Skizzen über den amerikanischen Weg

von J. A. Tillmann


Max Weber machte im Jahre 1919 eine überraschende Aussage: in seinem Vortrag über Wissenschaft als Berufung gelangte er zu der Feststellung, daß „sich das Leben an den deutschen Universitäten, wie überhaupt unser ganzes Leben, in wesentlichen Punkten amerikanisiert". Diese Aussage ist vor allem wegen ihres Zeitpunktes beachtenswert. Hinsichtlich ihres Inhaltes gilt sie heute schon als Alltagserfahrung. Im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts war der direkte amerikanische Einfluß auf Wirtschaft und Kultur jedoch im Vergleich zu heute noch verschwindend gering. Für den in Amerika erfahrenen Weber, der längere Zeit dort verbrachte, bedeutete „Amerikanisierung" deshalb vermutlich etwas ganz anderes: das schrittweise Erstarken all dessen, was sich in Amerika ungehinderter und in größerem Maße entwickeln konnte.
Ein zeitgenössischer europäischer Beobachter konnte im damaligen Amerika etwas wie ein konkaves Spiegelbild erblicken, in dem die europäischen Prozesse in vergrößerter und forcierter Form aufschienen. Von daher ist es unzutreffend, in der Amerikanisierung eine von Europa losgelöste Erscheinung zu sehen. Durch die direkte europäische Präsenz der Sieger des I. und II. Weltkrieges - erst auf militärischen, später auf allen Gebieten - änderte sich dies schrittweise. Abweichungen ergaben sich nicht nur aus dem Aufeinandertreffen eines separierten, seinen eigenen Weg gehenden Systems mit seinen ursprünglichen Verwandten. Die entstandenen Differenzen waren weitaus größer. Vor allem kann eine Frage gestellt werden:

Weswegen gingen wir gen Westen?

Die Entdeckung Amerikas fällt zusammen mit einer großangelegten Umordnung der damaligen europäischen Anschauungen. Sichtbarster Ausdruck war das Interesse für außereuropäische Gebiete. Dies ging einher mit der Umbildung eines traditionellen Grundmotivs der jüdisch-christlichen Kultur, dem Gelobten Land, das zunächst für Israel - nach der ägyptischen Gefangenschaft und nach der daruffolgende langen Wüstenwanderung - Ort der erfüllten Verheißung war. Das Land der Verheißung hat sich später für Christus und seine Nachfolger als Reich Gottes herausgestellt - jenseits dieser Welt. So wurde das Land der Verheißung deterritorialisiert: es verlor seine irdische Ausdehnung, wie auch seine territoriale Merkmale und wurde utopisch, d.h. nicht-orthaft. Im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte, durch den langen christlichen Jahrhunderten wurde das Ort der Verheißung schrittweise re-territoralisiert, und als das gesehnte Gelobte Land wieder irdisch.
        Was geschieht mit Utopien, wenn sie sich erfüllen? Wenn sie einen Topos finden und sich materialisieren? Wenn die verschiedenen christlichen Utopisten ihren Wünschen in der Exoterik reales Leben einhauchen können?
Während die Geschichte der katholischen und orthodoxen Kirche von machtgefärbten Entstellungen geprägt ist, die sich aus dem Wunsch einer Bewahrung bzw. Schaffung der ursprünglich der (Tisch-)Gemeinschaft entstammenden Einheit ergaben, so zeichnen sich die „Freien Kirchen" eher durch ein in beliebige Richtung erfolgendes Auseinanderdriften aus. Die oben erwähnten zentripedalen Kräfte werden von Zeit zu Zeit von diesen zentrifugalen Bestrebungen kontrapunktiert und ausgeglichen. Dabei fehlt letzteren allerdings die Bedingung für ein dynamisches Gleichgewicht. Ihre Geschichte stellt sich uns als eine Folge von immer neuen Spaltungen dar. Das grundliegende Motiv der "amerikanischen Religion" ist nach Emerson das self reliance, das Auf-sich-Selbst-Verlassen. Und in eben diesen Prozeß ist auch „die narzistische Einsamkeit des amerikanischen Gotteserlebnis" einzuordnen - behauptet Otto Kallscheuer. Nämlich die Tatsache, daß anstelle der biblisch begründeten Brüderlichkeit und Gemeinschaftlichkeit die „Freiheit, Gleichheit und Einsamkeit des christlichen Menschen" gelangt.
Aus dem Bewußtsein um die Einsamkeit vor dem Erscheinen Gottes und der räumlichen Weite entsteht ein neuer Typ der zwischenmenschlichen Entfernung. Das Halten von Distanz, das zuvor nur zwischen Angehörigen fremder Kulturen typisch war, wurde interiorisiert und breitet sich nun auch innerhalb einer Kultur aus. Dies hat zur Folge, daß sich der Spielraum der einzelnen Individuen gewaltig erweitert. Parallel dazu gelangen die Mitmenschen in eine beispiellose Entfernung zueinander. (Dies könnte auch ein möglicher Erklärungsansatz sein für das Zustandekommen so typischer amerikanischer Institutionen wie der modernen Sklaverei oder neuerdings der political correctnes.) Henry D. Thoreau, die emblematische Gestalt des amerikanischen Individualismus, sprach sich ganz direkt für eine stärkere Distanz unter den Menschen aus, „damit alle animalische Wärme und Feuchtigkeit Gelegenheit hat, sich zu verflüchtigen".

