Gesichter und Verhältnisse

J. A. Tillmann

 

Die Fotografie ist im Grunde die Hervorhebung eines Raumdetails aus dem Zeitprozess. Ein Teil der gesehenen Vollständigkeit wird ausgeschnitten und ohne die Möglichkeit der Veränderung, im Moment seiner Endgültigkeit gespeichert. Im Vergleich dazu sind die jeweiligen Techniken des Fixierens, die verschiedenen Verfahren, die analoge oder digitale Methode von zweitrangiger Bedeutung. Ausschlaggebend ist, dass die Abbildung infolge eines Ausschnitts zustande kommt und unverändert bleibt.

Die Welt und ihre Perzeption ist grundsätzlich eine Frage der Verhältnisse. Für uns eröffnen sie sich in den Relationen, die sich zwischen Nähe und Ferne, dem Außen und Innen sowie dem Begreifbaren und Unerreichbaren bewegen. Die Fotografien tragen zur Wahrnehmung dieser Proportionen bei. „Die Lust an der Fotografie hat vielleicht damit zu tun“, stellt Kapielski berechtigterweise fest: „Aus der Gesamtperspektive, vom Rundblick des Sinns her betrachtet, ist die Welt ziemlich enttäuschend. Im Ausschnitt und aus überraschenden Blickwinkeln gesehen, ist sie vollkommen einleuchtend.“1

 

Die Natur im Ausschnitt

 

Aufgrund des oben Gesagten ist die Naturfotografie eine wahre Freudenquelle: Die Auswahl der Blickwinkel und Ausschnitte kann auch dann noch „erhellende“ Bilder hervorrufen, wenn sie nicht die Exotik irgendeiner fernen Landschaft, sondern die gewohnte (das heißt für gewöhnlich nicht einmal einer Bemerkung würdigen) Gegend zum Thema hat. Manchmal wird das von dem einen oder anderen Gegenstand, der in eine natürliche Umgebung platziert wurde, oder durch den kulturellen Kontrast betont. Bei dem Bild von Gabriel Orozco wurde nur ein Ball zwischen die Baumstämme hineingelegt, doch wegen des Vorhandenseins dieser absolut geometrischen Figur, der perfekten Kugelform – die in der Natur eigentlich nicht vorzufinden ist – wurde die Waldumgebung quasi in Anführungszeichen gesetzt. (S. ) Er hebt den ansonsten vertrauten Anblick als einen quasi negativen Rahmen hervor. Auf den Bildern des kanadischen Künstlers Rodney Graham sind ebenfalls alltägliche Gegenstände aus der Natur zu sehen, aber in einer ziemlich unüblichen Weise, nämlich „auf den Kopf gestellt“, weshalb sie nahezu als Forminnovation wirken. (S. )

Olafur Eliasson zählt zum anderen Grundtypus der Naturfotografen. Seine Fotos sind von besonderen Farben und Lichtern, selten zu beobachtenden himmlischen und irdischen Phänomenen gekennzeichnet. (S ) Auf seinen Bildern ist der Standpunkt oft fraglich, es ist nicht zu entscheiden, ob eine mikro- oder makroskopische Perspektive, eine Luftaufnahme zu sehen ist, oder ob sich in der Faktur einer Eisscholle die Umrisse eines unbekannten Erdteils abzeichnen. Lediglich der unerhörte Formenreichtum, die Größe und Erhabenheit der natürlichen Gebilde können nicht in Zweifel gezogen werden.

Auch die Gegenden, die durch die umweltzerstörenden Eingriffe der Menschen verunstaltet wurden, weisen eine Erhabenheit der Natur auf. Die Bilder von Inge Rambow zeigen die verschiedenen – seitdem zum Großteil rekultivierten – Schauplätze des Braunkohleabbaus im Tagebau der ehemaligen DDR. (S. ) Diese Abbaumethode führte zu an die Urzeit der Erde erinnernden, öden geologischen Formationen, in die sich die Muster der maschinellen Erdarbeiten mischten. Aber die Zeit begann das Bild dieser „industriellen Landschaften“ bereits kurz nach der Aufgabe des Bergbaues zu „korrigieren“: durch die Spuren der Auswaschungen und der Erosion, durch die Seen, die sich in den Vertiefungen ansammelten, durch die Bäume und Sträucher der lebenden Natur.

