Verblasste und verschüttete Textur.
Die 'Hypermedionoper' Who is Who in Central and East Europe 1933 von
Arnold Dreyblatt
Von J. A. Tillmann
Als ich der Berliner Uraffürung im 1991 beiwohnte, war das
Wort 'hypermedia' noch nicht so oft gebraucht (und abgebraucht) als
heute. Und irgendwie ist das anderthalbstündige Stück tatsaechlich
opernhaft und ziemlich hypermediatisch. Dennoch auch ausgesprochen
hör/sehbar, ja ein überaus bemerkenswertes Experiment zur
Erneuerng einer musealisierten Kunstgattung. Ausserdem berührt
es die verblassten und jahrzehntealten Ablagerungen verschütteten
Schichten der (lokal kolorierten) Textur unserer Kultur direkt.
Einer solch heiklen Operation scheint eine entsprechende Ferne gut
zu tun. Autor Arnold Dreyblatt kommt naemlich aus New York, früher
waren Minimalmusik, Musikaktion und Performances Hauptgebiete des
Komponisten und Medienkünstlers. In den siebziger Jahren studierte
er bei LaMonte Young, Pauline Olveros und Alvin Lucier Komposition
sowie bei Woody und Steina Vasulka Video. Mit seinem Orchestra of
Exited Strings in wechselnder Besetzung gastierte er wiederholt in
unseren Landen (beim PLÁNUM-Festival /1984/ spielten sie unter
anderem an einem aufgehaengten Flügel, namentlich dessen Halteseilen
- vgl. exited strings).
Das Libretto basiert auf dem 1934 in Zürich edierten Buch Who
is Who in Central and Eastern Europe 1933. Dreyblatt entdeckte den
Band, der rund 10 000 Biographien enthaelt, in einem Istanbuler Antiquariat.
Einem Teil der Angaben speiste er in einen Computer, um sie nach verschiedenen
Aspekten und Kategorien neu zu ordnen. So entstand ein dermassen farbenreicher
Querschnitt an Geist, Geschichte und Eigenheiten der Region, dass
man ihn höchsten mit einem Orienttepich vergleichen könnte.
Die Vorlage hatte ohnehin nichts zu tun mit den heute, im Zeitalter
von Rationalisierung und Instrumentalisierung üblichen trockenen
Faktensammlungen. Hier gibt es nicht nur Gerippe von Namen, Geburtsdaten
und Lebenslauf-Momenten, sondern ahnungsvolle Verhaeltnisse , Geschichtsfragmente,
Sehnsüchte; Bruchstücke all dessen, was das Ganze einer
damaligen Lebenswelt ausmacht.
Beim Lesen in diesen Biographien beginnt die Vergangenheit durchzuschimmern,
ja fast greifbar zu werden: jene markante Unterschiede, die sie scharf
von der Gegenwart trennen. Es faellt auf, unter welch anderen Attraktion,
Werten und Vorstellungen die Personen, die inzwischen alle verstorben
sind, einst lebten. Ein pensionierter ungarischer Minister hielt zum
Beispiel die Erwaehnung für wichtig, dass er mit Mussolini befreundet
sei. Ein anderer Mann laesst sich als 'Experte der Jazz-Musik' vorstellen.
Ein Ingenieur ("Chefingenieur der Palaestinesischen Vierter Armee")
brüstet sich seiner Freundschaft mit Dshemal Pascha. Ein tschechischer
Priester aus Böhmen ist stolz darauf, "seit über dreissig
Jahren ein Freund des tschechischen Dichters Otokar Brezina "
zu sein. Ein Schriftsteller berichtet, er habe "als persöhnlicher
Freund und Gast von Marschall Balbo eine Hydroplan-Reise nach Tripolis
unternommen". Ein anderer gibt sich als naher Frend von Friedrich
Engels zu erkennen...
Um die jüngere nah-ost-europaeische Vergangenheit aufzuarbeiten,
nahm Dreyblatt eine Umgruppierung des ursprünglichen Textmaterials
nach eigenen Kategorien vor. Dabei bildete sich am Raster der Namen,
Orte und Zeiten, Verwandschaften und Beziehungen, Persöhnlichkeiten,
vergessenen Landstriche, verschiedene Sprachen und Minderheiten, Mitgliedschaften
und Auszeichnungen eine neue Textkollektion heraus.