Militante und genußsüchtige Hochkultur

In einer Welt der real gewordenen utopischen Hoffnungen und individuellen Möglichkeiten, "im Herzen des Reichtums und der Befreiung - schreibt Jean Baudrillard - sich immer wieder folgende Frage aufwirft: 'What are you doing after the orgy?' - Was bleibt, wenn alles verfügbar geworden, der Sex, die Blumen und all die Stereotypen von Tod und Leben?"
Auf diese Frage geben mir die um 1990 von Ana Barrado in Florida gemachten Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein konzentriertes und eindrucksvolles Bild. Auf den Fotos sind in irrealem Licht, ja in einer fast überweltlichen Illuminierung, die Kultgegenstände des heutigen Amerika abgebildet: seine Bäder und seine Waffen. Zwischen Swimming-Pools, Rohrsystemen und Rutschen tauchen auf den Hydra-Maniac-Bildern unter Palmen die Leuchtpunkte des Lebens auf. Wie das antike Rom, so hat auch das heutige Amerika zugleich ein genußsüchtiges und kämpferisches Antlitz. Auf einer im Rocket Garden (Kennedy Space Center) gemachten Aufnahme ist ein Besucher zu sehen, der sich fast verliert inmitten von silbrig-weißen Idolen, in den Himmel ragenden Säulen und phallischen Formen. Dieser Techno-Totem-Friedhof, oder besser, diese Kultstätte der Militärtechnologie gibt Zeugnis ab von einer kämpferischen Hochkultur. Hervorragend symbolisiert die zwischen den Raketenkörpern eingebettete Kirche der Militärakademie von West Point die im
20. Jahrhundert geschehene beispielhafte
Sakralisierung des Kampfes und der Militärtechnologie.
Bedeutend mit hinein spielt hier auch die von Rousseau empfohlene neue Zivilreligion, der gemeinsame national-bürgerliche Kult, schließlich ist „der Western, die Mythologie der Neuen Welt, ist Amerikas Zivilreligion" - schreibt in seinem Western-Essay der Philosoph Hannes Böhringer. Gleichzeitig kann aber auch das Wirken einer posthumanen technischen Mythologie beobachtet werden. In dem Maße wie sich das Sakrale technisiert und funktionalisiert, so sakralisiert sich der Techno-Logos und keilt sich immer besser in die Räume und um die Individuen ein. Die Drive-In Tempeln gehören genauso hierher, wie die auf dem Bildschirm agierenden elektronischen Evangelisatoren oder auch die um das Netz aufblühende neue Mythologie.
Die neuen Entfernungskulte breiten sich aber nicht nur auf dem Markt der Religionssurrogate und im Internet aus, sondern in nahezu allen Bereichen des Lebens. Diesem Triumphzug werden höchstens noch durch die Borniertheit einiger Kreisen übertroffen: so mußte beispielsweise die amerikanische Marine in den 80er Jahren nach Protesten der Katholischen Bischofskonferenz eines ihrer Atom-U-Boote, das bisher den Namen Corpus Christi trug, umtaufen...
In seinem Amerika-Buch bemerkte Baudrillard daher nicht ganz zu unrecht folgendes: „Wir sind hoffnungslos im Rückstand, was die Dummheit, die Mutationsfähigkeit, die naive Maßlosigkeit und die soziale, rassische, moralische, morphologische und architektonische Exzentrik dieser Gesellschaft betrifft."