Die einfache Schönheit der Stoffe und Formen der Natur kommt auch im Fall der Werke zum Vorschein, wo sie nur einen Teil der Umgebung darstellen, wie zum Beispiel bei den Arbeiten von Mario Merz. (S. ) Die Arte povera hat nicht zuletzt den Reichtum, der in der „Armut“ der Natur steckt, entdeckt und sie durch den Kontrast zum White Cube des Ausstellungsraumes wahrnehmbar gemacht.

 

Das Bild des unfassbaren Körperteils

 

„Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit.“2 Diese gewichtige Feststellung, deren Gültigkeit kaum zu bestreiten ist, stammt von André Bazin, dem Ontologen der Fotografie. Vor allem wenn der Fotoapparat entsprechend seiner „Bestimmung“ funktioniert, das heißt die Vorschrift des Programms erfüllt, ist der Mensch höchstens ein Nebenumstand. (Er hat den Apparat gekauft, und an einem entsprechenden Ort und aus einem bestimmten Anlass betätigt – „Hier muss man draufdrücken und schon ist das Foto fertig.“) Im Gegensatz dazu schreibt Vilém Flusser über ein „Modell der Freiheit“, über die künstlerische Ausübung der Fotografie: „Es gibt ein paar Menschen, die gegen die automatische Programmierung kämpfen: Fotografen, die versuchen, informative Bilder herzustellen, das heißt Fotos, die nicht zum Programm der Apparate gehören.“3

Dies trifft in erster Linie auf die Porträts zu. Bei Menschenbildern steht nicht gerade wenig auf dem Spiel: Es muss eigentlich das abgebildet, vergegenwärtigt und hervorgerufen werden, was nicht zu sehen ist, nämlich die Person. Das Wesentlichste dabei ist die Seele, auf dem Spiel steht „der unbegreifliche Körperteil des Menschen [J. K. Armin].“ Der „Spiegel“ der Seele sind aber – entgegen dem Gemeinplatz – nicht die „Augen“, sondern er ist das Gesicht. Ist auf einem Foto nur der Ausschnitt der Augen sichtbar, dann können sie so gut wie jedem gehören. Nur die Gesichtszüge um die Augen herum zeigen die Person, nicht aber die Augäpfel, auch wenn sie an und für sich sehr schön, farbig und tiefblickend sind. Das Werk Selbstporträt von Mapplethorpe stellt diese Grenzsituation dar. (S. ) Er dokumentiert das Gesicht aus der nächstmöglichen Entfernung. Der Ausschnitt beginnt bei den Augenwinkeln, wo das Gesicht noch ein Gesicht ist. Obwohl er zwar nur ein Detail des Gesichts festhält, enthält es trotzdem die gesamte Persönlichkeit: ihre Miene, den durchdringenden Blick, den Verlauf der Muskulatur im Gesicht, welche die Augen bewegt und die Fokussierung hervorruft, zudem ist die Bemühung um Konzentration an den Runzeln der Stirn zu erkennen. Die Aufnahme ist nicht bloß das Bild eines Organs oder die der Untersuchung eines Objektes, sondern die eines Menschen, auf dem seine Persönlichkeit erscheint. Deshalb meint Lévinas, dass „was das Spezifische eines Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt“, und dass „der Zugang zum Antlitz von vornherein ethischer Art ist.“ Der Mensch und insbesondere sein Gesicht ist kein Gegenstand unter den Gegenständen: „Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu.“4

Die Aufgabe, vor die der Porträtfotograf gestellt ist, wird außerdem dadurch schwieriger, dass er sie inmitten der inflationären Menge an Menschenbildern und einer Homogenisierung des Schönheitsideals lösen muss: „Wesentliche Parameter der Schönheit eines Gesichtes werden in dessen Universalisierbarkeit gesehen“, schreibt der Hirnforscher Detlef B. Linke, „da wir in immer mehr Gesichter schauen, wird das Schönheitsideal immer allgemeiner.“5

Die Lösungen – die Möglichkeiten der künstlerischen Freiheiten – sind zahlreich.

