"Es ist alles da"

oder das Koordinatenkreuz der ungarischen Nachkriegsliteratur

Von József a Tillmann

Als ich vor kurzem über einige Aspekten der zeitgenössischen ungarischen Literatur sprechen sollte, musste ich fragen: wo beginnt und wie weit reicht das literarische Feld? Denn es gehören anscheinend Beschreibungen von Betriebsunfällen ebenso dazu, wie Berichte von Agenten oder Denunzianten. Und sie werden auch so behandelt, d.h. als Literatur veröffentlicht. Für den ersten Fall sollen Franz Kafkas Amtliche Schriften stehen, die er während seiner Arbeit bei einer Arbeiterkrankenkasse verfertigte (und die noch in DDR-Zeiten verlegt wurden). Für den letzteren die eben publizierten Geheimakten Mátyás Esterházy`s - ausführlich kommentiert von seinem Schriftstellersohn Péter Esterházy. (Gerade auch deutsch erschienen.)
Ebenso mußte ich mir die Frage stellen: was heißt Zeitgenossentum? Welche ist die zeitgenössische Kunst? Zeitgenössisch sind die Zeitgenossen. Es scheint ein tautologischer Satz zu sein, ist es aber nicht unbedingt. Denn es gibt häufig "Genossen" in der Zeit, die, in mehrfacher Hinsicht, nicht nur andere Zeiterlebnis haben, sondern auch in anderen Zeiten leben, sich in andere Zeiten versetzen oder einfach stehen geblieben, wenn nicht zurückgefallen sind.
Eine von den bemerkenswertesten Erfahrungen der letzten Dekade für unsereiner war, wie unter dem Deckmantel der totalitären Einheitskultur Überkommenes verschiedener Vor-Zeiten und Vorstellungswelten überdauerte. Nicht vollkommen verwahrt, meistens eher verkümmert, teilweise abgestorben, nicht selten entstellt.
Erstaunlich für mich war daran nur der Ausmaß der Deformiertheit, die als solche in der Öffentlichkeit ihre Stimme hören ließ. Um so mehr, da mir aus der Nähe eine zeitlich ziemlich "abgelegene" und im Grunde genommen unversehrte Welt gut bekannt war: die meiner Großeltern. Sie waren immer völlig "unzeitgemäß", territorial und kulturell fast vollkommen isoliert, in einem kleinen Dorf, als Donauschwaben - einen fast unveränderten Dialekt aus dem 18. Jahrhundert sprechend - sprachlich nicht nur von der ungarischen Umgebung, sondern auch vom "Mutterland" abgeschnitten.
Zeitgenössische Künstler, Literaten sind letzten Endes jene, mit denen man die gleiche Zeit teilt, mit denen man aufwächst. Wenn man die neuere ungarische Schriftkunst (Kunst, Kultur) aus einer "historischen Perspektive" zu betrachten versucht, kann einem die besondere Zeiterfahrung auffallen. Die Rezeption der (Mode)Wellen der euro-amerikanischen Kunst- und Literaturszenen lief asynchron. Wie auch die Aneignung der Formen und des Gedankenguts der Klassischen Moderne und Vormoderne. Durch diese Verschiebung wurden andere Zusammenhänge entdeckt, wie auch gemeinsame Erfahrungen der Modernität anders gedeutet. Die Folgen dieser Verschiebung lassen sich auch im Wahrnehmen beobachten. Und nicht unbedingt zum Nachteil.
Wenn man das Koordinatenkreuz der ungarischen Nachkriegsliteratur zeichnen wollte, wäre es mit mit zwei Oeuvres zu entwerfen: die horizontale Achse wäre dann das Prosawerk von Géza Ottlik, die vertikale die Dichtung von János Pilinszky.
Dass diese Behauptung nicht bloß sinnbildliche Aussagekraft hat, ist an zwei Bildern abzulesen.
