Spuren – überall.

Einige Bemerkungen zur Religiosität der Region Ungarn
und seiner Umgebung

Spuren von Religiösem gibt es überall. – schrieb ein Freund, als ich erwähnte, was mich gerade beschäftigt. Tatsächlich gibt es solche Spuren überall, wo es Menschen gibt. In den Häusern, auf den Märkten, in den Medien. Und es braucht gar nicht eine der vielen etablierten Religionen sein. Man glaubt an Heilsbotschaften verschiedener Heilpraktiker und Unheilpraktiker, folgt dem Werbewort so vieler (Frohe)Botschaften versprechender Bild- und Tonträger.
Religiosität ist anthropologische Gegebenheit. Eine menschliche Konstante, nur die zeit- und kulturgebundene Verteilung seiner “Gegenstände“ zeigt verschiedene Muster.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich im Grunde genommen das ungarische Universum nicht besonders von anderen (mittel)europäischen Universen. Einige Spezialitäten müssen jedoch kurz erwähnt werden: Neben neuen Synkretismen, Esoterismen aller Art dominiert der alte nationale Paganismus – wie in allen retardierten Regionen unseres Kontinents. Es ist jedoch eine “renovierte” Version, neben christlichen Deckfarben zeigt er auch oft anthroposophische Allüren. (Das Groteske an diesem “organischen” Naturpolytheismus zeigt sich u.a. in seiner Boden- und Wurzelverehrung – wobei man bedenken muss, dass die Anhänger Abkömmlinge der zuletzt angesiedelten Nomaden Europas sind.) Das dominante Element ist jedoch in allen religiösen Strömungen – handelt es sich um christliche oder nichtchristliche – das gnostisch-manichäistische. Es hat sich im vorigen Jahr – es war ein Wahljahr – breit und offensichtlich manifestiert. Durch die geschickt ausgeübte und mit ungewöhnlichen Marketingtechniken verbreitete machiavellistische Machtpolitik der vorigen Regierung gipfelte es in einer “gnostischen Aussschweifung”, wie ein katholischer Theologe formulierte.

In seinem eben erschienen Buch Religion als Risiko. Geist, Glaube und Gehirn schreibt der Gehirnforscher und Neurophilosoph Detlef B. Linke: “Wenn man die Religion als Begleiter der menschlichen Evolution betrachtet, dann lässt sich die geistige Entwicklung des Menschen als zunehmende Einsicht in seine religiöse Beziehung beschreiben”.

Zu Sichtbarkeit, zur Einsicht ist Licht unerläßlich. Licht, Lumière, Aufklärung. Die Theologie, das Nachdenken über Gott, (hat) die Aufklärung selbst hervorgebracht – sagte der berliner Philosoph Hannes Böhringer in dem Gespräch mit Magyar Narancs - Theologie in der biblischen Tradition ist das Wort Gottes, seine Selbstaufklärung, Ausgangspunkt jedes weiteren Nachdenkens über ihn. Aus der Aufklärung über ihn ist dann eine Aufklärung von ihm (weg) geworden. Dank dieser Bewegung ist ein großer Teil der Theologie selbst fortgerissen worden und gewissermaßen vor der Aufklärung untergetaucht, existiert aber verwildert und verwahrlost weiter und taucht z.B. in der romantischen und modernen Kunst auf.

All die heute anzutreffenden religiösen Phänomene stehen im Zeichen der Postmoderne. Gegenüber ihrer modernen Vorgeschichte schmückt sich die Postmoderne gerne mit religiösen Referenzen. Ihre Hauptmerkmale sind Beliebigkeit, Unverbundenheit und Historismus.

Für den postmodernen Historismus ist Vergangenes ein Magazin der Formen und Figuren. Die digitalisierten Speichermedien machen Archive ferner Zeiten und Orte mit einem Mausklick zugänglich. Durch Kollagierung- und Insertierungstechniken aller Art werden die Reservoiren aus den Lagerräumen schnell auf die Benutzeroberfläche gebracht.

Das Aneignen von Fremdem, Vergangenem ist mühsam und braucht gewisse Vertiefung, wiederum geht das Zitieren und Reziklieren – besonders mit Computern - leicht und ist konform.

