Wie steht es mit der Suveraenitaet?
Von J.A. Tillmann

Waehrend einige immer wieder die abgedroschen Phrasen von Selbstbestimmung und "Nichteinmischung-in-die-inneren-Angelegenheiten" herunterleiern, vollzieht sich anscheinend unaufhaltsam und in den verschiedensten Dimensionen eine Umgestaltung der nationalen Suveraenitaet. Da sind bespielweise die Laender der Europaeischen Union, die momentan im Begriff sind, einen nicht geringen Teil ihrer staatlichen Suveraenitaet abzutreten. Generell lassen saemtliche technische, kulturelle, wirtschaftliche Prozesse den Begriff der Suveraenitaet immer relativer werden. Zunehmend grösser wird der Unterschied zwischen dem, was er suggeriert und dem, was sich tatsaechlich noch hinter ihm verbirgt.
Es genügt ein kurzer Blick auf die nüchternen Fakten. Spaetestens seit Tschernobyl sollte jedem klar sein, dass die Laender der Erde nicht nur durch den Welthandel, Kommunikationstechnologie und Tourismus miteinander verknüpft sind. Schon lange kann es uns nicht mehr egal sein, was in Kasahstan oder Kalifornien in die Athmosphaere geblasen wird - und umgekehrt. Auf der anderen Seite wird die Selbstbestimmung der Staaten und die Suveraenitaet ihrer Regierungen immer staerker von transnationalen Unternehmen eingeschraenkt, die von keinerlei politischen Gemeinschaft gewaehlt, geschweige denn kontrolliert werden. Die Einnahmen der 150 grössten Multis sind heute höher als das Bruttonationalprodukt von zwei Dritteln der Laender der Erde. Immer mehr erstreckt sich der Einfluss dieser Finanzmacht nicht nur auf die Wirtschaft, sondern auf immer weitere Gebiete der Kultur und des öffentlichen Lebens. Wie es der Englaender Mark Stahlman formuliert: Dominate culture today and you control the laws in 15 years.
Das Problem der Suveraenitaet stellt sich noch schaerfer im Hinblick auf den Besitz von Atomwaffen, ein Gebiet, auf dem sich kürzlich mit Indien und Pakisten zwei weitere aktive Teilnehmer eingestellt haben. Damit werden zugleich die alten Diskussionen um die Suveraenitaet in einen neuen Kontext gestellt. Nach einem umstrittenen Ausspruch des Rechtsphilosophen Carl Schmitt gilt jener als souveraen, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Es hat den Anschein, als haetten sich die beiden zuvor genannten Laender für letztere Begriffsbestimmung entschieden...
Über eine begrenzte Suveraenitaet verfügen freilich auch die Ministaaten. Die wirklich suveraenen Staaten sind heute indessen die, welche über Atomwaffen verfügen. Bei der Jagd nach diesen Waffen waren diese daher nicht nur von möglichen Konflikten mit Nachbarlaendern und ihrer Bedrohung durch sie motiviert, sondern von dem zu erwartenden Prestigezuwachs in der internationalen Arena. Nach einer jahrhundertelengen Demütigung als Kolonie und einer anschliessenden Bevormundung durch Supermaechte betrachten gerade die Schwellenlaender die Erlangung von Atomwaffen als Bedingung für das Erreichen ihrer wirklichen Suveraenitaet. Nicht ganz ohne Grund, sind doch Staendige Mitglieder im Sicherheitsrat der UNO unabhaengig von ihrer Grösse bisher nur Staaten des "Atomklubs".
Angesichts dieses Runs auf derartige Suveraenitaetssymbole müsste auch dem letzten von uns klar werden, dass unsere Welt anderer Institutionen und Herangehensweisen zur Lösung der anstehenden Probleme bedarf. Diese unvermeidliche Umordnung der Werte - unter besonderer Berücksichtigung der nicht-euroatlantischen Kulturen - laesst auch das Problem der Suveraenitaet in einem völlig anderen Licht erscheinen. Angekommen an der Jahrtausendwende steht nicht nur die politische Praxis vor einem Paradigmenwechsel. Auch die bisherigen Begriffsrahmen des Denkens über die (Welt-)Polis bedürfen einer Erneuerung.
Es muss endlich eingesehen werden, dass die Selbstbestimmung der Erdbewohner gehört und das man sich von dem bisher verwendeten Begriff der nationalen Suveraenitaet abwenden muss. Die effektive globale Kooperation darf nicht laenger ausschliesslich ein Charakteristikum des transnationalen Kapitals oder des organisierten Verbrechens sein. Die Erledigung der gemeinsamen Angelegenheiten der Weltgemeinschaft verlangt nach Institutionen, die gegenüber den ihen vertretenen Nationen kompetent und durch sie legitimiert sind. Dazu gehört der neuerlich gegründet Internationale Gerichtshof. Laender, die sich wie China gegen dessen Schaffung aussprachen, beriefen sich auf die "Unverletzbarkeit ihrer nationalen Suveraenitaet". Die USA erhoben hingegen ihr Wort dagegen, da sie durch die neue Organisation ihre Rolle als Supermacht in Gefahr gebracht sehen. Dieser Einwurf zeigt zugleich, wie zweifelhaft die Funktion einer Supermacht in Hinsicht auf dieses Aufgabenfeld ist.
Gegen das Gerede von der Suveraenitaet können freilich auch viel einfachere Argumente angeführt werden. Wenn beispielweise mein Nachbar verrückt wird und anfaengt, seine Famielie zu massakieren, werde ich mich natürlich wenig um die Suveraenitaet des Nachbargrundstückes scheren un der bedraengten Familie zu Hilfe eilen. Im banachbarten Serbien werden unter dem Deckmantel der Suveraenitaet bereits seit Jahren verschiedene Völkergruppen in ihrer Existenz bedroht. Beim Schüren des dortigen Nationalismus spielen die serbischen Medien eine entscheidende Rolle. So könnte man auf die nicht abwegige Idee verfallen, statt einer militaerischen Intervention zunaechst die Medien, insbesondere die elektronischen, unter internationale Kontrolle zu stellen. Die technischen Voraussetzungen dazu sind vorhanden. Es müsste lediglich der Begriff der Suveraenitaet überdacht werden. Dabei würde man letztlich auch darauf kommen, dass der für Ausstrahlung der Propaganda benutzte Frequenzbereich ebenso zur Erde gehört, wie der Boden, auf dem die Sendeanlagen stehen. Und die Erde geht uns alle an.

< main page | etcetera >