Die Europa-Erzählung und die Fassade der Traditionen

Von József A. Tillmann

Für Europas erste Vereinigung sorgte der Logos des Christentums, der Geist des Evangeliums und das Netzwerk der daraus erwachsenden Institutionen. Auch die jetzige Vereinigung hat einen "Geist", bei dem es sich jedoch um einen ganz anderen Logos handelt: Die heutige Integration entsprießt dem Umstand, dass die Entwicklung von Kapital und Technologie neue und größere, transnationale Schritte nahm. Nicht die Einsicht, durch die Schöpfungsgemeinschaft verschwistert zu sein, und auch nicht die Institutionalisierung der Tradition des europäischen Humanismus machten die Grenzen der EU durchlässig, sondern das Verlangen nach unbegrenztem Kapitalstrom, nach ungehinderter Produktion und Vermarktung, geltend gemacht von einschlägigen Personen beziehungsweise Gruppen mit beträchtlicher wirtschaftlicher und anderweitiger Macht. Die Herstellungs-, Vertriebs- und Umsatztechnologien der Waren sprengten den Rahmen der Nationalstaaten. Serienfertigungen, die sich erst bei einem 100-Millionen-Markt rentieren, erfordern nicht nur eine Vereinheitlichung der Normen auf europäischem Standard, sondern auch eine marktkonforme Gestaltung der "sozio-ökonomischen Umgebung" - von der abgestimmten Hühnereigröße bis zur Rechtsharmonisierung.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich habe absolut nichts gegen einen durchlässigen Raum Europa und gegen intensivere Kontakte, auch nicht gegen die Aufhebung der dialektbezogenen Grenzen, ja ich bin sogar mächtig gespannt auf den dereinstigen Heimgang der Operettenländer österreichischen Typs. Ferner begehre ich keine nationalen Freilichtmuseen, konstruiert nach entsprechenden Ursprungsfantasien, in deren kunstharzkonservierten Länder-Vitrinen Diakone im Namen "nationaler Gesinnung" manch Schau-Riten für ihre Nationalgötter zelebrieren.
Gängige Betrachtungsweisen sehen in der Technologie eine Art neutrale Entität, die bei bravem Einsatz Positives und bei bösen Absichten Schlimmes bewirkt. Im Gegensatz dazu bin ich - nicht allein - der Meinung, dass die moderne Technologie über die Erfüllung der jeweiligen menschlichen Ziele und Vorhaben hinaus auch ihrem eigenen Logos Geltung verschafft.

Das beste Beispiel dafür bietet jene Technologie, die wir alle mehr oder weniger gut kennen: die Medientechnologie. Die Existenz eines Mediums wie etwa des Fernsehens verlangt - gleich einer Maschinenreihe in der Produktion - beständigen Betrieb: Man muss es permanent mit Beiträgen bestücken sowie deren Konsum gewährleisten. Selbst wenn es nichts mitzuteilen gibt, muss etwas mitgeteilt werden. Selbst wenn es an Meldungen mangelt, muss die Nachrichtensendung gefüllt werden. Wobei es nicht nur um Leerläufe oder Redundanzen geht. Die Technologie des Mediums, der Logos seiner Technik versammelt die Bestrebungen des Menschen um sich und ordnet sie neu. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan gelangte bereits Anfang der sechziger Jahre zu der Erkenntnis, dass "das Medium Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens gestaltet und steuert". Meines Erachtens geht es beim Logos der Technolgie um mehr: nicht nur um die Gestaltung von Ausmaß und Form des menschlichen Zusammenlebens, sondern eher von dessen Ziel und Inhalt. Ein Fertigungsapparat muss nach seiner Entstehung beständig funktionieren, das Erzeugnis braucht Markt und Nutzung, also Verbrauch - und zwar unabhängig vom vorherigen Bedarf. Den Bedarf schafft die neue Technologie selbst. Jede neue Technologie wecke das Verlangen und die Sehnsucht nach noch mehr, konstatiert der Berliner Philosoph Hannes Böhringer.

