Auf verschlungenen Pfaden Bruce Chatwin als Photograph
Von J. A. Tillmann

Nie habe er Chatwin mit einem Fotoapparat gesehen, schreibt Roberto Calasso im Vorwort zum Fotoalbum seines Freundes. Deshalb nannte er ihn wohl auch im Untertitel des von ihm zusammengestellten Bandes Photograph. Chatwin wurde nämlich nicht als Lichtbildner, sondern vor allem als Schriftsteller bekannt. Dennoch können seine überaus reichhaltigen Fotografien durchaus mit seinen besten Büchern konkurrieren. Chatwin studierte zwar Archäologie, machte Ausstellungen, arbeitete als Sachverständiger für Sotheby's und forschte über die Anthropologie der "nomadischen Alternative", aber in erster Linie war er eben Reisender. Noch dazu von einem Kaliber, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Nicht nur, weil er in seinem kurzen Leben (1940-1989) fast alle Länder der Welt bereiste, sondern wegen der Art und Weise, wie er dies tat, wie er die einzelnen Schauplätze in Augenschein nahm und Rechenschaft ablegte über seine Wahrnehmungen.
Schon als kleines Kind wurde Chatwin auf das Wanderleben vorbereitet. "Ich erinnere mich an die phantastische Heimatlosigkeit meiner ersten fünf Lebensjahre. Mein Vater war bei der Kriegsmarine, auf See. Meine Mutter und ich reisten mit der Eisenbahn kreuz und quer durch das vom Krieg gezeichnete England und besuchten Verwandte und Freunde. Unser Zuhause, wenn man dies überhaupt als solches bezeichnen kann, war ein dicker schwarzer Koffer."
Doch nicht nur seine Kindheit, auch die sich in der Vergangenheit verlierende Geschichte seiner Familie prädestinierte ihn zum Wanderleben: Ein Verwandter leitete ihren Namen von dem angelsächsischen Ausdruck chette-wynde (gewundener Pfad) ab. Indes ging er selbst bei der Deutung seines Reisedrangs noch weiter, bis zur menschlichen Vorgeschichte. Vom Wandererdasein, genauer: von dessen bis heute existierendem Überbleibsel, der "nomadischen Alternative" sprach er laut Calasso stets so wie die mittelalterlichen Theologen von der Dreifaltigkeit. Hier wurde der auch theoretisch bewanderte Reisende von der französischen Philosophie der siebziger Jahre beeinflusst: Im Denken von Gilles Deleuze entwickelte sich die hochstilisierte Gestalt des Nomaden zur Alternative der im immer komplexeren Sozialgefüge integrierten menschlichen Seinsform. Maurice Blanchot betrachtet dagegen die "nomadische Wahrheit" als Gabe der menschlichen Existenz: "Wir müssen jederzeit bereit sein, uns auf den Weg zu machen, denn sich zu entfernen (wegzugehen) ist ein Anspruch, dem wir uns nicht entziehen können, wenn wir uns die Wahrheitsfähigkeit bewahren wollen. Die Forderung nach Loslösung ist die Bejahung der nomadischen Wahrheit."
Chatwin verschmolz in seinen Schriften, die von wissenschaftlichen Abhandlungen über Reisetagebücher bis zu Romanen reichten, die Perspektive der weltbürgerlichen Weite mit der Wissbegier eines seinem Objekt sehr nahen Forschers. "Auf verschlungenen Pfaden" läßt erkennen, dass sich diese Sichtweise nicht auf seine Texte beschränkte, sondern auch für seine Bilder typisch ist. Er schuf keine erweiterte Auflage seines Katalogs "exotischer" Themen, obgleich auf den meisten Fotos selten gesehene Landschaften, Wesen und Formen erscheinen: Mal begegnet man den Porträts englischer Bauern aus Patagonien und ihrem an England erinnernden Umfeld, mal westafrikanischen Hausmauern, um deren Farben und Formungen ihn die abstrakten Expressionisten beneidet hätten. Man sieht aber auch, schwarzweiß, eine entlegene Eisenbahnstation und, farbig, ein pakistanisches Riesenrad im lokalen Schmuckkolorit, das die Gäste schon aus diesem Grund in den siebten Himmel zu heben scheint.
Natürlich gibt es auch echt Exotisches (das heißt Bilder von Lebewesen anderer zoologischer Klimazonen) wie südamerikanische Hunde und ein Himalaja-Jak mit unbeschreiblichem Blick. Sodann eine javanische Fledermausgrotte mit dichten Tiertrauben an der Wand und Altären voller Guano darunter. Und natürlich Landschaften, Menschen und Werke: die von heutigen Reisenden wohl kaum besuchten Berge Afghanistans und die zwischen ihnen verborgenen Minarette. In lange Umhänge gehüllte Tuareg in gravitätischer Haltung - majestätischer als die Thronanwärter unter den Zöglingen der Kings Colleges. Ferner Kuriositäten wie die klassizistischen Vorbildern nachempfundenen Mohrenskulpturen im Tervurener Musée royal de l'Afrique central.
Allerdings sind die Bilder durchaus nicht nur von orientalischer Ästhetik geprägt. Leere, baufällige russische Kirchen weckten Chatwins Interesse ebenso wie die für westliche Augen schon immer faszinierenden Kulissen der sowjetischen Lebenswelt: In den sechziger Jahren entdeckte Chatwin den welken spätmodernen Reiz eines Ladenschildes, dessen Maler gar futuristische Zitate wagte und das heute fast schon zur frühen Postmoderne zählt.
Überhaupt: Als künstlerisch gebildeter Mensch übte er sich auch in der bildenden Kunst. Zwar "malte" er nicht mit dem Licht des Fotoapparates, doch fand er Blickwinkel, Ausschnitte und Lichtverhältnisse, in denen seine Objekte ihr nie zuvor gesehenes Antlitz zeigen. Manchmal sind dies bloße Flächen: die ungewöhnlich mannigfaltig strukturierte Mauer eines Stupas, das rot gesprenkelte Muster einer peruanischen Steinwüste oder eine Reihe bunt verschleierter Araberinnen.
Gleichzeitig bilden diese separaten, ja eigenständigen Bilder verschiedene Felder eines Lebensfilms. Momente aus dem Leben eines Reisenden, Stationen auf dem Lebensweg eines Wanderers. Chatwin wusste, in welcher Relation er ständig in Bewegung war: "Der Vorgang des Wanderns trägt zu einem Gefühl physischen und geistigen Wohlbehagens bei, während die Monotonie anhaltender Sesshaftigkeit oder regelmäßiger Arbeit im Gehirn Muster webt, die Überdruss und das Gefühl persönlicher Unzulänglichkeit hervorrufen. Vieles von dem, was Ethologen als 'Aggression' bezeichnet haben, ist nichts anderes als eine zornige Antwort auf frustrierende Einengung. Des Menschen wahres Haus ist nicht das Haus, sondern der Weg, und das Leben selbst eine Reise, die zu Fuß zurückgelegt werden muss."
Der "nomadischen Alternative" des Reisenden steht natürlich die Erfahrung gegenüber, dass der Mensch ohnehin ständig unterwegs ist; auf dem eigenen Lebensweg nicht weniger als beim gemeinsamen kosmischen Ausflug mit allen Erdenbürgern. ("Verschlungene Pfade", Fischer TB,2000.)


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