Die Wahrnehmung der Ränder
Heutzutage
erreichen uns nahezu alle Neuigkeiten direkt aus der Mitte: durch
die das Zentrum unserer Sehfelder ausfüllenden Monitore. Neurologen
sind der Auffassung, daß sich damit die Gehirnströme umstellen,
die jahrtausendeland die Wahrnehmung des Neuen begleitet und ermöglicht
haben. Unsere Vorfahren hatten sich nämlich während ihrer
Streifzüge durch unbekanntes Gelände und der an Lagerfeuern
verbrachten Zeit daran gewöhnt, daß neue Entwicklungen
stets am Rande ihres Gesichtsfeldes auftauchten. Dem Auftauchen von
etwas Neuem folgte dann stets die Wendung des Kopfes und die Konzentration
der Aufmerksamkeit darauf. Dies stand schon allein im Interesse der
Selbsterhaltung.
"Während Informationen aus der Mitte des Sehfeldes direkt
zum Großhirn geschickt werden,"- erklärt der Gehirnforscher
Detlef B. Linke - "kommen Informationen aus dem Rand des Sehfeldes
zunächst in Stammhirnregionen, die dann eine Orientierungsreaktion
einleiten." Der Kopf wird der neuen Information zugewandt, und
das Gehirn unternimmt eine Detailanalyse. Beim Fernsehen entfällt
diese Orientierungsreaktion."
Die Wirkung des Ausbleibens der die Umorientierung auslösenden
Reaktion zeigt sich auf immer mehr Gebieten. Nicht nur im Abflauen
unserer körperlichen und geistigen Bewegtheit im Angesicht von
immer neuen Erscheinungen, sondern auch in den stärker werdenden
alltäglichen Formen der Konformität, im zwanghaften Befolgen
übertragener Muster. Die Symptome des Drangs zur Mitte zeigen
sich auch in Schichten, deren Vertreter schon allein wegen ihrer gesellschaftlichen
Stellung, den Blick für die Ränder und das, was dahinter
liegt, geschärft haben.
Beginnend mit der klassischen Moderne stellte die Kunst die abgelegendsten
Ränder in den Mittelpunkt unseres Interesses; brachte bisher
für peripher gehaltene Probleme in die Ausstellungsräume
der Stadtzentren, in unsere geistigen Zentren. So die abgerissene
Wahrnehmung im Kubismus oder - in unserer jüngstenVergangenheit
- die vorstadtbedeckenden Graffittis. Die jetzige Eingebundenheit
der Kunst und ihr Hang zum Technizistischen begünstigt nicht
gerade ihre Sensibilität für Prozesse, die sich am Rande
abspielen.
Die Erwartungen der Wirtschaft und der Institutionen läßt
die Mitte wünschenswert erscheinen. Das schon bewährte,
die wiederverwendbaren Formen und Modelle der Vergangenheit. Die Kommunikationsnetze
nähren indessen den Glauben, daß es keinerlei Ränder
mehr gibt, alles in gleicher Entfernung, nur eine Armlänge von
uns entfernt sei: inmmitten der Monitore. Doch nicht erst einmal wurde
klar, daß das, was scheinbar in der Mitte liegt, in Wirklichkeit
am weitesten von allem entfernt ist. Eigentlich nur eine mittelmäßige
Substanz ist und uns beim Lavieren zwischen verschiedenen Extremen
nur in flaches Wasser führt.
Um zu zeigen, daß auch das Gegenteil möglich ist, bietet
die kürzlich stattgefundene Ausstellung "Mit eigenem Auge/Inside
Out" ein gutes Beispiel. Sie zeigt, daß die laue Welt der
Relativitäten mit entschiedenen Feststellungen und Standpunkten
konfrontiert werden kann. Von der Art, wie: "Dieses Bild zeigt,
daß es noch Werte gibt." Diese Feststellung stammt übrigens
nicht von einem Bildenden Künstler oder von einem sich mit der
Theorie der Werte auseinandersetzenden Philosophen, sondern von einem
Obdachlosen.
Diese Unterschrift - und das dazu gehörende Foto - ist Teil einer
Arbeit, die Dominic Hislop und Miklós Erhardt vor einem Jahr
begannen: Sie gaben Budapester Obdachlosen Ein-Weg-Fotoapparate, womit
sie sich mit eigenen Augen umhersehen sollten. Die Ergebnisse dieses
Experiments wurden - zusammen mit den Kommentaren der Fotographen
schließlich in der Budapester Lajos Galerie ausgestellt. Erklärte
Absicht der beiden Künstler war es jedoch nicht, ein exotisches
Thema darzustellen. Schließlich ist die Obdachlosigkeit heute
mit Ausnahme vielleicht von Japan, von Calcutta bis Californien eine
Massenerscheinung. In New York ist jeder 200. Bewohner obdachlos,
womit die Stadt in der Elendsstatistik noch vor Calcutta und Kairo
liegt...
Die ungarischen Obdachlosen unterscheiden sich von anderen durch gewisse
Besonderheiten. U.a. durch ihr enormes Wachstum seit der Wende. Der
Soziologe Gábor Iványi erwähnt in seinem Buch "Obdachlose"
mehrere Gruppen. Da sind zum einen die, welche aus wirtschaftlichen
Gründen auf der Straße gelandet sind. Dann die Opfer der
allgemeinen Verarmung. Und schließlich die Leidtragenden des
mangelhaften und überlasteten Sozialsystems. Die Konsequenzen
der Vielfalt der Obdachlosen berühren nicht nur die Institutionen,
die zur Linderung ihrer Not geschaffen worden sind, sondern spiegeln
sich auch in ihrer Beurteilung durch uns wieder. In dem Befremden,
das ihr Äußeres und ihre Lebensweise in uns auslöst
und in dem die sozialdarwinistischen Ideologie des Freien Marktes
bereits ihren Niederschlag gefunden hat.
In den Räumlichkeiten der Ausstellung ist eine zufällige
Zusammenstellung der Fotos von verschiedenen Obdachlosen zu sehen.
Dabei weichen sowohl die dargestellten Themen als auch die Gesichtspunkte
von dem Gewohnten ab. Gezeigt wird die gesteigerte Sensibilität
der in extremer Lage lebenden Obdachlosen, aber auch ihr scharfes
und komplexes Wahrnehmungsvermögen. Dieses spiegelt sich auch
in den Kommentaren zu den Fotos wieder. Die Ausstellung ermöglicht,
daß sich die an verschiedenen Enden der Gesellschaft lebenden
Obdachlosen und die Betrachter begegnen können. Im Gegensatz
zur postmodernen Salonkunst ist diese Ausstellung eine wahre Entdeckung.
Einer der neuzeitlichen Nomaden spricht es aus: "Es gibt noch
Werte auf der Welt. Man muß nur den Dreck von ihnen abklopfen
und sie werden wieder sichtbar."