In der Serie Liquid Crystal demonstriert Marie-Jo Lafontaine eine der Möglichkeiten , denn diese Jugendliche versuchen offensichtlich mit der Kreierung eines eigenen „Erscheinungsbildes“ gegen das vorherrschende Schönheitsideal anzukämpfen. (S. ) Gottfried Helnwein geht in seiner Reihe Faces einen anderen Weg. (S. ) Die Porträtierten müssen kein Erscheinungsbild gestalten, denn sie sind bereits „Gesichter“, solche Persönlichkeiten, die auf irgendeinem Gebiet, in einem Bereich der Kunst oder in einer Gemeinschaft Spuren hinterlassen haben. Diese Spuren finden sich nicht nur in ihren Lebenswerken, sondern auch auf ihren Gesichtern: Es sind markante Gesichtszüge, die von der grellen Belichtung, von der unbeschönigenden Betrachtung der Kamera verstärkt werden. Deshalb kann auch eines der Modelle von Helnwein, William S. Burroughs, sagen, dass seine Bilder das „überraschte Erkennen“ ermöglichen.6

Die Bilder eines anderen Realisten, nämlich von Andy Warhol – der „größte Realist Amerikas“ (Barbara Rose) –, stechen durch ihre gattungsmäßige Vielfalt hervor. (S. ) Es gibt „ordentliche“ Bilder, die sogar an Nachrichtenagenturen verkauft werden könnten, Reportagefotos guter Qualität (von Johannes Paul II.), dann wiederum solche, die aufgrund ihrer Zufälligkeit und technischen Anspruchslosigkeit auch als Familienaufnahmen von Amateuren gelten könnten. Einige andere könnten auch auf der Pirsch nach Prominenten von professionellen Paparazzis gemachte Schnappschüsse sein, auf welchen die Situation der Personen, der Ausschnitt und die Belichtung (manchmal mit Blitzlicht) in erster Linie die eilige Anfertigung der Aufnahme erkennen lassen.

All das kann natürlich einer beabsichtigten Nachlässigkeit zugesprochen werden, denn ein Teil der Promis war Besucher in der Factory, und wer die Sphäre Warhols betrat, wurde ersucht, sich vor den Fotoapparat zu stellen. Deshalb sind die Fehler, die schlechte Qualität, wenn auch nicht ursprünglich gewollt, doch im Nachhinein belassen worden, da vor und hinter der Kamera Berühmtheit das zentrale Kriterium war. An der späteren Entwicklung des in der Pop Art allgemein gewordenen „anything goes“ zeigt sich schon die postmoderne Beliebigkeit.

Das Selbstporträt von Warhol ist ein Doppelspiel der Verbergung und Sichtbarmachung: hinter einer in die Höhe gehobenen Pistole, aber doch mit den charakteristischen Merkmalen des Gesichtes und der Haare, mit dem für ihn bezeichnendsten Gegenstand, einem Aufnahmegerät (das er immer mit sich trug und weshalb er in der Szene als „Recording Angel“ bezeichnet wurde). (S. )

Doch einige Porträts könnten auch als „maskierte“ Selbstbildnisse angesehen werden, wie zum Beispiel das von Truman Capote, den Warhol im Liegen zeigt. Der geheim gehaltene Wohnsitz von Warhol, wohin er sich von Zeit zu Zeit zurückzog, hätte eine solche Umgebung sein können: im amerikanischen Biedermeierstil eingerichtet, aber wahrscheinlich weniger häuslich als der von Truman Capote.

Richard Avedon erwies sich mit seiner Reihe In the American West, die er 1979 angefertigt hat, im Vergleich zum größten Realisten Amerikas als ein noch größerer Realist. (S. ) Er begab sich an entlegene Orte in den Weiten von Amerika, um Menschen, die mit Rohmaterialien arbeiten, in ihrer eigenen rauen Direktheit zu fotografieren. Avedon erschuf mit seiner Fotoserie, wie sein Vorgänger August Sander mit dem großen Tableau Antlitz der Zeit – Menschen des 20. Jahrhunderts, ein wahres Panorama des Menschen ohne Maske.7

 

