"2001: Odyssee im Weltraum" oder Der große Attraktor
Kubricks Film und das Rätsel des Megaliths
Von József A. Tillmann

Im Mittelpunkt der 2001 spielenden Geschichte von Stanley Kubricks Filmklassiker steht der Monolith, ein geheimnisvoller Stein ungeklärter Herkunft, der die Entwicklung des Menschen voranbringen soll. Er ist das Medium einer außerirdischen Intelligenz und dazu berufen, das Wissen einer fernen Hochkultur seiner empfänglichen irdischen Umgebung zu vermitteln. Er verweist nicht nur in Form und Name auf die vorgeschichtlichen Megalithkulturen, sondern auch durch seine Funktion. Zwar stimmt der Film-Monolith (monos = allein, lithos = Stein) in seinen Maßen nicht genau mit den Megalithen (megas = groß) der am weitesten verbreiteten Großsteingräber überein, doch die Ähnlichkeit ist augenfällig.
Seine "außerirdische" Herkunft macht den Monolithen geheimnisvoll, aber auch sein irdisches "Pendant" ist nicht weniger rätselhaft, ja seine Entstehung ist sogar noch mysteriöser. Denn für Science-fiction-Fans ist nichts selbstverständlicher, als daß fremde Intelligenz sich eines Mediums bedient, das den irdischen überlegen ist. Im Falle der Megalithe fehlen uns derartige Deutungsrahmen, und die Frage ihrer Entstehung führt zum Rätsel unserer Herkunft, der Menschwerdung. Megalithgräber sind die frühesten und komplexesten Schöpfungen des Steinzeitmenschen, sie sind Monumente seiner bildenden Kunst. "In Ägypten kennen wir keinerlei Steinbauten aus der Zeit vor dem 3. Jahrtausend v. Chr." schreibt der Prähistoriker Colin Renfrew, "die mit den Megalithen des Westens auch nur im entferntesten vergleichbar wären. Der Megalith ist kein einfaches Bauwerk, er ist bereits Baukunst - 3000 Jahre vor der ersten Schrift." Das Verständnis dieser Monumente wird dadurch erschwert, daß wir keinen "Schlüssel" zu ihrer Deutung haben, keine sekundäre Quelle, da sie "als alleinige große Produkte aus einer Gesellschaft emporragen, die keine Städte hat, keine schriftlichen Quellen, ja es gibt überhaupt keine anderen Zeichen ihrer Zivilisation als die Bauten selbst". Bei ihrem Verständnis bietet Kubrick Hilfe: Die Funktion des Monolithmediums beleuchtet einige Betriebsaspekte der steinzeitlichen Medien. Paradoxerweise ist sein Film eben dadurch aktuell, daß er auch beim Verständnis der heutigen Medien hilft.
Die Funktion des Monoliths
Wie der zu Beginn des Filmes auftauchende Monolith als Medium funktioniert, läßt sich seiner Wirkung entnehmen: Dank des Monoliths macht die bei ihm lebende Affenhorde eine Entwicklung durch, die ihr evolutorische Vorteile gegenüber der Umgebung und den Rivalen verleiht. Dieses Monolithmedium wird von einer unsichtbaren "Ausstrahlung" gespeist. Die narrativen Bilder schildern die Hauptphasen des Entwicklungsprozesses ohne Details, mit einem einzigen Schnitt: vom ersten erfolgreichen Werkzeug/Waffengebrauch geradewegs zur Weltraumfahrt. Auf beispiellose Weise zeigt dieser Film die "Futurisierung" der traditionell auf die Vergangenheit gerichteten und in außerzeitliche transzendente Fernen führenden Forschung. Dieser Wandel von der Vergangenheit zur Zukunft, vom Transzendenten zum Außerirdischen bedeutet jene Umwälzung, die im Grunde für die Modernität sorgt und auch heute unsere Kultur erbeben läßt. Hier wirken vor allem die jüdisch-christliche Eschatologie, die Säkularisation der Erwartung von "neuem Himmel und neuer Erde" und der moderne Fortschrittsglaube.
