht erfahrenem Land versteht. Die Vereinigten Staaten sind nämlich einzigartig in der Hinsicht, dass sie keine Niederlage auf eigenem Territorium und Besetzung erleiden musste. Dass heisst aber auch, dass sie die Auswirkungen des Misserfolges, des Scheiterns entbehren, die in gewisser Hinsicht ernüchternde kollektive Erfahrung (aus der Psychose der nationalen Mythologie, Gloire etc.) bedeuten.

Das andere Meer der Ruhe

Die Mondlandung ist Teil einer langen Tradition. Es scheint so, dass die Programmplaner sich dessen auch bewusst waren, als sie damals antike Namen auswählten. Der Name Apollo ist in diesem Zusammenhang eindeutig: "der ferne Gott" - schreibt der Altertumswissenschftler Karl Kerényi. Das Meer der Ruhe ist es schon weniger. Vielleicht wollten sie durch diesen Ortsnamen die übermenschliche Anstrengung der Mondlandung erleichtern und schon mit dem Namen die Astronauten beruhigen, ihnen ein klassisches Heilmittel anbieten: der ursprüngliche Name Mare Tranquillitas, wie auch der Name des benachbarten Meeres der Heiterkeit, Mare Serenitatis enthält antike Philosophie wortwörtlich. Das lateinische tranquillitas animi, die Ruhe der Seele ist ebenso ein Schlüsselbegriff der philosophischen Lebenskunst, wie serenitas, die Heiterkeit, der eigentliche Glückzustand, Ziel allen philosophischen Erkennens, Aufklärens, Aufheiterns ist.
Seelenruhe war den Astronauten unentbehrlich. Die amerikanischen Raumfahrer wurden, wie auch der erste sowjetische Astronaut, Jurij Gagarin, aus den Reihen der Testpiloten ausgewählt. Schwere Selektionsaufgaben und gründliche Untersuchungen hinter sich lassend, haben sie Tapferkeit, Mut und Selbstbeherrschung bewiesen. (Die Härte der Kriterien dieses Auswahlverfahren zeigen sich darin, dass schon ein wenig mehr an Phantasie zum Ausschluss geführt hat...)
Sie waren auf die Herausforderungen der Raumfahrt vorbereitet, und haben auch die Prüfungen ausgestanden. Von dem Lauf ihres späteres Lebens kann man dies aber nicht behaupten; sie konnten das Meer der (All)Tage nicht in das Meer der Ruhe umwandeln. Einer von den drei der Apollo-11 Mannschaft landete in einer psychiatrischen Anstalt, ein anderer forschte auf dem Berge Ararat nach der Arche Noah, und der Lebensweg des dritten nahm auch merkwürdige Wendungen.
Um die Beziehung von Ruhe und Bewegtheit zu klären, ist es hier angebracht Gedanken eines antiken Autors zu erwähnen, der auch Über die Seelenruhe eine Schrift verfasst hat: Seneca. Er schrieb mehrfach darüber, dass "allein von allen sind nur jene der Musse hingegeben, die für Philosophie Zeit haben". Dadurch wird nicht nur die Ruhe einem zu Teil, sondern wir können auch grosse Reise machen, "zu allem haben wir Zutritt und, es gibt eine grosse Spanne Zeit, die wir durchschreiten können; viele Jahrhunderte, so vieler Zeitalter zusammenhängende Folge, was immer es an Jahren gibt, kann man betrachten ."
Und dazu braucht man nicht unbedingt an einer Raumfahrt teilzunehmen oder in die Technomagie der Virtualität unterzutauchen. Diesbezüglich bietet ein Fund, der mir neulich in die Hände geriet, einen weiteren überzeugenden Beitrag: ich erbte eine Schallplattensamlung aus der 60-er Jahren, darunter eine "historische Aufnahme", worauf Jurij Gagarin, während seiner Fahrt mit der Raumfahrtzentrale auf der Erde sprach. Über seine Erfahrungen äusserte der erste Astronaut seinen Zuhörern Sätze, die ich an meinem Schreibtisch sitzend meistens auch sagen kann:
"Die Aussicht ist gut. Ich sehe die Erde. Man kann alles sehen. Einige Gebiete sind wolkenbedeckt. Alles ist in Ordnung. Meine Seelenzustand ist gut. Ich fühle mich wohl. Ich setze den Flug fort..."
Und dabei brauche ich nicht einmal an einer Raumfahrt teilnehmen. Es genügt zum Meer meiner Ruhe zu gelangen - wodurch alles erreichbar wird; die Weltmeere nicht weniger, wie die Berghöhen oder die unendliche Tiefe des Weltraums.



QUELLEN


Richard Barbrook - Andy Cameron: Die kalifornische Ideologie. telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur, (Bollmann, Mannheim) 1996/0.

Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München, 1991.

Max Dvorak: Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei. In: Studien zur Kunstgeschichte. Leipzig, 1989.

Oriana Fallaci: Wenn die Sonne Stirbt.

Jury Gagarin in Space. (Diktorszkij tyekszt) MK D-0007955

Martin Heidegger: Aufzeichnungen aus der Werkstatt. In: Aus der Erfahrung des Denkens. GA Bd.13., Frankfurt, 1983.

Jaron Lanier (Interview) In: Cyberspace (Hg.M.Waffender). Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten Reinbeck, l99l.

Stanislaw Lem: "Eine Epoche, vor der mir graut". telepolis. Die Zeitschrift der Netzkultur, (Bollmann, Mannheim) 1996/0.

Paul Olchváry: Igazi amerikai? 2000 (Budapest) 1997/1.

Otto E. Rössler: Endophysik. Die Welt des inneren Beobachters. Berlin, 1992.

Victor Segalen: Die Aesthetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. Frankfurt, 1994.

Lucius A. Seneca: Philosophische Schriften I-II. (De tranquillate animi / Über die Seelenruhe; De brevitate vitae / Über die Kürze des Lebens; Ad Marciam de consolatione / Trosschrift an Marcia.)
        (Übersetzt von M.Rosenbach) Darmsradt, 1971.

Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers, München, 1994.
        (Interview mit David Dufresne) Filmvilág 1996/8.
        (Interview mit András M.Monory und J.A.Tillmann)
        2000
(Budapest) 1997/9.

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