Das eine ist eine eigenartige Graphik von dem Schriftsteller Péter Esterházy. Dieses Bild ist ein ganz sonderbares Zwischengebilde - mit Zügen der modernen (Landschafts-)Darstellung, der Abstraktion, der Kalligraphie und der mittelalterlichen Askese. Die Entstehungsgeschichte des Bildes erklärt all die Besonderheiten: Anfang der 80er Jahre hat Esterházy das Hauptwerk von Géza Ottlik Die Schule an der Grenze auf ein DIN A-3-formatiges Zeichenblatt kopiert.
Diese lange, täglich wiederholte Übung läßt auf tiefe, sogar identifizierende Aneignung deuten. Ähnliches findet man nur in vorgutenbergischen Zeiten - als Handwerk oder als asketische Übung. In der monastischen Tradition wurde das Kopieren heiliger Bücher, besonders der Heiligen Schrift als Penitenz verhängt. (Auf ungarisch ist das Drehbuch zu den Film Andrei Rublov von Andrei Tarkovsky in den 70er Jahren erschienen, worin der Gefährte des großen russischen Ikonenmalers damit bestraft wird, fünfzehn Mal die ganze Heilige Schrift niederzuschreiben...)
Esterházy`s Bild lässt sich als Geste der Ehre, als Anerkennen der Meisterschaft, der "Heiligung" des Buches von Ottlik deuten. Es ist aber nicht bloß eine handgefertigte Kopie eines Textes, sondern auch ein modernes Kunstwerk ersten Ranges. Da man die Sätze des umfangreichen Buches auf einem Blatt nicht nach- und untereinander schreiben kann, hat Esterházy sie auf- und übereinander geschrieben. Das so entstandene Gefüge der Zeilen ist nicht homogen, sondern zeigt eine Schriftlandschaft, es gibt darin dunklere und hellere Streifen, dichtere wie dünnere Schichten. Es weist übrigens gewisse Züge der Verwandschaft mit einigen Graphiken von Paul Klee auf.
Der Titel eines Bildes bei Klee ist keine bloße Sprachform um das Bild von anderen Werken unterscheiden zu können, sondern er enthält eine diskrete, meistens metaphorische und oft ironische "Anweisung". Er deutet den point of view, die Perspektive an, woher es im Entfalten betrachtet wurde und empfiehlt einen ähnlichen einzunehmen. Bei Esterházy lautet der Titel schlicht und sachlich: Géza Ottlik: Die Schule an der Grenze, es gibt aber auch einen Untertitel: Einleitung in die (Schöne)Literatur. Er nennt es später "Der Text als Landschaft". Eine paradiesische Landschaft, eine ideale literarische Landschaft würde man denken, aber der Roman von Ottlik ist nicht gerade paradiesisch - eher ist er durch Schnee und Schlamm gekennzeichnet. Schnee und Schlamm ist nämlich der Titel des II., des Kernkapitels. Ottlik hat den ganzen Romantext mit einer Stelle des Römerbriefes - es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen (Röm 9,16) - verwoben, sozusagen daran aufgehängt. Nur hat er den, als lateinische Inschrift in den Roman inkorporierten Satz des Paulus, leicht umgestaltet. So erscheint in der zentralen Szene Gottes Erbarmen zwischen Non est Volentis (Erstes Kapitel) und Neque currentis (Drittes Kapitel) nur indirekt.
Trotz Schnee und Schlamm ist in diesem Roman alles da.