Im Zuge der Aufklärung wurden all die philosophischen, religiösen und sonstigen Bezüge von Herkunft und Sein nicht bloß entmystifiziert, sondern vertagt, zu einer Aufgabe für künftige Erkenntnisse gemacht - und auch als weitgehend nicht salonfähiges Thema diskreditiert. Seit Leibniz vergingen fast 250 Jahre, bis Heidegger erneut die Frage aufwarf: "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" Seither tauchen die aufklärungsbedingt an den Rand gedrängten und ins Futur verbannten Themen deformiert in den verschiedensten Bereichen auf.
Die Aufklärung, die schockierende Erkenntnis der Vergangenheit - von der Historik über die Paläontologie bis zum Darwinismus - und das Tempo der gegenwärtigen Veränderungen verwandelten die bisherige zeitliche Orientierung in ein wirbelndes Durcheinander. "Der Mensch löste sich von der Religion", schreibt Kubrick in einem Aphorismus, "zufrieden nahm er den Tod der Götter zur Kenntnis, es gibt keinen sozialen oder moralischen Wert, der nicht halbwegs oder völlig verschwunden wäre. Der Mensch des 20. Jahrhunderts bricht ohne Ruder ins Unbekannte auf." Der Regisseur, der das Schiff ohne Ruder durch die Strudel lenkt, treibt wie E. A. Poes Malstrom-Fischer mit der Strömung, und so überwindet er sie. Er dreht mit seinem Film die der Zukunft zugewandte moderne Erwartung noch weiter und bringt das Futuristische mit der Zeit des Vormenschen in Übereinstimmung, wodurch es möglich wird, die Fragen "Woher kamen wir? Wohin gehen wir" zu stellen und mit dem Film auch zu beantworten. Noch dazu, ohne ihrem transzendenten Ausgang auszuweichen. Und das erreicht er, ohne religiöse Bahnen direkt zu tangieren, theologische Topoi zu verwenden. Er meint, man müsse die Transzendenz des Künstlers in seinem Werk suchen. Die von der Aufklärung durchdrungene, "klassische" moderne Denkweise akzeptierte keine über das Werk hinausgehende transzendente Forschung. Einen Ausweg bot Kubrick die Science-fiction-Version des Mono/Megalith-Rätsels. Typisch für das geistige Umfeld bei der Entstehung des Films war, daß Regisseur und Drehbuchautor sich zum erstenmal am Eröffnungstag der New Yorker Weltausstellung begegneten und das Thema dieser EXPO die Zukunft war.
Das Rätsel des Megaliths
"Die Zeugnisse der älteren Steinzeitkunst sind sichtbar, greifbar, fotografierbar", konstatiert der Prähistoriker John Waechter. "Wenn wir jedoch nach dem Anlaß ihrer Entstehung forschen, betreten wir die Welt der abstrakten Fragen." Etwas Licht in die Welt der "abstrakten Fragen" zur monumentalsten urzeitlichen Kunst, zu den Großsteingräbern, bringen - abgesehen von der Anthropologie - Hans Jonas' Werke über den Ursprung des Menschen. Der Vater der "philosophischen Biologie" deutet die Herauslösung des Menschen aus der Tierwelt - neben der üblichen Erklärung der Werkzeugnutzung - mit seiner Fähigkeit, Bilder zu schaffen und Grabmale zu errichten. "Als einziges von allen Wesen weiß der Mensch, daß er sterben muß. An den Gräbern kristallisiert sich die Frage: Wo komme ich her, wo gehe ich hin?, und letztlich: Was bin ich - jenseits dessen, was ich jeweils tue und erfahre?"
Kubrick konfrontiert in seinem Film nicht nur mit der Frage nach dem Ursprung des Menschen, sondern auch mit der Endlichkeit des Lebens. Zum Schluß öffnet sich der Monolith und transformiert den Helden der Story durch den Tunnel einer - hinein? hinunter? zurück? führenden - Bilderflut ins Jenseits: zunächst in den transparenten Raum einer lichten Räumlichkeit, und von dort - nach einem unschlüssigen Zaudern - in das kosmische Milieu des Ursprungs, wo er als Sternenkind wiedergeboren zu werden scheint.