Inmitten der historisierten Bild-, Sprach-, Klang- und Textlandschaften erscheinen selbst die überkommenen Modi der religiösen Traditionen als postmodern und werden auch so akzeptiert. Die Rezitation heiliger Texte scheint den neueren Zitierungsverfahren sehr ähnlich, wie auch überkommene Sprachgewohnheiten mancher Gläubiger und Kleriker. Oft ist die Ähnlichkeit nicht scheinbar, sondern wesentlich: das bloße Gebrauchen von Vorgefundenem, von Überkommenem, ohne die geringste Mühe des Aneignens, des Bedenkens, des Erfahrens.

In der wohlbeleuchteten Postmoderne lassen sich nicht nur neue Lichtgebilde, sondern auch neue Schatten beobachten. Damit geht ein verstärkter Verdacht gegenüber der ganzen Moderne einher. Neben der neuen Unbefangenheit gegenüber Religion zeichnen sich merkwürdige Veränderungen in der Selbstdeutung mancher konfessioneller Gläubiger ab. Ghislain Lafont, französicher Benediktiner hat daran aufmerksam gemacht, dass die Versuchung groß ist, dass die Katholiken sich in der Rolle jener gefallen, die `Recht hatten`, die es `schon vorhergesagt hatten`, und die Moderne schon beerdigen, ohne jemals die Begegnung mit ihr gewagt zu haben; und dass sie, wenn auch nicht führende, aber doch eine`bewegende` Rolle in der radikal antimodernen `Postmoderne` einnehmen.

Modernität läßt sich aber nicht so leicht eliminieren - letzten Endes ist Postmoderne auch eine Art Moderne. Und der moderne Verdacht - oder feiner formuliert: die Skepsis - vertieft sich durch die Erfahrung mit der postmodernen Religiosität zusätzlich. Wenn nun Religion und Philosophie ihre Überzeugungskraft verlieren – schreibt in seinem letzten Buch, Auf der Suche nach Einfachheit, Hannes Böhringer - , wenn sie als Fiktion, als Dichtung erscheinen, wenn ihr Kunstcharakter hervortritt, dann kommen auf die Kunst die Funktionen der Religion und der Philosophie zu.

Offensichtlich gibt es eine Verschiebung der Proportionen sowie auch eine neue Verteilung der Funktionen. Bei dieser “funktionellen Veränderung” kommen verschiedenen Künsten nicht nur religiöse Funktionen verstärkt zu, sondern es wird noch mehr auf ihre wahrnehmenden Fähigkeiten gesetzt.

Um sich auf das Unerwartete, auf das Neue entsprechend einzustellen, genügt nicht das bloße Warten. Um es überhaupt zu Entdecken, bevor es eintrifft, muß es eine Bereitschaft für das Aufnehmen, für das Wahrnehmen geben. Um die entsprechenden Fähigkeiten parat zu halten raten uns alte wie neue Schriften – vom Neuen Testament bis hin zu neuorologischen Sachbüchern. 

Die neuere Hirnforschung hat aufgedeckt, dass Wahrnehmung ein aktiver Vorgang ist, der gewöhnlich komplexe sensomotorische Mechanismen ins Spiel bringt. Und dass das Wahrnehmungserlebnis nicht sensualistisch strukturiert ist. Das Wahrnehmen ist eine Aktivität. Und die besten “Aktivisten” sind unumstritten die Künstler und Künstlerinnen. Fabrizio Plessi, Bildhauer und Video-Künstler hat diese spezifische Fähigkeit folgendermaßen beschrieben: “Ein Künstler ist ein Tier mit großer Sensibilität, mit weitreichenden Antennen, die ihn befähigen, Probleme zu sehen und zu ahnen, die andere Menschen nicht sehen”.

Auf die Beziehung Religion bzw. Theologie und Schriftkunst bezogen bedeutet dies ungefähr, dass nicht die Kunst die Theologie braucht, sondern die Theologie braucht die Kunst – wie es der ungarische Literaturwissenschaftler und Theologe Marcell Mártonffy schrieb.