Es ist alles da
Es ist alles da - wie in der so betitelten Erzählung von Géza Ottlik auch alles da ist, in einer noch komprimierteren Erzählform. Es ist die meisterhafte Beschreibung eines erfüllten Lebens, ein Gefühl der Lebensfülle eines Violinisten, genannt Jacobi. Er kehrt am Ende seines weltbewanderten Musikerlebens zurück in seine Geburtsstadt und findet den Stein seiner Kindheit - nicht jenen worauf Jacob sein Haupt niederließ und die Engel ihre Leiter ansetzten - aber doch einen Stein, der vieles trägt und verbindet:
"Aber es war zuerst der Stein, den er wiedererkannt hatte. Nicht die rauhe Oberfläche, die Schattenspiele, sondern sein Wesen, sein Inhalt, seine Bedeutung - seine Musik. Musik in c-Moll. 'Mein Gott !' dachte Jacobi (…) Der Straßenlärm löste sich auf, breitete sich aus, das Brausen der Stadt schwam dahin, hinweg über den Heumarkt, hinweg über den Fluß, in die Ferne, es schwam dahin und klang zurück von den Weihnachtsinseln her. Von den Hebriden. Von irgendwo unter dem Kreuz des Südens. Mein Gott, dachte Jacobi, ich bin auf dieser Erde gewesen.(...)
'Mein Gott' dachte er, ich bin auf dieser Erde gewesen, habe in der Abendstunde den Sonnenschein gesehen, der über den rauhen Stein strich. Du hast mir Gras, Kieselsteine (…) gezeigt. (…) Und jetzt gewann ich diese frühe Erkenntnis wieder. Oder etwas für dessen Erscheinungsform, für dessen Existenz es in der menschlichen Sprache noch gar keinen Namen gibt. Empfinden, Zustand, Temperatur ? Substantiv, Attribut, Verb, Adverb ? Vielleicht' dachte Jacobi, ein Augenblick der Schöpfung in seiner ganzen Vollendung und Einfachheit, vor der Namensfindung. Er geht der Sprache voraus, dem Geigenspiel, wie soll ich es also den Engeln melden ? (Dt. von Heinrich Weißling) In Liebe. Ungarische Kurzprosa aus dem 20. Jahrhundert. (Ausgw. von I. Bart) Corvina, Budapest, 1993
Die Erzählung von Ottlik erschien 1968. Einige Jahre später notierte Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch, das fast als ein Postskriptum zu der Novelle von Ottlik zu lesen ist:
Die transzendente Wirklichkeit umschließt uns wie ein Mutterschoß. Sie ist das einzig Gewisse, alles, was wir als materielle Gewissheit ansehen, ist tausendfach ungewisser. So gesehen ist die individuelle Tragödie ein Irrtum, das Glück dagegen nicht. Das Göttliche spiegelt sich in der Freude, als schöpferischre Gedanke oder Gedanke der Schöpfung.(...)
Das Staunen des Menschen über die Schöpfung; seine andächtige Verwunderung darüber (...) Seine Verwunderung über das Bestehen der Welt ist vergangen und damit eigentlich die Ehrfurcht vor dem Leben, die Andacht, die Freude, die Liebe.
(A.d. Ungarischen v. Kristin Schwamm). Reinbek, 2002.
Diese Sätze machen gleichzeitig eine Zäsur in der Zeit deutlich, die nicht nur bei ihm erscheint. Dennoch erkundeten Schriftsteller die singulären Momente der Fülle. Der große Roman Buch der Erinnerung von Péter Nádas ist letztlich ein Entdeckungsweg, der in die Grenzsituationen höchster Intensität führt und sozusagen In Gottes Hand - so der Titel des sechsten Kapitels - gipfelt.

Die vertikale Achse
Im imaginären Koordinatensystem der neueren ungarischen Literatur lässt sich die vertikale Achse mit der Dichtkunst von János Pilinszky zeichnen. Nicht anders wie bei der Horizontalen (Ottlik) erscheint auch diese Achse nicht nur als Sinnbild. Im Fall Pilinszky`s ist das Bild ein Wandbild: eine mit seinem Vierzeiler vollgeschriebene Wand, die ich vor vielen Jahren in der Wohnung einer Medizienstudentin in Debrecen sah.
In dem Werk des 1981 verstorbenen Dichters und einem der größten theologischen Denker der letzten Epoche in Ungarn vollzieht sich eine sprachliche Wende, die für die ganze ungarische Literatur paradigmatisch ist. Sie läßt sich sogar mit dem Titel eines seiner Gedichte beschreiben: Fest des Tiefpunkts. (Übrigens wurde diese Wendung Teil der Umgangssprache, mindestens unter Gebildeten.)
