Zur Rekonstruktion der Nation
- Ungarische Aussichten -
Von József A. Tillmann

"Ich würde jetzt Konkurs anmelden", schreibt Péter Nádas in seinem Ende letzten Jahres erschienenen Essay "Freiheitstraining" und kommt zu der Schlußfolgerund: "Entweder wir besprechen die relativ einfachen logistischen Probleme, einigen uns, räumen auf und reparieren, oder es gibt keine Lösung." In diesem vielbeachteten Aufsatz wurden Lösungsvorschläge formuliert.

Forschungen der letzten Jahre ergaben eindeutig, daß sich nicht nur die Erinnerung an die persönliche, sondern auch an die kollektive Vergangenheit von Altersstufe zu Altersstufe ändert. Vergangenheit entstehe überhaupt erst dadurch, konstatiert Jan Assman in seinem unlängst auch auf ungarisch erschienenen Buch über das kulturelle Gedächtnis, daß der Mensch in Beziehung zu ihr trete. Und diese Beziehung zur Vergangenheit wird vor allem durch die Welt der jeweiligen Gegenwart geformt. Dennoch scheinen die Inhalte der kulturellen Erinnerung, die nationalen Traditionen zeitlos, von der Zeit unberührt zu sein. Allerdings weist Assman, der Leiter der in Sachen Erinnerungsforschung herausragenden Heidelberger Schule, auch darauf hin, daß die sich bei fortschreitender Gegenwart wandelnden Bezugsrahmen die Vergangenheit unablässig neuorganisieren und daß selbst alles Neue immer nur in der Gestalt rekonstruierter Vergangenheit auftreten könne. Die Rekonstruktion der Vergangenheit wurde bei der Herausgestaltung der modernen nationalen Identität zu einer Art Programm, verwirklicht von den Intellektuellen, die dem kollektiven Bewußtsein der neuen Nationalstaaten Gestalt gaben. Wegen der Fülle unterschiedlicher lokaler Traditionen mußten häufig Kommissionen über den "nationalen Charakter" entscheiden.

Derzeit spielen sich weltweit epochale Veränderungen ab, die allenthalben die Frage nach dem Wandel der kulturellen Traditionen aufwerfen. Bei all den Möglichkeiten durch die neuen Medientechnologien, bei dem jetzigen Kommunikationsstand zwischen den Weltkulturen, der beispiellosen Vielfalt und Variationsbreite bildet die Erneuerung der nationalen Kultur ein unausweichliches Thema. Die Rekonstruktion hat immense Bedeutung und läßt sich - auch wenn es an einem Mindestmaß von Konsens fehlt - nicht hinausschieben.

An einem Frühlingstag des Jahres 2000 besuchte ich zwei Familien, die zwei maßgebenden traditionellen ungarischen Kulturkreisen eng verbunden sind: Der eine Hausherr entstammt einer katholischen Ärztedynastie, der andere wuchs bei einem reformierten Pastor auf. Doch die auffälligste Ähnlichkeit bestand in der sagenhaften Unordnung. Schon der Garten glich hier wie dort einer Müllhalde, und im Haus herrschte ein schier unvorstellbares Durcheinander. Aber noch chaotischer als ihre gegenständliche Kultur wirkte ihre geistige. Zwischen den Klassikern der ungarischen und der universellen Kultur, zwischen den Besten der christlichen Denker standen Unmengen antisemitischer Hirngespinste und rechtsextremen Unrats.

Diesem eigentümlichen real-ideellen Gemisch begegnete ich zwar nur zufällig an ein und demselben Tag, doch der Anblick vergegenwärtigt mir bis heute die Grundzüge der konservativen Kultur in Ungarn. Denn dieser Wirrwarr mit seinen sowohl prä- als auch postmodernen Merkmalen beschränkt sich keineswegs auf zwei Familien. Ein solcher Mischmasch ist durchaus charakteristisch für den hiesigen, als "christlich-national" verkündeten Traditionalismus, dessen Sinnesart immer öfter auch in repräsentativen Formen zutage tritt. Ein typisches Beispiel dafür sind die Gebäude der Katholischen Universität "Péter Pázmány" in Piliscsaba. Die einstige Kaserne wurde historisch dekoriert, so daß nun wehrhafte Konturen und gotische Spitzbögen die entblößten Mauern verhüllen. Und im Zeichen "organischer" Bauprinzipien wurde sogar eine hölzerne Kuppelhalle beigefügt. All diese Elemente schaffen ein ebenso widersprüchliches Gesamtbild wie die Schöpfer der Einrichtung und die Gestalter der Gebäude im eklektischen Geist handelten.