Auf diese Weise leuchtet in dem Stück neben der kulturellen und
geographischen Vielfalt auch eine breite Palette von Farben und Schattierungen:
über das Tragikum, das die ganze Geschichte der Region reflektiert,
hinaus das Absurde, das Groteske und der (damals noch unbeabsichtigte)
Humor. (Da gab es Leute, die ihren Zeitgenossen mitteilen wollten,
dass sie dem Albanischen Königlichen Autoklub, der Spanischen
Chopin-Gesellschaft oder dem Verband der Pan-Bulgarischen Invaliden
angehörten; dass sie ihre UV-Lichtbilder patentieren liessen;
dass einen eventuell der Sturm der Geschichte durch die halbe Welt
getrieben hatte wie jenen Italiener, der "aus sibirischer Gefangenschaft
über China und Japan auf die Niederlaendischen Antillen floh
und nun als Schriftsteller in Holland lebt"; dass man "1908
in Genua auf Paganinis Geige spielte" oder einfach nur Schmetterlinge,
byzantinische Ikonen, litauische Volkslieder oder Lajos Kossuth-Portraits
sammelte....)
Die Oper besteht natürlich nicht nur aus Text, obgleich seine
besondere Rolle allemal zum Tragen kommt: Er wurde nicht nur von drei
Narratoren und einer Solistin (der stimmlich aussergewöhnlich
voluminösen Selley Hirsch) zu gehör gebracht, sondern einzelne
Abschnitte erschienen zeitweilig auch projiziert.
Sogar die Bildleinwand selbst war kein pures Requisit, stand vielmehr
fast schon im Mittelpunkt der Vorführung: Sie diente abwechselnd
dem Schattenspiel der Darsteller und der Projektion; sie trennte die
(diesmal sechs) Cello/Gitarren/Tuba/Saxophon/Schlagzeug und Cymbal
spielenden Mitglieder des Orchestra of Exited Strings vor sich von
der bildhaften (und bildlichen) Story hinter sich. Die Dia- und Filmprojektoren
vergegenwaertigen naemlich - anhand von Fotos aus dem Horus-Archiv
von Ferenc Kardos und Amateuraufnahmen aus dem 'Privatfilm'-Archiv
von Péter Forgács - zwar nicht genau jene Personen,
aus deren Lebenslaefen das Stück gewebt wurde, aber doch die
Epoche, die Schauplaetze und Aspekte, von denen sich der Text herleitet.
Unter den Vorgaengern der Dreyblatt-Oper schillert Robert Wilsons
Theater, Robert Aushleys Multimednienstücke und Philipp Glass'
frühe Opern. Im Vergleich zu solchen, technisch aeusserst aufwendigen
Aufführungen gilt der Who is Who-Apparat als sehr bescheiden,
nahezu aermlich. Ohne funkelnde (Scheinwerfer)farben und imposante
Szenenwechsel bleibt er, reich an schwarzen und weissen Nuancen, stets
im Einklang mit der Sache. Melodien, Bild- und Tonfolgen sind miteinander
verwoben zu einer nostalgiefreien Gesamtheit des zeitgenössischen
Ost-Mittel-West-Europa. Das einzigaertige Universum, in dem die Zeiten,
Lebenslaeufe, Kulturen in exzeptioneller Konjunktion zutage traten
und deren Wechselwirkungen, Bruchlinien und Kollisionen trotz aller
lokalen Greuel beispiellose schöpferische Kraefte in Bewegung
setzten.
Heute, da die High-Tech mit unglaublicher Geschwindigkeit in die Gebiete
der stehenden Zeit vordringt und die in alle Richtungen wuchernden
Netzwerke erneut die seit Jahrzehnten getrennten Orte, Laender und
Menschen verbinden, Schicksale über Kulturen hinweg verflechten,
wird die Vorvergangenheit der Region zu einem erwaegenswerten Muster,
das hilft, sich an die Perspektive, die in steigendem Masse unerlaesslich
ist, um unsere Lande, unsere Geschichten und uns selbst zu beachten.
Hierbei kann sich sogar herausstellen, dass dieser oder jener Bereich
einen bedeutenden Erfahrungsüberschuss angehaeuft hat, der zu
einem betraechtlichen Teil nicht unbedingt gestrichen, also vergessen,
sondern im Gegenteil gehegt und gepflegt werden muss, da er phaenomenale,
das heisst einmalige und flühtige Lehren birgt -- eine unersetzliche
geistige Trieb- und Schürkraft.