Sehnsucht und Souveränität

oder Die Kunst als Dienstleistung
Von József A. Tillmann

Das fiktive Bild, die sich im Kopf abspielende bildende Kunst ist eine anthropologische Errungenschaft. Schon der "Homo pictor" vor 600 000 Jahren verstand sich aufs bildnerische Gestalten - sonst könnten wir uns jetzt nicht darüber auslassen. Das vielschichtige und langwierige Zusammenspiel von Hirn und Hand, von Phantasie und Ausführung formte den Menschen. Es verfeinerte seine Fingerfertigkeit, förderte die Entfaltung seines Verstandes und ließ all dies schließlich im Gesicht zur Geltung kommen.
Das Bild, das man sich vorstellt, ist selten mit dem verwirklichten identisch. Doch beide tragen Spuren des anderen: Das Bild bewahrt die Umrisse der Idee, ergänzt durch die Abweichungen während der Umsetzung, durch die Erfolge und Mißerfolge beim Kampf mit der Realität. Diese Zweiseitigkeit hat nach wie vor Gültigkeit, wenn auch ziemlich verschüttet. Wer seine Vorstellungen, das Ersehnte verwirklichen möchte, ist auch heute unvermeidlich mit den sperrigen Tatsachen der Welt konfrontiert: dem Material, den Umständen, dem sozialen Geflecht der Umwelt.
Die verwirklichten Vorstellungen unterscheiden sich von den Wunschbildern, weil man ihnen den Arbeitsaufwand, die mühsame, zögerliche Ausführung, die zwischenzeitlichen Abänderungen anmerkt. Wunschbilder sind "rein", sie enthalten nichts vom Desaster der Begegnung mit all den Reflexionen der Wirklichkeit.
Unlängst beschlossen drei ungarische Künstler - Gábor Bakos, Antal Lakner und Imre Weber -, die Wunschwelt der Gegenwart mit einer Posterserie, betitelt "Sehnsucht", zu erschließen. Sie verarbeiteten keine eigenen Vorstellungen von den Sehnsüchten anderer, sondern betrieben "demokratische Kunst": Mit fast schon demoskopischen Methoden forschten sie nach dem Objekt der Begierde unserer Mitmenschen, um diese Gelüste später bildlich darzustellen. Sie fragten die unterschiedlichsten Typen: "Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, völlig frei, welche wären das? Anhand Ihrer Antwort möchten wir Sie dann in Ihrem erfüllten Wunschbild vergegenwärtigen." Nach dem Abhören der Tonband-Antworten entwarfen sie schließlich die Bilder beziehungsweise die zunächst erforderlichen Teilbilder.
Die fertigen Wunschbilder verwandelten sich in großformatige digitale Drucke, wobei die Leute mit ihren Sehnsüchten zwischen den Phantasiegebilden auftauchten. So erschienen die drei märchenhaften Wünsche in einer leicht modifizierten Version: als ein einziges, sehr spektakuläres Verlangen - kein Problem im Zeitalter der technischen Vervielfältigung von Wunschträumen. Mittels Computer ließen sich die Fotos der Befragten recht glatt in das Bild der ersehnten Situation einfügen.
Eine solche visuelle Soziologie der Sehnsüchte führte zu widersprüchlichen Resultaten. Die Bilder der Wünsche, erstellt nach den "Tiefeninterviews", brachten ziemlich gängige Topoi zutage, zum Beispiel das Partnerverlangen, den "Richtigen" zu finden, als lückenlose Realisierung beim Anblick von Hochzeitskleiderwerbung. Den Wunsch einer Psychologin, mit ihrem Buch ("Children of Social Trauma") ähnlich streitbar wie Filmplakatfiguren gegen Kindheitstraumata anzukämpfen. Die kindlich-offene Lustphantasie eines Künstlers, einfach nur Kinoheld zu sein, oder das Begehren seines Kollegen, auf einer mentalen Reise in andere Persönlichkeiten, andere Rollen zu schlüpfen. Ein Dichter möchte in einem idyllischen mediterranen Hafen in einem Boot sitzen und dem Plätschern der Wellen lauschen. Ungewöhnliches formulierte lediglich eine Kosmetikerin: nach ihrem Tod sollen andere Menschen mit ihren Organen weiterleben.
