Kunst-Zukunft. Antwort auf die Rundfrage:
Wie könnte angesichts von Ihrem Bild der Kunst heute eine Ihnen
noch unbekannte Kunst sein?
www.anthology-of-art.net
Nicht nur die Zukunfts-,
auch die Gegenwartsaussichten lassen sich mit dem Begriff Lichtverschmutzung
(light pollution) beschreiben. Damit wird in der Astronomie der (beleuchtungs-)technisch
ausgelöste Unmöglichkeitsgradiens der Weit- und Tiefensicht
benannt. Wegen des künstlichen Lichts unserer Städte sind
Teleskope in den meisten Erdteilen nicht mehr brauchbar und müssen
im Weltraum aufgestellt werden.
Aehnliches, eine Sichtverschmutzung lässt sich in der Kunstwahrnehmung
beobachten. Alle möglichen und unmöglichen Räume und
Flächen sind schon künstlich geformt, mit Kunst bedeckt
worden, und am Aufdecken von weiteren wird hart gearbeitet. Vorposten
im ausserkünstlichen Raum, eine Art KunstHubble (verstehe: hightech
Avantgarde) lassen sich nicht ausschicken. Schon deswegen nicht, weil
die globale Kunstwelt kein "Aussen" mehr zu haben scheint,
das zu entdecken der Mühe wert wäre. Andererseit gehörte
das topographische Aussen, das Fremde, Exotische immer schon zur Logistik
der Kunst. Der 'Erste Beweger' war und ist in nähster Nähe
und äusserster Ferne zugleich: das Erspüren von Leben und
Tod, das Erstaunen darüber, daß das Nicht-Sein viel weniger
Arbeit machen würde.
Versucht man inmitten der artlight pollution über zukünftige
Kunst etwas zu sagen, muss man vom vielem absehen: von dem "light"
der derzeitigen Erhellung. Wie auch von der Zukunftsmalerei. Schon
die englische Version der deutsch gestellten Frage (What is, in the
context of contemporary art, your vision of a future art?) zeigt eine
merkwürdige Verschiebung ins Futuristische. Wenn ich es noch
weiter, aus meiner 'Vatersprache' in meine 'Muttersprache' übersetze,
kommen noch einige hinzu. Aber sofort ernüchtern mich Futurismen
der Vergangenheit - zuletzt aus den zukunftorientierten 60zigern Jahren
mit - mit ihren rosaroten Phantastereien. Doch ist die Frage keine
blosse Zukunftsmusik. Nach einem erfolgreich praktizierenden Futurologen
"beeinflussen zukunftbetreffende Ahnungen die Zukunft selbst"
(George Soros). Solche Ahnungen auf dem Feld der Kunst fussen nicht
unbedingt auf Trendanalysen. Nicht nur in der Computerforschung scheint
das Kontemplieren der Parallelität zukunftweisender zu sein,
wie eine Mainstream-Meditation. Parallele Abläufe sind fast überall
beobachtbar, seit sich das Wahrnehmungsmuster vom dem 'Einem' auf
seine Vielfalt verschoben hat. Kunst ist kein blosses Erfinden, sondern
eher Erahnen und (Ein-)Sichtbarmachen anderer Konstellationen - anderer
Stellung der Gestirne zueinander. Wo durch Verschiebung der Wahrnehmung
sogar die alltäglichsten Gegenstände als 'Gestirne', als
Lichtquellen wahrgenommen werden können. Die dann wiederum ihrer
Umgebung eine neue Beleuchtung geben.
Bei forcierter Ausbreitung der künstlichen Flächen und Falten
vollzieht sich ein Vertiefen in verschiedene Richtungen der Tiefen.
Dazu gehören nicht zuletzt neue Einsichten in die kosmische RaumZeit,
wie auch in, z.T. nicht ganz neue, irdisch-lokale Zeittiefen. So verspricht
das laufende Einscannen des nördlichen Sternenhimmels (Sloan
Digital Sky Survey) eine derart vertiefte, alle bisherige kosmologischen
Kenntnisse von Grössenordungen überragende neue Erkenntnis
des Universums, dass dies sogar über den Geschehnishorizont dieser
Physik führen kann.