Unseliger Bund von prä und post

Wie die meisten ungarischen Traditionskonstruktionen trägt auch der Baukomplex in Piliscsaba in vielerlei Hinsicht postmodere Züge, die allerdings nicht etwa irgendeine Art von Modernität des Konservatismus zum Ausdruck bringen, sondern eher von ungeklärten Wertinhalten, von einem gestörten Sinn für Qualität künden. Hier liegt nicht zuletzt auch die Erklärung für die Affinität des Konservatismus gegenüber der postmodernen Politik.
Die beiden Grundmerkmale des postmodernen Zeitstils sind Ungebundenheit und Beliebigkeit. Im politischen Bereich ist er durch die Ungebundenheit der beliebig gewählten - und gewechselten - Werte sowie des Verhältnisses zu ihnen gekennzeichnet. Diese Politik ist vor allem für die junge Politikergeneration der Gegenwart typisch. "Unter den Generationen des 20. Jahrhunderts", schreibt Péter Tölgyessy "neigen vielleicht die jungen Erwachsenen der achtziger, neunziger Jahre am wenigsten zu wertgesteuerter Handlung." Wobei die Werbeflächen an den Fassaden freilich massenweise "Werte" propagieren, sind doch die PR-Aspekte, über den Machtreiz hinaus, die obersten "Prinzipien" der postmodernen Politik.
All dies kann auch anderswo beobachtet werden, doch im öffentlichen Leben Ungarns besteht die Besonderheit darin, daß sich eine junge Politikergeneration maßgeblich Geltung verschafft hat. Dieser in europäischer Relation einzigartigen Tatsache wurde bisher nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich ihre Folgen schon jetzt weite Kreise ziehen. In ihrem Fall bedeutet die postmoderne Beliebigkeit nicht nur einen Wechsel der politischen Absichten und Inhalte bei taktischen und PR-Erwägungen. Vielmehr deutet die von der jungen postmodernen Partei gelenkte Regierung, während sie die Fassaden mit Flaggen und "Werten" bestückt, auch die Gesetzlichkeit recht zwanglos: "Sie betont in einem fort die Wichtigkeit von Ordnung und bürgerlichen Werten, während sie selbst wesentliche Normen verletzt" (Tölgyessy). Diese Politik gefährdet die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates, da sie ein Beispiel für die beliebige Auslegung der Gesetzestexte liefert: Sie regt zu beliebiger Rechtsbefolgung an. Man braucht sich beispielsweise nicht besonders gut im Rechtswesen auszukennen, um sofort zu durchschauen, daß ein Theaterbau eine öffentliche Angelegenheit ist. Wie überhaupt jede staatlich finanzierte Bautätigkeit, auch der Autobahnbau. (Sonst entstehen Situationen wie einst in Italien, als die Mafia das Betongeschäft in die Hand nahm...)

Dieser Regierungspraxis der "zwanglosen" Rechtsbefolgung ist es in nicht geringem Maße zu verdanken, daß "die Achtung des Gesetzes, die Rechtlichkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz seit der politischen Wende noch nie in einem dermaßen 'unterbewerteten' Zustand war wie heute", konstatierte unlängst László Tóth, ein Mitbegründer des Unabhängigen Juristenforums. Im Hinblick auf die Rekonstruktion der Nation ist es deshalb von gravierender Bedeutung, wie lange die Beziehung zwischen den verirrten Konservativen und den postmodernen Nihilisten andauert und wohin sie führt.

Derzeit scheint die Verbindung für beide Seiten vielversprechend zu sein; der staatlich zelebrierte Vergangenheitskult, die staatliche Unterstützung der "historischen" Kirchen und der Institutionen verschiedener favorisierter Kreise erwecken den Eindruck einer Art national-kultureller Erneuerung. Deren Erfolg ist allerdings - wie jede Rekonstruktion zwecks Imagepflege - langfristig mehr als zweifelhaft. Doch es gibt auch andere Wege, die die ungarische Kultur erneuern können.