Wünsche entstehen, nehmen bildliche Gestalt an und warten auf ihre Erfüllung. Auch Künstler haben Sehnsüchte, suchen ihren Platz in der gemeinsamen (Wunsch-)Bilderwelt. Nach dem Ende der Avantgarde wirken die heutigen Bestrebungen wesentlich bescheidener. Während die meisten Künstler in der klassischen Moderne als einsame Freiheitskämpfer auftraten, sind sie jetzt eher in der Kunstindustrie oder anderem Gewerbe integriert. Da Person und Rolle nicht unbedingt korrespondieren, versuchen sich die Künstler eher in verschiedenen Formen der Distanz. Diese Zweiseitigkeit manifestiert sich auch in der "Sehnsucht"-Serie: angebotene Dienstleistung zum einen und ironische Durchführung zum anderen. Erst werden umsichtige Fragen gestellt, man erkundet die Nachfrage und "beflügelt" die Phantasie der Klientel. Dann wird zwar das "maßgeschneiderte" Bild geliefert, doch dessen Individualität geht durch Dimension, Gattungscharakter und potentielle Präsentation im öffentlichen Raum gleich wieder verloren. Seine unsichtbaren Gänsefüßchen enthüllen die intimste individuelle Vorstellung, das angeblich extremste persönliche Verlangen als banale Dutzenderscheinung.
Derartige Ausbruchserscheinungen sind nicht ungefährlich für die bildende Kunst, also auch für die Fotografie. Obgleich sie die traditionelle Ordnung der angewandten Kunst umkehren und - zwar nicht spektakulär, aber energisch - den früheren Auftraggeber ablösen, hat diese Entwicklung doch auch ihre Kehrseite. Eine derartige Bezugnahme, stillschweigende Hintergrundverwertung des Posters, des Riesenplakats, der Werbebranche kann leicht ins Gegenteil umschlagen: Aus der Absicht, die künstlerische Freiheit auszudehnen, werden Gefälligkeiten für den technischen und ökonomischen Apparat. In diesem Fall gilt ganz besonders, was der "Philosoph der Fotografie" Vilém Flusser schreibt: "Es gibt ein paar Menschen, die gegen die automatische Programmierung kämpfen: Fotografen, die versuchen, informative Bilder herzustellen, das heißt Fotos, die nicht zum Programm der Apparate gehören. Doch die Apparate assimilieren diese Befreiungsversuche automatisch und bereichern ihr eigenes Programm mit ihnen."
Die "Sehnsucht"-Serie verblieb in der Kunstszene, wurde als Ausstellung oder Teil davon gezeigt. Das jüngste Budapester Gigantposter-Projekt, das gewissermaßen eine Fortsetzung dieser Serie bildet und wiederum von Gábor Bakos mitinitiiert wurde, ist nun aus dem institutionellen Kunstrahmen auf die Straße, ins kommerzielle Milieu umgesiedelt. Diese "Sezession" verläuft eindeutig und erfolgreich - jedenfalls für die Nutznießer der Werbung. Dadurch können sie im Wettkampf um die Blicke der Passanten mit mehr künstlerischer Invention und allgemeiner Beachtung rechnen.
In Sachen Sehnsucht und Wunschtraum hat die Kunst freilich auch andere Möglichkeiten. Auf diesem Gebiet liefert die Hirnforschung aufschlußreiche Einsichten. Da es seit einigen Jahren möglich ist, geistigen Vorstellungen nicht nur Gestalt zu verleihen, sondern Vorgänge im Gehirn durch bestimmte Verfahren auch sichtbar zu machen, können wir mit den Bildern und Wunschbildern ausgeglichener umgehen. "Zum Balance-Halten gehört die Fähigkeit, Impulse zu unterdrücken, die das Gleichgewicht der Welt und der Psyche gleichermaßen zerstören können", schreibt der Hirnforscher Detlef Linke in seinem neuen Buch "Gehirn". "Wichtig hierfür sind frontale Hirnregionen, die bei der Unterdrückung von z. B. störenden visuellen Informationen trainiert werden können. Trainiert man seine Augen darauf, einem bildhaften Impuls gerade nicht zu folgen, so übt man eine Kraft geistiger Souveränität."


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