Seydou Keita hat jahrzehntelang in Bamako seine Porträts und Gruppenbilder geschaffen. Da die Zeit in Mali damals langsam verging, bestand auch die große Tradition der Studiofotografie, die auf die Malerei zurückgeht, länger als anderswo. Vielleicht erscheint Keitas Fotografie deshalb wie etwas Neues. Seit ihrer „Entdeckung“ in den 1990er Jahren sind ihre reiche Muster- und Formenwelt der lokalen Trachten – die Bildkomposition der Menschen und Gegenstände sowie die Gesamtheit der menschlichen Haltungen – in der zeitgenössischen Bilderwelt als eine besondere Zeitinsel präsent. (S. ) Nach eigenem Bekunden arbeitete Keita ähnlich wie die alten Fotografen mit großer Sorgfalt : “Ein Foto zu machen ist leicht, ich wusste dagegen immer, wie man die Leute in die richtige Position bringt, und ich lag nie falsch. Der leicht gedrehte Kopf, ein ernstes Gesicht, die Position der Hände […] Ich konnte die Leute wirklich gut aussehen lassen.”8

 

Erinnerungsbilder

 

Christian Boltanski nutzt in seinen meisten Werken die Fotografie als ein Medium der Erinnerung, wozu er oft alte Fotografien verwendet. Auch mit der Serie Gymnasium Chases ruft er die Vergangenheit ins Gedächtnis, denn sie basiert auf dem Gruppenbild eines jüdischen Gymnasiums in Wien vor dem Krieg. (S. ) Die mittels der Heliogravure (eines Druckverfahrens des 19. Jahrhunderts) hervorgehobenen Gesichter wirken wie Totenmasken. Fotografie und Erinnerung sind sich hier am nächsten. Die mit Tiefdruckverfahren gemachten Porträts vermitteln den Eindruck verwaschener mentaler Erinnerungsbilder.

In den Werken von Jochen Gerz erscheinen ebenfalls verschiedene Aspekte und Probleme der Erinnerung. Sowohl Das Berkeley Orakel – Fragen ohne Antwort als auch Die Zeugen sind jeweils eine „Plural Sculpture“, eine „soziale Plastik“, deren Zustandekommen oder Existenzweise mit einem bestimmten gesellschaftlichen Raum verknüpft sind. Häufig bildet die Befragung der Gemeinschaft nach dem Ort, an dem das Werk platzieren werden soll, einen Teil der Arbeit. (Das ist keine Marketingstrategie des Künstlers. Ihn interessieren die offenen Fragen der Kunst und ihrer Umgebung, ihres öffentlichen Raumes, sowie die Ratlosigkeit hinsichtlich der Kunst.) Seine bildende Kunst der „Befragung“ ist aber nicht immer von Erfolg: So antworteten auf die 50.000 Fragebögen zu seinem Werk Bremer Befragung, die er unter der führenden – wirtschaftlichen und kulturellen – Schicht der Stadt verteilte, kaum ein halbes Prozent, obwohl die drei Fragen auf gemeinsame Anliegen der Gemeinschaft beziehungsweise die Schaffung geteilten Engagements abzielten: Zu welchem Thema sollte die Arbeit Stellung nehmen? Glauben Sie, dass sich Ihre Vorstellungen mit Hilfe von Kunst verwirklichen lassen? Möchten Sie an dem Kunstwerk mitarbeiten?

Der Titel seines Internetprojekts von 1998, Das Berkeley Orakel – Fragen ohne Antwort, deutet einerseits auf die Schauplätze der Studentenbewegung von 1968, andererseits auf die griechische Weissagungsstätte Delphi hin. Wie die modernen Plätze so wirft auch der antike Ort Fragen auf, wobei erstere eher allgemeine, gemeinsame Angelegenheiten, letztere eher persönliche Probleme zum Thema haben. Das Berkeley Orakel gibt keine Antworten, sondern konfrontiert einen nur mit Fragen. (S. ) Auf den Fotos, welche die Ruinen von Delphi zeigen, stellen sich teils allgemeine, „große“ Fragen des Lebens (Wohin gehe ich? Woher komme ich? Auf was kann ich hoffen?), teils selbstverständliche Problemstellungen (Wenn der Fernseher ein Heiligtum ist, was ist dann die Religion?), manchmal jedoch auch die persönlichsten, stets unbeantwortbaren Fragen des Daseins (Wann wird mein letzter Tag sein?).