Bis dahin verwendete Pilinszky in seiner modernen Sprachpoesie ab und zu Wörter, wie auch Wendungen der traditionellen religiösen Sprache. Wie etwa: Der Vater nimmt das Kreuz zurück, / wie einen Splitter, / und die Engel, die Tiere der Himmel / schlagen die letzte Seite der Welt auf.
In den 70er Jahren hat er diese modern rekontextualisierte, gehobene Sprache der traditionellen Religiosität nicht mehr gebraucht. Statt deren bediente er sich der radikalen Einfachheit, wie in der folgenden, einfach als Gedicht betitelten Dichtung: Keine Erde ist Erde. / Keine Zahl ist Zahl. / Kein Buchstabe ist Buchstabe. /Kein Satz ist Satz. / Gott ist der Gott. / Blume ist Blume./ Tumor der Tumor. / Winter ist Winter. /Ein Sammellager ist das eingegrenzte Gebiet ungewisser Form.

Pathos der Ironie
Eine Zäsur zeichnet sich in der neueren Literatur nicht nur sprachlich ab. Es betrifft außer der Wortwahl besonders den Ton. Statt dem Tragisch-Ernsten wurde das Ironische dominierend, nicht unbedingt in der heiteren, eher in der bitteren Version.
An der Ironie des Kontrastes (Hofmanstahl) mangelte es in unserer Region schon in alten k.u.k-Zeiten nicht. Seither gab es in Ungarn davon immer schon Unmengen. Und der Reichtum an Kontrasten wird nicht nur durch Die Ironie der Dinge, sondern auch durch die der Sprache gesichert. Da der ironische Kontrast der Sprechweisen früher durch den pathetischen Nationalismus der sog. "christlichen feudalen Mittelschicht" gegeben war, brauchte der pathetische Sozialismus nur einige Wörter auszutauschen. Der Ton und der Jargon der Wortblasengebilde blieb letzten Endes unverändert und hatte alle öffentlichen Bereiche durchdrungen. Er sickerte sogar in ganz abgelegene Regionen, wie etwa Gebrauchsanweisungen technischer Geräte ein. Der Schriftsteller Péter Esterházy stellte z.B. den folgenden Satz aus dem Begleitheft eines PKWs als Motto vor einen seiner Texte: "Die Bodenhaftung des TRABANTes ist ausgezeichnet, aber es darf einen nicht zu Leichtsinnigkeit verführen".
Esterházy hat mit seinen Büchern nicht nur die "hohe" Kunst der Literatursprache erneuert und deren Enge gelöst, sondern auch einen weitreichenden "Linguistic Turn", eine sprachliche Revolution ausgelöst. Ironie ist nicht eine Sache, die man wählt; heutzutage kann man nicht unironisch sein - sagte er in einem Gespräch. Üzenet (Subotica / Szabadka), 2002/7-9.
Seine ironiereiche Schreibweise hat auch weite Bereiche öffentlicher Diskursmoden durchdrungen; nicht wenige seiner Wendungen wurden "Gemeingut". Die zugespitzte ironische Sichtweise hinderte ihn nicht daran, an angemessenen Plätzen Einschnitte und Übergänge in das Textgewebe zu setzen, wo existentieller Ernst waltet. So z.B. gipfelte sein früher, 1979 erschienener Produktionsroman in einer umfangreichen Fußnote, wo er das Vater unser der Weihnachtsmesse beschreibt - ohne einen Hauch der postmodernen Unverbindlichkeit.