Drehbücher der Zukunft

Nach den Feierlichkeiten zum ungarischen Millennium, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend sollte man dem Kommenden unbedingt Aufmerksamkeit schenken. Im gegenwärtigen ungarischen Kulturwirrwarr lassen sich zwei deutliche Kraftlinien ausmachen. Die eine führt in die gleiche Richtung wie der Hauptstrom der verschiedenen Bereiche der "globalen" euroatlantischen Weltkultur. Die andere folgt den aus unterschiedlichen Geschichtselementen bestehenden Traditionen. Beide sind ziemlich breit gefächert, haben aber jeweils eine markante Trennlinie. Im ersteren Fall erstreckt sie sich zwischen den mehr oder weniger ungebrochenen Anhängern des modernen, aufgeklärten Ideenkreises, den "Modernitätstraditionalisten", und deren kritischen Umdeutern. Im letzteren Fall tritt sie vor allem unter den Strömungen der universellen Kultur christlicher Tradition und der "nationalen" Überlieferungen, gefärbt mit manch neuheidnischer Religiosität, zutage. Diese Charakterisierung ist zweifellos übertrieben, sie entbehrt der Überlappungen, und dennoch beschreibt sie typische, weitverbreitete Hergänge und Bestrebungen - von Objektgestaltungen über Dienstleistungen bis zur Herstellung symbolischer Güter.

Wenn wir diese Grundtendenzen zukunftsbezogen in Augenschein nehmen, müssen wir wachsende Differenzen einkalkulieren. Bei unverändertem Lauf der Dinge - und entgegengesetzten, "konservativen" Machtbestrebungen jeder Art - ist mit einem weiteren Erstarken der ersteren zu rechnen: Die geistige und gegenständliche Kultur, die Welt der Gedanken und Formen wird immer "eurokonformer" zu einem Teil des immer gleichartigeren Weltmarktes. Gleichzeitig pflegt letztere weiter ihre eigene Kultur, richtet ihre eigenen Institutionen ein. Und dabei verliert sie noch mehr an Bindung zur Lebenswelt ihrer unmittelbaren Umgebung, büßt also Vitalität und Plastizität ein. Sie wird isoliert und eingelagert, wie ein Teil der nationalen Freilichtmuseen.

Sollte der gegenwärte Trend der Weltkultur und Weltwirtschaft aus irgendeinem Grund umschlagen, dann müssen die beiden Kulturen in anderen Proportionen und unter noch schärferen Gegensätzen zusammenleben, den Manipulationen der Macht und den Extremen noch stärker ausgesetzt.

Weder das eine noch das andere ist sehr vielversprechend. Bei letzterem, dem Sturz in die nationale Regression und den damit verbundenen inneren und äußeren Kollosionen, ist das evident. Die erstere - und wahrscheinlichere - Version birgt weniger offenkundige Gefahren. Und zwar nicht nur wegen des eventuellen Mangels an kulturellen Eigenheiten in den Hochkulturen. Laut Wirtschaftsprognosen werden sich auf dem Weltmarkt der Zukunft lediglich Produkte mit einem großen Wissensschatz und markanter Formenkultur absetzen lassen. Der Bedarf an belangloser Massenware wird - noch stärker als jetzt - aus Asien gedeckt. Im Wettstreit der Kulturen, der sich nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet abspielt, wächst neben der Kreativität auch der Wert der Alterität, der Verschiedenheit. Dies bedeutet nicht bloß Dekorativität und läßt sich nie durch Image ersetzen. Allerdings wird auch nichts dadurch wertvoller, daß es total anders ist, denn mit völliger Abweichung kann man meistens nichts anfangen, weil es in keine Schublade paßt. An Wert gewinnen so subtile Merkmale der Verschiedenheit, wie sie jede Hochkultur zu würdigen weiß. Fehlen sie, muß im Falle der ungarischen Kultur mit einer zunehmenden Gehaltlosigkeit gerechnet werden, die dann zu ökonomischen Nachteilen und sozialen Spannungen führt.

Überwindung der Spaltung

Die Technologien der Jahrtausendwende, die dabei entstandenen Kommunikations- und Wirtschaftsprozesse sind ohne Beispiel. Sie bringen eine Fülle neuer Situationen, neuer Probleme auf den verschiedensten Ebenen. Die früher beschrittenen Wege, bewährten Konzepte und Verhaltensweisen enthalten keine geeigneten Antworten auf diese Herausforderungen. Weder die gängigen, mehr oder weniger "modernen" Methoden noch die verschiedenen "konservativen" Konstruktionen bieten Lösungen. Auch die westlichen Modelle sind trotz etlicher positiver Elemente nicht eindeutig befolgenswert. "Was die Weltentwicklung angeht", sagt der Soziologe Wolf Lepenies, Leiter des Berliner Wissenschaftskollegs, "kommen wir immer mehr in Situationen, in denen wir alle nicht wissen, wie die Lösungen aussehen... Aber wenn wir zusammen sind, können wir voneinander lernen..., dann profitieren wir wechselseitig davon."

