Sex-Appeal des Todes
Der ungarische Minimal-Musiker Tibor Szemzõ
Vor Jahren
empfing mich einmal im Studio von László Hortobágyi
ein unvergeßliches Bild: Im akustischen Aquarium hinter der
Glaswand preßte Szemzõ ein handtellergroßes Taschenradio
an sein Ohr und dreht den Abstimmungsknopf, während er angespannt
in das Ätherchaos lauschte. Ab und zu, wenn er einen geeigneten
Sender gefunden hatte, schwenkte er das Gerät langsam vor dem
Mikrofon. Dann nahm er die Klangquelle (den Klangkörper?) wieder
ans Ohr und setzte die Suche fort... Musik für ein Video entstand.
Natürlich erschöpfte sich nicht der ganze Prozeß des
Komponierens und Interpretierens in diesem Vorgang; daneben erklangen
"reine" Musikaufnahmen, zu denen sich die wohldosierten
Zwischentöne der peripherischen Turbulenzen gesellten. (Dank
er geschickten Handhabung schwebten sie nieder und davon wie magische
Klangvorhänge.)
Dieses Bild gestattet nicht nur Einblick in das Quellenreich von Szemzõs
"angewandten" Tonschöpfungen, sondern spiegelt auch
das kreative Verhalten wider, mit dem er auf die Stimmen, Klangquellen,
Traditionen und Lautsprecheranlagen der Umwelt, des "Hintergrundes",
im weitesten Sinne des Wortes reagiert. Ohne den kontextualen Zwängen
nachzugeben und sich den Postulaten des Milieus, der "Gattung"
zu beugen, geht er frei mit ihnen um, gebraucht er sie schöpferisch
als Fäden seines eigenen Klanggewebes. Diese Auswahl- und Kreuzungsgeste
gilt für die konkreten Töne, Umweltgeräusche und Textfragmente
ebenso wie in bezug auf die verschiedenen musikalischen Traditionen
und geistigen Wirkungen in seinen Werken.
Magnesiumblitze im Bewußtsein
Szemzõ absolvierte ein klassisches Musikstudium als Flötist.
Die ernsteren Richtungen der angeblich leichteren Muse berührten
ihn gleichermaßen wie die markanten Strömungen der Gegenwartsmusik
oder der mannigfaltigen Ethno-Schichten. Ende der siebziger Jahre
musizierte er mit György Szabados in der Werkstatt Zeitgenössische
Musik. Er spielte eine zentrale Rolle in der um 1980 entstandenen
"180er Gruppe" und durch sie bei der Propagierung der Minimalmusik,
der Werke von Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass in Ungarn.
Mit seinem "Wasserwunder 1." (1982) auf der ersten Schallplatte
der Gruppe bewies er bereits, daß er die Stücke der obigen
Autoren nicht nur ausgezeichnet zu interpretieren, sondern auch selbst
Ebenbürtiges zu liefern vermag. Dieses Flötenwerk, benannt
nach einem Kinderspiel, ist nämlich wirklich ein Wunder; ein
Meisterwerk, das die gemeinsame Wellennatur von Wasser und Musik hörbar
macht. (Die der Stille entwachsende Wellenschlange wird durch ein
Aufnahme- beziehungsweise Abspiel-Tonband zu Gehör gebracht,
was mittels Rückkoppelung der Live-Stimme den Aufbau mehrstimmiger
Melodienzüge ermöglicht.)
In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten wirkte Szemzõ bei
verschiedenen Performance-Vorstellungen (Szirtes, Forgács u.a.)
mit; seine diesbezüglichen Erfahrungen bringt er in den verschiedensten
Stücken und Konzerten als belebendes Element ein.
Unlängst erschienen zwei Szemzö-CD: "Ain't Nothing
But a Little Bit of Music for Moving Pictures" und "The
Conscience" (letztere ediert von BBS und Leo Records London).
Die Stücke der ersteren entstanden im Zusammenhang mit laufenden
Bildern von Péter Forgács. Zu Episoden aus der Amateurfilmreihe
"Privates Ungarn" schuf Szemzõ in seiner Musik eine
andere ungarische Privatwelt, die den Bildern keineswegs an Darstellungskraft
nachsteht. Der wahre - zur Entstehungszeit noch unbewußte -Gegenstand
dieser Filme ist nämlich die Zeit, die entschwundene, die Filmoberfläche
schleier-haft durchschimmernde Zeit der ersten Jahrhunderthälfte.