Ähnliches findet man übrigens in der neueren deutschen Literatur auch: erwähnenswert finde ich hier besonders die beiden Romane von Thomas Kapielski: Davor kommt noch; Danach war schon. Spuren von Ironie und Humor lassen sich auch in den Evangelien entdecken, obwohl ihnen im frühchristlichen Gedächtnis wenig Platz gewährt wurde und aus den überlieferten Schriftfassungen fast völlig fehlen. Doch scheint aus dem Jesuslogion darüber, was dem Kaiser gebührt, heute viel mehr göttliche Ironie, als "realpolitische" Anerkennung einer Besatzungsmacht. Wie auch jene Geste, mit der Jesus in den Staub schrieb, in einer der Textolatrie verfallenen Kultur nicht der Ironie entbehrte. Bei seinem feinfühligsten Nachfolger, wie etwa Dietrich Bonhoeffer, findet man entsprechende Resonanz - im Ernst des Gefängnisses machte er die Notiz: Letzter Ernst ist nie ohne eine Dosis Humor.
Die Frage des göttlichen Humors taucht auch in den theologischen Reflexionen bei Imre Kertész auf: Mir erscheint - schreibt er in seinem Tagebuch -, Gott als ein Humorist, ein etwas gnadenloser Humorist, dem die weise, wenn auch beschränkte Güte des wahren Humoristen jedoch nicht fehlt. - Doch das stimmt nicht, denn den Humor haben die Menschen erfunden, gerade wegen der Unzulänglichkeit Gottes; wäre Gott vollkommen und mit ihm das Leben (durchschaubar sowie ohne Tod und Schrecken), gäbe es keinen Humor.
Ein Dosis ernsten Humors hatte auch Esterházy, als er zufällig erfahren mußte, daß sein verehrter Vater - den er in seinem großen Buch Harmonia caelestis fast hymnisch besungen hat - jahrzehntelang als Spitzel des Geheimdienstes tätig war. Sein durch das Lesen der Agentenberichte seines Vaters verursachtes Entsetzen beschrieb er in seinem letzten Buch Verbesserte Ausgabe. Beilage zur Harmonia caelestis. Darin schrieb er u.a. folgendes: Ich mußte so, aus meinem Vater vertrieben, auf Vieles verzichten. Dann auch: Vatertum ist Parodie. (d. im Orig.) Und am Ende des Buches wiederholt er den alttestamentarischen Ton: Ich wurde aus meinem Vater vertrieben. Ich werde aus meinem väterlichem Feld vertrieben. Die Vertreibung aus dem "väterlichen Paradies" hat nicht nur eine persönlich-familiäre Bedeutung, sondern ist auch im übertragenen Sinne bedeutend. Und wird auch literarisch thematisiert - hauptsächlich in den Werken von Imre Kertész.

Vaterfragen
Während unserer Entwicklung lösen wir uns erst von unserer Mutter, später von unserem Vater und zuletzt scheiden wir meistens aus der Familie aus. Diese Evolutionslinie hat ihre Paralelle in der Religionsgeschichte. Das Erwachsen beginnt mit der Loslösung von der (Mutter-)Erde und von den mit ihr zusammenhängenden Kulten. Später, viel später folgen darauf die Wegbewegungen vom Vaterkult. Beide Loslösungen können nie die Verbindung nichtig machen, aber beide sind nötig zum Erwachsen werden. Zum Freiwerden.
Wie in der entsprechenden Phase eines aufwachsenden Menschen zieht sich der Vater zurück, um genügend Freiheit zu bieten, die ein Kind braucht, um Erwachsen zu werden.
In dem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind von Kertész erscheint diese Beziehung nicht bloß als eine historische Perspektive, sondern als das persönlichste Anliegen eines Jeden - mit dem menschlichen Weltverständnis gleichbedeutend: "…dass also das Verständnis der Welt die religiöse Aufgabe des Menschen ist, völlig unabhängig von den verkrüppelten Religionen verkrüppelter Kirchen…"
Unter den heutigen ungarischen Schriftstellern gehen seine Werke am offensten und tiefsten an diese Fragen heran. Bei Kertész hängt die Loslösung vom Vater von der "Vaterkultur, dieser weltumfassende Vaterkomplex", mit der Emanzipation vom Vater-Gott, mit der Emanzipation von der Religion am engsten zusammen - als persönliches Schicksal eines Schicksallosen. Im Kaddisch schreibt er über einen seiner Erzieher: "A.(...) erschien mir später bloß als Übertreibung jener Tugenden, zu denen ich von frühester Kindheit an erzogen worden war (…) A.(...) erscheint mir im Bild des Vaters, ja die Worte Vater und A. erzeugen in mir das gleiche Echo (…) Und wenn es stimmt, daß Gott ein glorifizierter Vater ist, dann hat Gott sich mir im Bild von Auschwitz offenbart.