Die "Funktion" des Megaliths
Im Hinblick auf die Errichtung der ersten großen Steinbauten, ihre technischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge bietet die prähistorische Wissenschaft zahlreiche Deutungen. Doch was den damaligen Menschen zu derartigen Anstrengungen bewog, was für Kräfte diesen Totenkult, der solche Monumente schuf, durchströmten, dazu hat sie nicht viel zu sagen. Kraft archäologischer Funde lassen sich diese Fragen vermutlich nie beantworten. Deshalb müssen wir uns auf andere Annäherungen stützen. Zu ihnen gehört Kubricks Film, der eine spezielle "Hilfslinie" zur Deutung der Megalithe bildet. In seiner "wissenschaftlichen Fiktion" fungiert der Monolith als Mittler, als Medium. Wenn wir nun auch sein "Urbild", den Megalith als Medium deuten, kommen wir zu einem überraschenden Ergebnis.
Die Megalithgräber und die daraus entstandenen Tempelanlagen sind nicht nur Begräbnisstätten. Sie sind stetige Zeichen der lebenden und der toten Gemeinschaftsmitglieder sowie stetige Orte der Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. Die Gedenkstätten der Toten bilden beständige Verdichtungspunkte im Raum, und in der Zeit sind sie - durch den Kult - von einer Art verketteter Intensität umgeben. In den Naturwissenschaften wird ein Faktor, der beim Zerfall höherer Ordnungen entsteht und neue Ordnungen schafft, Attraktor genannt. In diesem Sinne sind auch steinzeitliche Grabanlagen Attraktoren: Das über dem toten Körper, der Entropie des Lebens errichtete Grabmal ist der Attraktor, der das soziale Gefüge arrangiert und verdichtet. Der Megalith vermag nicht zuletzt deshalb als Attraktor zu wirken, weil er vermittelt: nicht nur zwischen Lebenden und Toten, zwischen Diesseits und Jenseits, sondern auch zwischen den Menschen, die sich um ihn versammeln. Der Megalith ist das erste (erhalten gebliebene) technische Medium.
Dieses Urmedium hat eine andere Funktion und eine andere "Bandbreite" als der Film-Monolith. Es ist nicht einseitig ausgerichtet, und obwohl seine Übermittlung nicht "rauschlos" (eindeutig) erfolgt, hat es hinsichtlich seiner Wirksamkeit nicht unbedingt weniger Kapazität. Die Völker prähistorischer Zeiten kannten auch andere Medien, denen sie Botschaften an ihre Ahnen, Geister, Götter auftrugen. Doch keines davon war so "effektiv", daß es als Ursprung der Architektur und jeder höheren Kunst und geistigen Schöpfung in Frage kam. Eine keineswegs geringe Rolle mag dabei gespielt haben, daß der Megalith sich schon in seiner - technische Fähigkeiten voraussetzenden und sogar fördernden - Entstehungsphase als Medium erwies und danach über lange Zeiten als Mittler diente. Für das Megalith-Medium gilt deshalb im ursprünglicheren Sinn, was der Klassiker der Medientheorie McLuhan über moderne Medien sagte: Medium ist Botschaft.
Die Botschaft dieses Mediums erschöpft sich allerdings nicht in der eigenen Weitergabe. Wo Grabanlagen gebaut, Altäre errichtet werden, dort hat man die Animalität hinter sich gelassen und erwartet etwaige Antworten mit gesteigerter Aufmerksamkeit. "Göttliches trifft Unteilnehmende nicht" (Hölderlin), also besteht eine der "Botschaften" der steinzeitlichen Urmedien darin, daß sie die Voraussetzungen für den Empfang der Botschaften aus der anderen Richtung schaffen. Und zwar nicht nur in einer Hinsicht, sondern in sämtlichen Bereichen: ob evolutorisch, anthropologisch, technisch oder mental. Denn nur so kann die Botschaft, das Wort erhört werden. Abraham baute zuerst dem HERRN einen Altar und rief danach den Namen des HERRN an (1. Mose 12,8).
Über den Angerufenen schreibt Hans Jonas: "Mit dem Erscheinen des Menschen erwachte die Transzendenz zu sich selbst und begleitet hinfort sein Tun mit angehaltenem Atem, hoffend und werbend - und, wie ich glauben möchte, sich ihm fühlbar machend, ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen: denn könnte es nicht sein, daß das Transzendente durch den Widerschein seines Zustandes, wie er flackert mit der schwankenden Bilanz menschlichen Tuns, Licht und Schatten über die menschliche Landschaft wirft?"

Deutsch von Madeleine Merán

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