Der Literatur kommt in der heutigen Situation noch eine besondere Rolle und dadurch eine heikle Position zu. Ein Schriftsteller hat es nicht leicht mit seinem Rohstoff, mit der Sprache. Denn nicht nur Gegenstände, Bücher veraltern, verschleißen durch Gebrauch, sondern auch Sprachen, Sprechweisen nutzen sich ab. Und durch die Wörter werden auch Denk- und Sichtweisen, Perspektiven abgenutzt. Oft begangene Wege der Betrachtungsweise verfallen, bieten keine wahre Aussichten mehr, eher Erinnerungsbilder einstiger Ausblicke: Bilder der Nostalgie, Bilder der Phantasie. Trugbilder, Götzenbilder. Der oft geübten Traditionspflege dieser Art, der Idolatrie entspricht in Schriftkulturen die Textolatrie. Die Schriftverehrung erscheint nicht ausschließlich in Buchkulten, wie etwa im Islam, sondern auch in viel aufgeklärteren Kulturen.

Gute Schriftsteller folgen dem alten Rat, der besagt: Trage nicht den Namen auf das Wahnhafte - so übersetzten Buber und Rosenzweig die Bibelstelle Exodus 20,7. (Bei Luther ist es etwas vereinfacht: Den Namen nicht missbrauchen.)
Auf Schriftkunst bezogen bedeutet es etwa: die Namen, die Wörter, die uns zur Verfügung stehen, nicht verschwenden, nicht auf Wahnhaftes tragen. Um dieser Gefahr auszuweichen, wählen einige den umgekehrten Weg: sie gehen lieber via negativa. Aus Behutsamkeit, oder aus Verdacht, oder auch aus Vorsicht. Sie nehmen sozusagen schon von Anfang den Rat zum Umkehren an: sie kehren um. Wechseln die Angehensweise, die Perspektive.
Für einen Perspektivenwechsel solcher Art gibt es in der neueren ungarischen Kunst eine beispielhafte Geschichte.

Es handelt um den Maler Béla Veszelszky, der es liebte, lange Stunden in dem Garten seiner Budapester Wohnung mit dem Studium des Sternenhimmels zu verbringen. Damit ihn bei dieser Lieblingsbeschäftigung die Vorbeigehenden nicht störten, begann er, auf Freundesrat übrigens, eine Grube zu graben. Die Arbeit hat er im Jahre 1956 begonnen und wurde erst 1959 fertig. Er arbeitete leidenschaftlich, bestimmte Stunden des Tages verbrachte er mit schaufeln. Bei dieser, auch als Exerzitie zu betrachtenden Tätigkeit zogen ihn besonders die Bodenschichten an, die sich nacheinander auftaten. Es faszinierte ihn in einem solchen Maße, dass er erst viel tiefer als geplant aufhörte zu graben.

Veszelszky observierte aber nicht nur auf diese unmittelbare, sozusagen vorsteinzeitliche Weise den Sternenhimmel, sondern auch durch ein astronomisches Fernrohr seines Freundes. Die Resultate dieser Himmelsbetrachtungen - die mit dem Studium astronomischer Bücher verbunden waren - finden sich auf seinen Gemälden. Nicht als ob er den nächtlichen Himmel mit seinen unzähligen Lichtquellen auf die Leinwand bannen wollte. Unter seinen, mir bekannten Bilder befinden sich keine Himmelsgemälde; er malte fast ausschließlich die Landschaft, die er aus dem Fenster seiner Wohnung sah, und Porträts der ihm Nahestehenden (seiner Töchter und Freunde); sowie Selbstporträts, weil er, wie er sagte, sich jederzeit zur Verfügung stand.

All die Bilder aber, die im Tageslicht stehenden Landschaften wie die Menschengestalten malte er auf seine einzigartige Weise wie himmlische Phänomene: aus vielen farbigen Lichtpunkten - auf der Kehrseite des nächtlichen Himmels, auf weißem Grund.

Veszelszky hat nicht nur Zwiesprache mit Gelehrten sondern auch mit der Natur geführt. Während seiner Graben-Kontemplationen hatte er das größte Bild der Natur sogar gerahmt vor sich, den bestirnten Himmel im Rahmen der Erde, in den Rahmen der Bodenschichten seiner kreisförmigen Grube gefaßt.

Die Angehensweise solcherart gewechselt, auf die Kehrseite gehend, tun sich neue Perspektiven, neue Sichtweisen auf. Sogar wohlbekannte Wörter bekommen einen neuen Glanz. Verbraucht scheinende Wendungen klingen unbekannt. Wie es nicht wenige gelunge Werke der neueren ungarischen Literatur bezeugen.

 

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