In seinem nächsten Buch Ich - ein anderer führt er seine theologischen Reflexionen noch weiter:
"Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen. Ich stelle mir eine Theologie vor, die sämtliche schlechten Erfahrungen der Schöpfung zu einer Wissenschaft zusammenfaßt, deren Sprache jedoch von einem göttlichen Stil, von einem metaphysischen Kontrapunkt geprägt ist, aber nur rhetorisch, nicht argumentativ".
Diese unmittelbare theologische Reflexivität ist einzigartig in der ungarischen Literatur. Das Fehlen anderer Stimmen, des Bedenkens des Religiösen solcher Art und auf diesem Niveau hat nicht hauptsächlich persönliche Gründe. Es wird vielmehr von der öffentlichen-institutionellen Religiosität vereitelt. "Die Performanzen des zeitgenössischen ungarischen Paganismus - diagnostiziert der in Cluj / Klausenburg / Kolozsvár lebende Dramatiker-Dichter András Visky - lassen gerade die christlichen (und gläubigen) Stimmen fast verstummen. Das Wort in Sachen Religiosität ist vor allem Frage der Form; das Schwierigste ist jetzt in Ungarn Christ zu sein, natürlich nicht im neopaganen Sinn. In dieser Hinsicht ist in der Literatur die jüdische Tradition und Sprachreserve in einer besseren Lage".
Neuerlich hat Péter Esterházy das Schweigen auf diesem Terrain gebrochen. Sein letztes Buch, das ich schon erwähnte, ist eine Art öffentliche Beichte, ein Soliloquium, womit er die christliche Tradition der Vergebung anregte (A.Visky). Darin kommt auch die sonst tief verschwiegene Frage unseres Gottesbegriffes nach Auschwitz auf. Er fragt - das Buch Jeder ist Judas von Wolfgang Teichert lesend - "Ob selbst Gott nicht Verräter ist? (Auschwitz.) Kein irdischer wie kein himmlischer Vater antwortet darauf. Es ist auch ein Teil des Verrats, dieses Schweigen" .
(Mir scheint übrigens, dass das Schweigen doch nicht so vollkommen ist, wie es Esterházy behauptet, und es gibt einige, die die Frage zu beantworten suchen. Unter denen, finde ich, stammt die bedeutendste Antwort von Paul Ricoeur: "Besonders nah stehe ich den Einsichten von Hans Jonas, wenn wir versuchen den Gottesbegriff nach Auschwitz zu formulieren. Wir müssen die Kategorie der Allmacht aufgeben, denn es ist nicht eine rein religiöse, sondern eher eine theologisch-politische Kategorie. Einerseits wurde die Idee von der Quelle der Offenbarung nach Muster der absoluten politischen Macht geformt, im Tausch wurde dafür diese Vorstellung der Gottheit zur Legitimation der politischen Macht. Demnach dient die Religion dazu, Furcht in den Menschen zu wecken. Am Ende der Drohung ist die Hölle. Man müßte die Gedanken von Allmacht und Hölle gleichzeitig verwerfen und müßte eine andere Konzeption der Macht entwickeln - das wäre die Offenbarung. Man müßte es mit jener Schwäche der Liebe verknüpfen, die sich dem Tode ausliefert. " /Jean-Pierre Changeaux - Paul Ricoeur: Ce qui nous fait penser. La nature et la régle. Odile Jacob, Paris, 1998./)


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