Im Banne des Fließbandfortschritts leben immer mehr Menschen im Dienst der Technologien. Dazu gehören nicht nur Entwicklung, Herstellung und Betrieb, sondern auch Verkauf, Werbung und Verlockung. Trotz aller Vitalität des spirituellen Marktes, der Versorgung und Konsumierung von synkretischen religiösen Derivaten in breiten Kreisen grassieren vor allem die Kulte der Technomagie und der Technophilie. Die Prophezeiungen der Konstruktionspioniere lassen schlussfolgern, dass die Menschen in gar nicht allzu ferner Zeit scharenweise von den Technologien abhängig werden. Der Diener (die Dienstleistung) macht sich - wie Hegel sagt - unentbehrlich und wird so zum Herrn. Hans Moravec, Forscher im Robotistik-Labor am Massachusets Institute of Technology, meint, die Menschen der Zukunft werden, überrollt von der Technoevolution, in einer Art Reservat leben.

Will man die Beziehung zwischen diesen Prozessen und Europas geistigen Traditionen untersuchen, liegt es auf der Hand, das Beispiel Gegenwartsarchitektur unter die Lupe zu nehmen. Hier ist das Verhältnis von Technologie und Tradition - zumindest in der Bauphase - ungemein transparent. Bei den meisten Bauten werden als erstes das Eisenbetongerüst beziehungsweise das Mauerwerk fertiggestellt. Es folgt die Verschalung mit Marmor, Kupfer und Edelstahl sowie ein Griff in die Schatztruhe historischer Formelemente: ein geborstener Tympanon für die Fassade, eine schiefe dorische Säule oder auch ein gotischer Spitzbogen am Eingang. So erhält die postmoderne Architektur ihr Profil - mit allem, was wünschenswert scheint: Hightech im Hintergrund und aktualisiertes Erbe an der Stirnseite. So steht die Oberfläche des Gebäudes getreulich im Dienst der Relation zum Publikum. Der sogenannten Public Relation. Dergleichen PR ist auch im europäischen Politgeschehen präsent, wo sie ähnliche Merkmale trägt: Den Potentaten ist daran gelegen, die Eisenbetonkonstruktion ihrer Machtabsichten im verhüllenden Schmuckgewand der Tradition darzustellen. Für diese Deckmäntel verwenden Werbeprofis gern fromme Symbole - und ihre Texter Bibelzitate.

Im Gegensatz zum Fundus der ideologischen Moderne, in dem nur die "fortschrittlichen" Ideen Platz hatten, sind im Stilbasar der Postmoderne auch religiöse und moralisierende Dekorationen begehrt. Denn: Der Wunsch nach Belebung der systematischen Gleichförmigkeit braucht nicht ideell (ästhetisch) fundiert zu sein, unter diesem Aspekt geht alles (Paul Feyerabend). Je bunter, desto phänomenaler. Die Subkulturen kolorieren die betongraue Eintönigkeit des Systems. Dazu gehören heutzutage nicht mehr nur die verschiedenen Subkulturen von Jugendlichen und Ethnien, sondern nahezu alles: die einzelnen Regionen der einstigen Hochkultur, das Milieu der Akademien und Universitäten ebenso wie die Kultur der Glaubensgemeinschaften. In ihnen kann man aufgehen, sich heimisch fühlen. Doch in dieser bequemen Geborgenheit steckt auch eine Gefahr: über ihr das rundum tobende, küstenfressende Meer zu vergessen. Wir sind geneigt, in weichen Sesseln versunken, unsere Gedanken mit dem Lauf der Welt übereinstimmen zu lassen. Diese Illusion sollte schon deshalb überprüft werden, damit wir nicht ungewollt ein Instrument jener Kräfte werden, denen wir am allerwenigsten dienen möchten.

Letztendlich habe ich den Eindruck, dass die Problematik Religion, Europa und die verschiedenen Identitäten im Hinblick auf ein Zukunftsbild überdacht werden müsste, wie es der ägyptische Jesuitenmönch Henri Boulad projiziert: "Stellen wir uns ein zukünftiges Drehbuch über Ihre Stadt in hundert Jahren vor. Fünfzehn buddhistische Tempel. Zehn Scientologiezentren. Dreißig Moscheen. Drei oder vier katholische Kirchen. Zwei oder drei protestantische Kirchen." Daraus ergibt sich zum einen, dass das Christentum auch in der Versprengtheit und in der Diaspora den älteren Geschwistern folgt. Und dann müssen natürlich auch unsere "etablierten" Kirchen unverzüglich ihren Wunschtraum von der Nationalkirche aufgeben. Sonst werden sie nicht etwa das Licht der Welt verkörpern, sondern die nationale Tapete mimen - als Hintergrund und Kulisse beim gerade aktuellen Schauspiel der Macht.

(Beitrag auf der Konferenz "Die Rolle der Religionen bei Ungarns europäischer Integration)

< main page | etcetera >