Die Selbstreflexion und die Kunst betreffende Fragen sind auch hier präsent, noch dazu in einer zugespitzten Form: Gäbe es eine Kunst, wenn es keine Zeit und keinen Tod gäbe? Wahrscheinlich kennt Gerz selbst sehr gut die Antwort darauf, auch wenn er sie vielleicht noch nicht mit einer Genauigkeit wie der Literaturtheoretiker und Theologe Northrop Frye formuliert hat: “Die Tatsache, dass wir sterben müssen, ist elementar für unser Bewusstsein, das heißt, alle von uns geschaffenen Dinge , alle Errungenschaften unserer Zivilisation, sind Ausdruck unserer Erkenntnis des Todes. Unsere Werke sind sterblich, weil sie Symbole des Todes in der Kraft, die sie geschaffen hat, sind.”9

Neben seinen Fragestellungen stellt das kollektive und individuelle Erinnern ein weiteres Hauptthema in der Kunst von Gerz dar. Seine zwei bekanntesten Werke, das in einem Außenbezirk von Hamburg aufgestellte Mahnmal gegen Faschismus und die 2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus, vergegenwärtigen in gleicher Weise die duale Natur der als direkte Vorgeschichte gegenwärtigen Vergangenheit und ihren paradoxen Charakter. Ersteres ist eine zwölf Meter hohe Säule, die während zehn Jahren allmählichen in den Boden versenkt wurde. Heute ist nur mehr ihr Oberteil aus der „Vogelperspektive“, in der Höhe des Gehweges, zu sehen. Auf die 2146 Steine wurden die Namen der deutschen Orte eingraviert, wo einst jüdische Gemeinden lebten. Die mit ihrer Gravierung in den Boden eingelassenen Steine sind von den anderen nicht zu unterscheiden, so sind die Steine des Mahnmals in Wirklichkeit unsichtbar. Aber gerade aufgrund dieser Unsichtbarkeit verweisen sie auf die Erinnerungslosigkeit, auf die Brüche und Löschungen der Erinnerung.

Auch in seinem Werk Die Zeugen erscheint die Vergangenheit in einer besonderen Weise. (S. ) Den Anlass dazu gab der Prozess des französischen Politikers Maurice Papon, über den sich herausstellte, dass er in der französischen Stadt Cahors als Inspektor während dem Vichy-Regime, das mit den nationalsozialistischen Besatzern kollaborierte, an der Deportierung von Juden teilnahm. In der Woche der Urteilsverkündung führte Gerz mit den dortigen Bewohnern Gespräche darüber, was sie in Anbetracht der Ereignisse über die Wahrheit aus persönlicher und gesellschaftlicher Sicht denken. Auf die Porträts montiert sind die markanten Ausschnitte der Gespräche zu lesen – ein breites Spektrum, angefangen von den persönlichen Erinnerungen über die allgemeingültigen Aspekte der Wahrheit bis hin zu Meinungen über ihre politischen Auswirkungen. Trotz der Unterschiedlichkeit und Zufälligkeit der Annäherungen zeichnet sich ein bestimmtes Muster der Erinnerung und der Interpretation der Wahrheit ab. Die Bilder und die darauf montierten Texte stehen in einem Kontrast zu einander, wobei aber die Gesichter dem Gesagten eine persönliche und zugleich authentische Note verleihen.

Barbara Kruger baut auf einem ganz anderen Gegensatz zwischen Wort und Bild auf, wenn sie den eigenen Text als einen Kontrapunkt auf das Bild setzt – beziehungsweise als Rahmen um das Bild herum. (S. )

 

Visualisierungen

 

In The Innocents, der Serie von Taryn Simon, erhält die „Objektivität“ der Fotografie eine besondere Beleuchtung. (S. ) Zur Vorgeschichte ihrer Arbeit gehört, dass sie das New York Times Magazine im Jahre 2000 beauftragte, von unschuldig verurteilten Personen Porträts anzufertigen, in deren Prozessen fotografische Beweise – die sich nachträglich als Fälschungen erwiesen – eine Rolle spielten und deren Unschuld eine spätere DNA-Untersuchung bestätigte. Simon begann deshalb ähnliche Fälle zu untersuchen, wobei sie auch Interviews mit den Betroffenen machte, und sie an solchen Schauplätzen fotografierte, die für ihre Verurteilung eine ausschlaggebende Rolle spielten – Orte, an denen sie, wie sich oft herausstellte, vorher nie gewesen waren. Die so arrangierten Bilder zeugen von der besonderen Interferenz des Dokumentarismus und des Fiktiven.

