Das Tor zum Netz

Was ein Nürnberger Künstler in Budapest zeigt
Von József A. Tillmann

Technische Kommunikation gibt es, seit sich das Zusammenleben etwas komplexer gestaltet. Von da an setzt der Mensch Zeichen, die über seine unmittelbare Anwesenheit hinausgehen. Er nutzt nicht nur elementare Gegebenheiten wie Stimme und Gesten, sondern verwendet auch technische Mittel, wobei größere Entfernungen dereinst natürlich anders überbrückt wurden als heute. Neben den bekannten Rauchzeichen der Indianer verständigten sich unsere Ahnen mit recht merkwürdigen, manchmal sogar ziemlich blutigen Methoden.
In Sachen Informationsträger waren die einzelnen Kulturen außerordentlich erfinderisch. In China versteckte eine Dame eine Botschaft an ihren Geliebten in einem gespaltenen Pfeil. Beim antiken Militär diente der Mensch selbst als Interface, die Haut als Desktop. Der geschorene Schädel wurde tätowiert, und das nachwachsende Haar verbarg das Geheimnis vor dem Feind...
Als Vorläufer der Datenübertragung per Satellit schickte man schon im Altertum Botschaften in höchste Höhen - wie beim Vater der Geschichtsschreibung, Herodot nachzulesen:
Die Geten halten sich für unsterblich und glauben, nach ihrem Tod vor Gott Zalmoxis zu treten. Alle fünf Jahre wählen sie einen der Ihren per Los aus und entsenden ihn zu Zalmoxis, um ihm ihre Wünsche mitzuteilen. Dabei gehen sie folgendermaßen vor: Drei Männer halten ihre Speere hoch, während die übrigen den Erwählten an Händen und Füßen packen und auf die Speerspitzen schleudern. Bohren sich diese in seinen Körper und stirbt er, offenbart dies Gottes Gnade. Stirbt er nicht, ist er sicher ein schlechter Mensch, so daß ein anderer geschickt wird, dem man die Botschaften aber noch zu Lebzeiten anvertraut.
Mittlerweile bedient sich die Kommunikation anderer Mittel und fordert weniger Opfer, was nicht nur den technischen Veränderungen, sondern auch dem Verständnis der Medien zu verdanken ist. Möglicherweise hätten die Geten in Kenntnis des so betitelten Werkes (Understanding Media) von Marshall McLuhan, dem kanadischen Klassiker der Medientheorie, durch den Verlust von weniger Menschen ihr Aussterben vermeiden können. Ihre spezifische Mitteilungsmethode untermauerte zwar wortwörtlich den geläufigen Grundgedanken the medium is the message, doch diese Tatsache dient höchstens uns zur Lehre. Hätten sie ihre Sendetätigkeit mit etwas mehr Abstand, aus der Perspektive der Reflexion in Augenschein genommen, wären sie sicher auf andere Mittel verfallen. Sie hätten nicht einmal die Feedback-Theorie gebraucht, um Zweifel an der Effizienz ihrer Kommunikation zu bekommen. Es hätten Thesen genügt, die das Wie der Berührungsversuche mit den höheren Mächten ermitteln. Man beginnt zufällig, Modelle zu bauen und die Betriebsfunktion der Beziehung darzustellen. Mit derartigen Modellen wartet traditionell die Kunst auf. Sie vergegenwärtigt. Sie stellt nicht nur das Sichtbare dar, sondern vermag auch, bislang Ungesehenes sichtbar zu machen.
In der griechischen Mythologie vermittelt ebenfalls ein Bote zwischen Göttern und Menschen, allerdings anders als bei den Geten. Hier ist der Überbringer selbst ein göttliches Wesen: Götterbote Hermes. Zum Ausdruck seiner Schnelligkeit tragen die anthropomorphen Skulpturen des antiken Gottes der Kommunikation kleine Flügel. Flügel sind auch die wichtigsten Merkmale der Engel, der Mittler im jüdisch-christlichen Kulturkreis. Angelos, der "Bote" ist - auf den meisten Darstellungen - ein körperloses Flügelwesen. Über die Zahl der Federn an den Flügeln gab es im späten Mittelalter zwar Debatten unter den Scholastikern, aber die Körper- und Geschlechtslosigkeit der Engel stand stets außer Zweifel.