Zeitgemäss ist moderne Kunst von ihren Anfängen an. Sie
richtete sich gegen die unzeitgemäss gewordene Erzählung
vom 'Bleibender als Erz', gegen das Jetzt*. Nur ist
das Mass der Zeit (auch) nicht ewig. Bei der derzeitigen Überhandnahme
des globalen 'Jetzt' sind wieder andere Zeitmassen zeitgemäss
geworden. Nicht nur das Ticken des langen Jetzt -- in Form eines zehntausendjährigen
Uhrwerk -- wurde (wieder)entdeckt. Auf Zeittiefen dieser Grössenordnung
gezielt, soll das grösste und kostspieligste Kunstwerk der Jahrtausendwende
bei Carlsbad, Neumexiko enstehen**. Als ein Warnsystem
eines Atommüll-Lagers zu erbauendes Werk beschäftigt es
derzeit nur wissenschaftliche Komittees und Ausschüsse des US-Senats.
Scheinbar geht es nicht um ein 'reines' Kunstwerk, doch stellen sich
dabei all die Perennisfragen und Paradoxe der Kunst. Ebenso, wie einst
die Megalithen, wird es an der Scheidungslinie Leben/Tod aufgestellt
und kann als ein Totenkult gedeutet werden. In unserem Fall, wo es
nicht um Tote, sondern um das Tödliche geht, soll der 'Kult'
auf die Halbwertzeit (10 000 Jahre) gegründet werden. Bei diesem,
gen deep time gerichteten Kunstwerk*** wird aber
noch einiges umgekehrt. So darf es nie als Kunst gedeutet werden!
Wie das Entstehen dieses Bauwerk durch die paradoxe Transformation
eines materiellen Problems ins metaphysische gekennzeichnet ist, so
paradox sind die Zukunftaussichten dieses Werkes - wie auch jedweder
zukünftigen Kunst.
Die Fragen um die Zehntausend Jahre Einsamkeit (Arbeitstitel) hat
bisher keinen Eingang in den Kunstdiskurs gefunden. Doch kann sich
künftig noch Vieles an und in der Kunst ändern. So auch
die Sozialität: bei dem derzeitigen Beliebigkeitsgrad der Themen
und des Angehens wird der Anspruch auf minimale Vereinbarungen unausweichlich.
Nicht aus irgendwelcher gemeinsamen 'Weltanschaung', sondern aus äusserlicheren,
'informatorischen' Gründen: aus Verständigungsnot. Sogar
neue Allianzbildungen sind unter den vereinzelten 'Elementarteilchen'
der Kunstausübenden auf weltweiter Ebene - via Netz - nicht auszuschliessen:
die Bildungen neuer, 'sensoral' abgestimmter Gemeinschaften, deren
Miglieder sich vornehmen, ihre Wahrnehmungsmuster künftig untereinander
übereinstimmen zu lassen. Ein Kanonisieren scheint
schon jetzt Voraussetzung für zukünftiges Kommunizieren
zu sein. Denn Kommunikation benötigt zuerst nicht Medientechnologie,
sondern Kommunion: eine Gemeinschaft von gemeinsam belebten Referenzen.
*Stewart Brand:
Das Ticken des langen Jetzt. Frankfurt, 2000. (The Clock of the Long
Now, 1998. ) Brand beschreibt darindie Gründung der Long Now
Foundation (1996 von ihm, den Informatiker Daniel Hillis, Kevin Kelly,
Brian Eno, ua.), deren Ziel ein Uhrwerk zu bauen ist, das für
die künftige 10 000 Jahre das 'Jetzt' ausmesst.
**FAZ 2000.09.08.
*** Deep Time. How Humanity Comminicates Across Millenia - das Buch
von Gregory Benford über das Projekt.