Schnaufen, Dröhnen,
Rattern. MBC-Alben mit zeitgenössischer ungarischer Musik
Mein Sohn,
gerade vier Jahre alt, mag zeitgenössische Musik, zumindest möchte
er "die" ab und zu hören, nämlich László
Sárys Lokomotiven-Sinfonie. Ein anderes faszinierendes Sáry-Werk
der so betitelten Platte heißt Etüden für Dampfloks.
Sie werden nicht von Musikern gespielt - wie Honeggers Pacific -,
sondern bestehen aus den Lauten urtümlicher Schienenkolosse,
aus Schnaufen, Dröhnen und Rattern. Mit einem Bahnhofsvorsteher
als Vater erhielt Sáry schon früh erste Lektionen à
la Cage: Alles, was tönt, ist Musik. So schuf er seine phänomenalen
Klanglandschaften aus Klingeln, Fauchen und Pfeifen. (Von seiner Empfänglichkeit
für elementare Musikformen kündet auch sein unlängst
auf ungarisch und englisch erschienenes Buch Kreative musikalische
Übungen.) Zudem handelt es sich bei diesem leicht und mitnichten
nur bei Kindern Anklang findenden Album eigentlich sogar um zwei in
einem, denn über die oben genannten hinaus enthält es auch
deren "Ausgangsstoff"
Ungarische Dampflokomotiven
von 1983. Diesem, im letzten Moment mittels Samplingtechnik verewigten
Material entnahm Sáry, ziemlich unüblich, die Töne
für sein eigenes Stück, so dass man auch den Ursprung, die
Quelle in vollem Umfang digitalisiert hören kann.
Das Album gehört zu einer Reihe ungarischer Gegenwartsmusik,
die beim überwiegend heimischen Jazz und Klassik betreuenden
Label BMC (Budapest Musik Center) erscheint und - dank BMC-Chef László
Gôz - die ungarische Tondichter-Elite präsentiert; angefangen
bei Péter Eötvös, der wohl - neben Kurtág
und Ligeti - der weltweit bekannteste unter Ungarns zeitgenössischen
Komponisten und Interpreten ist. Für seinen internationalen Stellenwert
sprechen auch die bei Atlantis mitwirkenden Orchester: WDR Köln
spielte das Titelwerk nach Weöres-Gedichten ein, BBC den Psychokosmos
und SWF Baden-Baden Shadows.
Eötvös ist ein Meister des Klangraumes und der Klangfarben.
Seine Werke lassen spüren, dass sie nicht als musiktheoretische
Konstruktionen entstanden, sondern aufgrund von - heutzutage seltenen
- Vortragserfahrungen. Eötvös komponiert nämlich nicht
ausschließlich, sondern dirigiert vornehmlich. Wie plastisch
seine Klangwelt wirkt, belegt eine Bemerkung seines Bewunderers Thomas
Shaefer, der beim Hören von Atlantis das Gefühl hatte, mit
allen gemeinsam "unter Wasser" zu sein...
Gleichwohl braucht sich niemand zu fürchten - weder
vor dem Ertrinken
noch vor zeitgenössischer Musik. Diesen tröstlichen Zuspruch
äußerte unlängst ein Ansager in Radio Bartók.
Er hielt es für angebracht, ein Hindemith-Werk als "traurige
Musik" des 20. Jahrhunderts anzukündigen, vor der man aber
nicht erschrecken solle, sie werde nicht weh tun... In der Tat befinden
sich recht viele der für das 20. Jahrhundert wirklich typischen
Werke - die große Mehrheit der konstruktivistischen (Schönberg)
und nationalmodernistischen (Kodály) Kompositionen sowie die
meiste sogenannte experimentelle Musik ihrer Anhänger - außerhalb
der Grenze des Hörbaren. Unmengen zeitgenössischer Musik
liefern den unumstößlichen Beweis dafür, dass mein
hellhöriger Freund recht hatte, als er kurz und bündig sagte:
"Die moderne Musik ist eine Sackgasse." Was natürlich
auch für andere Subkulturen gelten mag, die sich in ihren Szene-Nischen
nicht gerade prächtig entfalten. Sie existieren eben. Ähnlich
ist es um die Gegenwartsmusik bestellt - ein schmaler Seitenpfad der
Hochkultur, der manchen Autor auf Abwege führt. Emil Petrovics'
Streichquartette und Rhapsodien blieben irgendwie auf halber Strecke
stecken. László Tihanyis Schattenspiel zieht mitten
auf dem Weg als Mainstream dahin. Und József Sári setzte
mit seinen Convergences-Stücken die Konstruktionen eines anspruchsvollen,
aber sterilen Akademismus ins Abseits.
Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele, insbesondere die Aufnahmen
des Albums Handshake after shot von Gyula Csapó, den sein Lehrmeister
Morton Feldman "einen der brillantesten jungen Komponisten"
nannte, was keine der üblichen amerikanischen Floskeln war. Ähnlich
äußerte sich ein ungarischer Kollege ("schon beim
Betreten der Musikakademie war seine Anwesenheit irgendwie spürbar").
Und dann sind da seine Werke, die sich schon auf den ersten Blick,
nämlich im Titel, von der Masse zeitgenössischer Musik abheben.
Ich selbst hörte vor etwa zwanzig Jahren erstmals von ihm, genauer
von seinem Stück Aussicht vom Kap Hoorn. Der Titel dieser Komposition
für Solohorn begeisterte mich sofort, weil der spielerische Doppelsinn
eben die beispiellose Genauigkeit der musikalischen Benennung ermöglichte,
ohne nichtssagender Exaktheit oder lyrischer Geistlosigkeit anheimzufallen.
Vielmehr gelang es ihm, zum Ausdruck zu bringen, dass die Welt selbst
in der Musik sichtbar wird (wenn auch nicht immer vom Kap Hoorn).
Das Titelwerk
Handschlag nach dem Schuss
für zwei Trompeten con sordino, Orgelpunkt und Pappkarton (sic!)
könnte als Synthese einer Purcellschen Staccato-Ode und einer
Koto-Tondichtung bezeichnet werden. Csapó berichtet, er habe
sich nach einem anstrengenden Tag nach Ruhe und Stille gesehnt, und
bei diesem Wunsch sei das Stück als "in Töne gegossenes
Endergebnis" entstanden. In früheren Zeiten setzten sich
die Komponisten vor allem mit dem Verhältnis der Töne zueinander,
dem Klang gemeinsamer und aneinandergereihter Töne auseinander.
In der modernen Musik sind die Relationen von Klang und Stille maßgebend
geworden. Cage rückte die Stille - Silence - in den Mittelpunkt.
Auch Csapó macht davon Gebrauch. Manchmal - etwa bei BirdDayCage
oder bei den von östlicher "Stille-Kultur" inspirierten
Sutrarezitationen - verweisen schon die Titel darauf, bei anderen
Stücken wie Hark, Edward... oder Krapp's Last Tape kommt das
indirekter zum Ausdruck.
In der BMC-Reihe erschienen außerdem Bála Faragós
353 Tage - Messe, László Vidovszkys Etüden für
MIDI-Flügel und László Dés' The Hanged.
(Letztere ist insofern eine Besonderheit, als das Ensemble Amadinda
bei der Wiedergabe Holzskulpturen von András Böröcz
benutzte.)
Die Plattenfirma verdient nicht zuletzt auch dafür Anerkennung,
dass sie mit diesem vermutlich nicht sehr lukrativen Projekt eine
Mission erfüllt, erschließt sie doch in- und ausländischen
Hörern eine ganz spezifische, sonst kaum zugängliche Subkultur.
Die Reihe wird hoffentlich fortgesetzt, um zum Beispiel auch László
Dubrovay, Zoltán Jeney, Zsolt Serei und Kristóf Weber
Gehör zu verschaffen.
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