Die Musik, die als lebendiger Kontrapunkt zu diesen Bildern erklingt,
stammt dagegen vom jetzt auslaufenden Jahrtausend. Auch wenn vereinzelt
historische Hinweise enthalten sind - zum Beispiel das Knirschen einer
alten Schallplatte, das eines der schönsten Stükke gegen
Ende überlagert - dringt hörbar eine andere Zeit,
ein anderes Leben, ein anderes Vernehmen durch. In der überwältigenden
Kette der Klangfarben und Nuancen schwirren gemeinsame und persönliche
Bilder der jüngsten Vergangenheit, dicht durchstrahlt von den
unrettbar zu uns gehörenden, schmerzgekräuselten, leid-
wie wonnevollen Tagen des Gestern.
Verzückte Thanatologische Traktate
Die "Conscience"-CD - Untertitel: "Narrative Chamber
Pieces" - enthält einen Querschnitt des Szemzõ-Oevres
aus den achtziger Jahren. Diese Text-Werke befinden sich - wie seine
Musik überhaupt - im Grenzbereich der verschiedensten Traditionen
und Gattungen. Das früheste Stück der Scheibe, "Der
Sex-Appeal des Todes" (1981), entstand nach dem Text eines gleichnamigen
unverständlicherweise bis heute unveröffentlichten!
- Vortrags von Tibor Hajas. Der Text über das Mysterium des Todes
wird von einem Kind vorgelesen, das seine eigene Stimme über
Kopfhörer etwas zeitversetzt wiederhört. Dadurch ertönt
der besonders poetische, auch Pathos und Erhabenheit nicht entbehrende
thanatologische. Traktat angemessen langsam, verzückt. So wird
die Bedeutung der gewichtigen Sätze durchdenkbar, wählend
sie gleichzeitig - infolge des Tonfalls - so fern wirkt wie der ins
Unterbewußtsein verbannte Gegenstand des Vortrags.
Zum Text gesellen sich zunächst die Geräusche eines springenden
Tischtennisballes, dann die langanhaltenden, breiten Töne verschiedener
Instrumente. Ab und zu krachen heffige dissonante Akkorde wie Magnesiumblitze
in die geheimen Schächte des Bewußtseins. Die universell
gültigen Sätze und beängstigenden Melodien lassen die
scheintote ungarische Tiefen-welt, die eisige Furcht und die Grabesstarre
der siebziger Jahre ahnen. (Die von mir gehörten, unterschiedlich
instrumentalisierten und improvisierten Live- Vorstellungen waren
übrigens immer kraftvoller als die Studioversionen.)
In der chronologisch folgenden, fast dreißig-minütigen
"Schädelbasisfraktur" (1984) wird bereits eine ganz
andere Welt hörbar. Aus der Gedächtnisferne einfacher Klavierakkorde
betritt man den akustisch immer konkreteren Raum einer filmartigen,
vom Narrator vorgetragenen Geschichte. Die sukzessiv einsetzenden
Streicher verleihen der immer bizarreren Erzählung anfangs lyrische
Perspektiven. Später erscheint neben dem Textfluß, der
sich dem Dadaistisch-Absurden zuwendet, die allmählich erstarkende
tiefungarische Musik der Zigeunerkapelle von Jenõ Oláh...
In diesem seit der Urfassung beim Plänum-Festival 1984
wesentlich veränderten Stück gelang Szemzõ
das Unmögliche: die Harmonisierung und klingende Vereinheitlichung
des phänomenal bunten Gebietes von der Folklore über den
ständigen Schallschmelz der mediatisierten Welt bis zur Klassik.
Obendrein bilden dabei seine - in diesen Breiten unvermeidlich bittersüß
erlittenen - Gefühle einen gemeßbaren Grundton!
In Anbetracht der Werke auf den beiden früheren Szemzõ-LPs
- "Snapshot from the Island" (1987, Leo Records); "Private
Exits. 8 Soundscapes from the Island" (1989, HPS Records) -sowie
der zum Teil von ihm komponierten und auch auf Platte edierten Filmmusik
zu "Meteo" läßt sich behaupten, daß mit
seinem Namen eines der bedeutendsten musikalischen Lebenswerke des
letzten Jahrzehnts verknüpft ist. Und natürlich die Hoffnung
auf Fortsetzung...
Pester Lloyd
1993