Aus diesem Grund plädiert er in seinem Forschungsinstitut - und dessen zahlreichen Partnereinrichtungen in Europa und Asien, so auch im Collegium Budapest - für gemeinsame Lernprozesse, an denen Forscher aus verschiedenen Kulturen teilnehmen. Seines Erachtens befinden wir uns in einer Situation, "wo wir voneinander lernen können, miteinander lernen können, wo es aber niemanden gibt, der einen Wissensvorsprung hat.

Aber wir werden immer stärker gemeinsam in Situationen kommen, in denen es keine Wissensvorsprünge gibt, und da werden wir gemeinsam miteinander lernen müssen, und das ist eine völlig neuartige Situation in der Welt."

Die Überwindung der Spaltung, die die ungarische Kultur und immer stärker auch die öffentlichen Zustände prägt, ist von vorrangigem nationalen Interesse. Hier müßte es Stellen geben, an denen versierte Vertreter unterschiedlicher Traditionen zusammenarbeiten können. Menschen, die Verständnis füreinander haben und miteinander etwas erreichen wollen. Statt des gegenwärtigen Trends, die Institutionen zu spalten und zu "parallelisieren", sollte man im Zuge der Erneuerung geeignete Werkstätten für gemeinsame Forschungen und geeignete Foren für Dialoge ins Leben rufen. Nur so kann es bei den abweichenden Traditionen, den unterschiedlichen kulturellen Mustern zu einer fruchtbaren und erstarkenden Wechselseitigkeit kommen. Nur so kann sich herausstellen, welche Teile der verschiedenen Traditionen fähig sind, sich gegenseitig zu befruchten, welche Elemente fähig sind, harmonische Beziehungen einzugehen, sich nicht nur zu vermischen, sondern einander zu stärken.

Die Fusion verschiedener Elemente der ungarischen Kultur hat bereits mehrfach ausgezeichnete Resultate gebracht. Doch diesmal geht es um mehr: um die unerläßliche, gemeinsame Erneuerung der Kultur, um die Rekonstruktion der Nation. Dies erfordert eine Bestandsaufnahme ihrer Komponenten, eine Abwägung der alten und der neueren Elemente, eine Befreiung von allem Plunder. Nur so kann eine Nation geistiger und gegenständlicher Kultur entstehen, wie Endre Nagy sie um die vorige Jahrhundertwende beschrieben hat: "Ungartum ist mehr als Rassentum. Ungartum ist schöpferisches Prinzipium, das jeden, der in seine Gewalt gerät, glorreich nach seinem Bilde formt."

Indessen zeigen die Bestrebungen der gegenwärtigen Regierung nicht unbedingt in die skizzierte Richtung. Davon künden ihre Taten, Machtvorhaben und symbolischen Gesten gleichermaßen. Die neuen kulturellen Institutionen und die entstehenden Gebäude reflektieren die "Werte" der chaotischen postmodernen Mittelmäßigkeit. Und bei der Wahl der führenden Politiker und Architekten zeigt sich nicht etwa allgemeine Übereinkunft, sondern im Gegenteil allgemeine Verachtung in den eigenen Reihen. Die Strategen der führenden Regierungspartei, schreibt ihr innerer Analytiker Péter Tölgyessy "möchten das Zentrum entzweien und liquidieren, indem die öffentliche Meinung in zwei, unversöhnlich verfeindete Lager gespalten wird".

Gleichwohl besteht die Möglichkeit der Zusammenarbeit, besteht eine Gemeinschaft, in heimischer wie in europäischer Relation, die den gemeinsamen Lernprozeß fundiert: "Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut" (Ortega y Gasset). Mit anderen Worten: Wir sind hoffnungslos miteinander verkettet - mit kulturellen Banden, die nicht nur das Karpatenbecken, sondern ganze Kontinente durchziehen.

Alles andere ist nur eine Frage der Absprache, der Übereinkunft, der Lösung.


Aus dem Ungarischen von Madeleine Merán

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