Sybille Bergemann musste die Modelle ihres Werkes Das Denkmal, 1975–1986, nicht inszenieren, denn sie war die Regisseurin der Realität (genauer gesagt des „real existierenden Sozialismus“). Sie musste die Errichtung der Skulpturen von den „Großen Lehrern“ der Arbeiterschicht (Marx und Engels) nur in der entsprechenden Phase „dokumentieren“, damit das leere Pathos durch die pure Komik an seinen würdigen Platz geriet. (S. )

Die australische Künstlerin Tracey Moffatt gibt die Bilderwelt des Films und die Visionen, die von ihr evoziert werden, wieder. Diese Darstellungen sind teils ironisch, teils dramatisch. Die Serie Up in the Sky könnte auch als ein Ausschnitt eines Dokumentarfilms über die Vorfälle in der australischen Wüste ausgelegt werden. (S. ) Die einzelnen Bilder sind so als Teil einer zusammenhängenden Geschichte zu betrachten und zu interpretieren. Die Bilder des Werkes Something more stellen eher eine ironische Sammlung von Gemeinplätzen dar, sie sind das mögliche Ensemble farbiger Episoden gewohnter Filmszenen. (S. )

Inszenierung und Ironie zeichnen auch die Bilder von Gábor Gerhes aus. Seine Vorbilder stammen jedoch nicht aus dem Kino oder Fernsehen, sondern aus der Kunstgeschichte. Im Bild Ruhende Mütter werden zwei klassische Bildtypen kombiniert. (S. ) Für das Thema und die Komposition verwendete er mit beißendem Spott die oft gemalten liegenden Akte, für den Titel des Bildes die ebenfalls häufig dargestellten Madonnen. Seine Ironie ist sozusagen allgemein, doch er verschont auch sich selbst nicht. Seine Arbeit In seinemGlauben ist eine „Hommage“ an die Landschaftsmalerei und Strandfotografie, gleichzeitig ein Zeugnis seiner persönlichen Haltung und eine Allegorie der Fotokunst. Der „transzendente“ Ausschnitt eröffnet den Blick auf ein weißes Loch, das durch den dicken schwarzen Rahmen sogar als ausgebleichtes schwarzes Loch betrachtet werden kann. Es ist eine neutrale Oberfläche, auf die alles Mögliche projiziert werden kann.

 

 

Anmerkungen

 

1 Thomas Kapielski, Anblasen – Texte zur Kunst, hrg. von Aldo Frei, Berlin 2006. S. 91

2 André Bazin, „Ontologie des fotografischen Bildes“, in: Theorie der Fotografie III, hrsg. von Wolfgang Kemp, München 1983

3 Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotographie, Göttingen 1983, S. 65

4 Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches – Gespräche mit Philippe Nemo, hrg. von Peter Engelmann, Wien 1992, S. 64

5 Detlef B. Linke:„Neuroartistik – Die Kunst, sich neue Neuronen zu erdenken“, in: Balkon 2003/4, 8

6 Siehe http://museum.helnwein.com/helnwein/print/texts/burroughs.html und http://realitystudio.org

7 Siehe August Sander, Antlitz der Zeit – Menschen des 20. Jahrhunderts, München 1980, und Menschen ohne Maske, Frankfurt 1971.

8 Siehe http://caacart.com/seydou-keita-photo-african-art.php? art=bio

9 Northop Frye, „Symbols“, in: Reading the World – Selected Writings 1935–1976, hrsg. von Robert D. Denham, New York 1990, S. 14

 


< main page | über KUNST/PHILOSOPHIE >