VIER WEST-OST-HIMMELSRICHTUNGEN
von J. A. TILLMANN


        In den Sälen der Galérie de Luxembourg führt Si-la-gi diesmal in mehr oder weniger weit voneinander entferte Himmelsrichtungen. Auf den ersten Blick ist das nicht so offenkundig. In einem Raum der Ausstellung erstreckt sich nur, in Pulthöhe, das (gemalte, dann reproduzierte) breite Bild eines gedeckten Tisches mit leeren und vollen Tellern, Schalen, halb geleerten Gläsern. Auch auf dem Pult vor dem Bild standen/stehen Gläser, Flaschen, Teller, und zwar in ihrer greifbaren Gegenständlichkeit - als Zubehör-Reste der Vernissage.
        Im zweiten Saal hängt ein einziges riesiges, vierlettriges Wort an der Wand: JUDE. Im dritten ist das symmetrisch verdoppelte Foto eines farbig gekleideten Ritualtänzers zu sehen, dazu das Gefüge überlagerter Holzrahmen, einer vergoldet, als Rand einer trüben Glasfläche. Den letzten Raum füllen ein Bauklötzer stapelnder Porzellanknabe und sein projiziertes Schattenbild.
        Die Horizonte, die sich in den Ausstellungssälen öffnen, sind sowohl irdisch als auch himmlisch: Sie zeigen die Erdräume des geographischen Ostens und Westens, Südens und Nordens sowie die geistig-kulturellen Reflektionen der Himmel darüber. Die einzelnen "Gegenden" sind sehr unterschiedlich präsent - in Verfahren, die von der Stofflichkeit langsam verdunstender Getränke über die fotografische Abbildung bis zum abstrakten Rufwort reichen. So abweichend wie ihre Darstellungsweise ist auch die Veranschaulichung der Stufen ihrer historischen Phasen und des Grades ihrer Mittelbarkeit. Si-la-gi gelang es mit dieser Ausstellung nicht nur, die "kulturelle Topographie" der sich rundum öffnenden Himmelsrichtungen wiederzugeben, sondern auch ihre spirituelle Atmosphäre. Trotz der statischen Vergegenwärtigung der einzelnen Himmelsrichtungen ist diese klimatische Landkarte im ganzen ziemlich dynamisch: Die Bruchlinien zwischen den "Himmelsgegenden", die "Fronten" und Spannungen zwischen ihnen werden durch die Gliederung des Ausstellungsraumes übermittelt und verstärkt.
        Der (spirituelle) WESTEN verengt sich zu einem schmalen - aus Leonardos "Abendmahl" herausgeschnittenen - Streifen: im Einklang mit dem Ablauf, der - bei fehlender Tischgemeinschaft und Eucharistie - das Brot und den Wein zu Produkten der Lebensmittelindustrie, die Tischrequisiten zu Objekten der Ernährungstechnik und die Tätigkeit selbst zu wissenschaftlich kontrolliertem Kalorienkonsum werden ließ. Greifbarer verweist die Fortsetzung des Bildes während der Vernissage (und danach mit deren stehengelassenen Resten) - über die kunsthistorischen Anspielungen hinaus - mit feiner (Selbst)Ironie auf die Verwandlung der Tischgemeinschaft zur spezifischen Zeremonienform des Ausstellungsraumes, des White Cube (Brian O'Doherty).
        Die Aufschrift JUDE gemahnt in ihrer Vieldeutigkeit an die Anfänge (Süden, Osten), die Anrufung Israels, die nicht erlöschende Verschiedenheit und ihre Bezeugung inmitten anderer Völker sowie die (auch in der Zeichnung der Aufschrift sichtbare) besiegelnde, ausgrenzende Aussage-Möglichkeit, die Abwendung und Beseitigung ersterer. Den dritten Raum beherrscht das verdoppelte Lichtbild eines tanzenden tibetischen Lamas in Festkleidung. Die Umkehr des Fotos in Negativfarben verleiht der exotischen Erhabenheit des fernen OSTENS gleichermaßen phantastische Schönheit und Distanz, macht sie zum Ort der Erscheinung einer anderen, quasi jenseitigen Welt.
        Der letzte Saal zeigt gen NORDEN: dorthin, wo "jeder Mensch weißer Fleck, Nordpol, Geheimnis, Fremde" ist, wie es sinngemäß in einem Gedicht von Endre Ady heißt. In dieser fiktiven Himmelsrichtung spielt eine alte Ready-made-Figur samt Schattenbild mit Bauklötzern, wie auch wir es als Kinder taten, um Bauwerke zu schaffen. Doch die Formen, gleich den Rahmen im Nachbarraum, verrutschen. Überhaupt gilt es jetzt und hier nicht nur, Bilder zu bauen, sondern sich auch zwischen den verworrenen Weltbildern und fiktiven Himmelsrichtungen zurechtzufinden. Und zur Bewältigung dieser Aufgabe bietet Si-la-gis Ausstellung "Traum vom Denken" Anregungen.
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