Diese drei Fälle des Kontaktes zwischen menschlichen und göttlichen Dimensionen veranschaulichen gleichzeitig drei Phasen bei der Entwicklung und Deutung der Kommunikation. Vom direkten, konkreten und lebendigen Träger - durch den menschlichen Scheinkörper - bis zu den nur durch ihren Flügelschlag wahrnehmbaren, sozusagen dimensionslosen Mittlern. Dieser Prozeß weist in Richtung Immaterialisierung und Abstraktion. Daher auch die Spannung in der christlichen Ikonographie: der krasse Gegensatz zwischen dem Theologischen des körperlosen Engelsboten und seiner Darstellung als geflügeltes Wesen.
Beim Medium hängt die Physik mit der Metaphysik zusammen, das Körperliche mit dem Körperlosen, das Materielle mit dem Immateriellen. Doch ihr Zusammenhang läßt sich nicht als gerade Proportion beschreiben. Eher im Gegenteil: Je komplexer, konzentrierter, schneller die Kommunikation durch den Mittler erfolgt, desto weniger verbreitet, konkret und anschaulich ist sie. Die moderne Telekommunikation tritt also nicht nur das Erbe einer engelberührten Kultur an, sondern wird immer wieder mit deren Grundmerkmal konfrontiert: dem Konflikt zwischen der Unsichtbarkeit, dem Wunsch zu sehen und der Einsicht.
Ablauf und Umfeld der Kommunikation, die Beschaffenheit der Medien werden erst seit einigen Jahrzehnten erforscht. Dabei geht es hier um einen keineswegs belanglosen Faktor der zwischenmenschlichen, gesellschaften Beziehungen, da "das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert" (McLuhan). Seit den Sechzigern wächst das Interesse an der Medienforschung. Davon künden neben etlichen wissenschaftlichen Untersuchungen und medientheoretischen Aspekten auch immer mehr künstlerisch anspruchsvolle Arbeiten. Diese technologisch neuartigen Werke - von Video bis web-site - nutzen die neuen Mittel nicht nur, sondern hinterfragen ihre Betriebsfunktion, sprengen ihre Grenzen, zweifeln ihren "betriebsmäßigen" Gebrauch an. Dazu brauchen sie keinerlei Anweisung, weil die Herausforderung nicht von außen kommt, geht es doch um ihre Instrumente, ihren Rohstoff, ihre Tätigkeit.
Der in Nürnberg lebende Ungar Botond setzt sich seit den achtziger Jahren intensiver mit dem Medium Kommunikation auseinander. Zunächst näherte er sich dem traditionellen Datenträger Buch - recht unkonventionell: Er versah Bücher mit Metall- und Betondeckeln. Die vieltausendbändige (Alexandrinische) "Bibliothek" zeigt das fragliche Medium als Fund, reflektiert auf seine Verderblichkeit, enthüllt sein gespanntes Verhältnis zwischen Material und Geist, seine Verletzbarkeit, seine räumlich und zeitlich begrenzte Speicherkapazität.
Aus heutiger Sicht wirken die achtziger Jahre wie ein Wendepunkt vom analogen zum digitalen Zeitalter. Damals wurde der Computer breiteren Kreisen zugänglich, und das rückte alle bisherigen Medien, so auch das Buch, in ein neues Licht. Botonds "Tor" entstand im Jahr 2000, nach der massiven Computervernetzung, und bietet eine andersartige Reflexion auf ein anderes Medium. Im Gegensatz zur "Bibliothek", deren Aufbau durch Aktivitäten wie verhüllen, verpacken, verbergen und bewahren erfolgte, realisiert er hier Schritte wie herausschälen, auspacken, sichtbar machen. In der Zwischenzeit veränderte sich nicht nur das kommunikative Umfeld, sondern mit den neuen Medien kamen auch neue Muster. An die Stelle der linearen Ordnung von Buch und Bibliothek - Zeilensatz und Bücherregal - traten Netz und Netzwerk. Herkömmliche Schriftträger sind von stattlicher Statur: Sie haben Gewicht, Farbe, Geruch, Umfang, können ganze Häuser füllen. Im Vergleich dazu ist das Computernetz fast schon körperlos, immateriell und verliert sich als winziger Punkt in der Ferne. Botonds Plastik macht das eigentlich unsichtbare Netz in einem Geflecht verzweigter und verknüpfter Metallfäden sichtbar. Diese Struktur ist weder regelmäßig noch hat sie bestimmte Formen. Gestalt nimmt sie nur dadurch an, daß sie das Muster des Netzes mit dem Bild des Tores kreuzt. Eine transparente Arbeit, die Durchblick verschafft, die den Betrachter hindurchsehen und dadurch zur Einsicht kommen läßt.


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