Disneyland über alles

"Die Landnahme Amerikas ist ein Zug nach Westen. An ihrem Ende, an der Küste des pazifischen Ozeans, von Hollywood aus verbreitet sich der Mythos dieser Landnahme, die Mythologie der Neuen Welt über die ganze Erde." - schreibt Hannes Böhringer in Deutschland, dem wahrscheinlich amerikanisiertesten Land Europas, wo man nach dem II. Weltkrieg im Zuge der von der Weltmacht Amerika verordneten „Reeducation" nicht nur mit der Vergangenheit gebrochen hat, sondern auf nahezu allen Gebieten der Gesellschaft ein dem amerikanischen Muster folgender Weg eingeschlagen worden ist. „Das Gesicht des Ruhrgebietes wird immer amerikanischer" - stellte der Architekt Karl Ganser neuerlich bei der Eröffnung der größten europäischen Shopping Mall fest. Deshalb könnte eigentlich ganz Deutschland die Aufschrift eines kürzlich eröffneten Kino-Zentrums von Warner Bros. tragen: Hollywood in Germany. Doch nicht nur Deutschland, die ganze Welt wird amerikanisiert.
Die Ausbreitung der Mythologie der Neuen Welt vollzog sich natürlich zuerst in deren Geburtshaus. Die technischen Bedingungen für eine Hollywoodisierung Amerikas wurde zwischen den beiden Weltkriegen durch eine Welle von Kinoneubauten geschaffen. Das Ganze gipfelte Ende der 20er Jahre in der Errichtung wahrer Riesenkinos in der Dimension von Kathedralen. „Die Effekte der Lichtgeschwindigkeit schufen in diesen Tempeln eine neue Form von kollektiver Erinnerung" - schrieb darüber Paul Virilio in seinem Buch Krieg und Kino.
Die Schaffung dieser Filmkathedralen fiel mit der „neuen Form des kollektiven Erinnerns", mit der goldenen Zeit des Westerns zusammen. Dieser ist nicht nur ein Genre des amerikanischen Kinos, sondern zugleich auch ein eigentümliches, cinematographisch konstruiertes Nationalbewußtsein. In diesen, aus historischen Elementen, erhabenen Landschaften und individuellem Heldenmut zusammengesetzten komplexen Werken werden die darin gezeigten Verhaltensweisen und Werte des nationalen Selbstverständnisses trainiert. „So ist auch der Westernheld - schreibt Hannes Böhringer - der Kern einer politischen Mythologie, die national und universalistisch zugleich ist. Von allen Mythologien des 20. Jahrhunderts ist sie als die menschlichste übriggeblieben und über die Jeanshose und die Zigarettenwerbung in den selbstverständlichen Alltag aller Kulturen eingegangen".
Diese Mythologie ist dermaßen in unseren Alltag eingedrungen, daß es heutzutage nicht mehr so leicht ist, einen Gegenstand zu finden, der nicht mit irgendeinem ihrer Elemente benetzt ist. Auch die großohrige, gesetzlichen Schutz genießende Maus auf dem Trinkbecher meines Sohnes verkündet schließlich diese Mythologie. Diese Gegestände sind auch was Tongefäße im Alten Griechenland waren: Trägern eines dominanten kulturellen Musters (abgesehen diesmals von den inhaltlichen Verschiedenheiten). Die Beeinflussung vollzieht sich immer weniger mit direkten militärischen und politischen Mitteln, sie geschieht entlang der technologischen kommunikativen Vektoren, über die Ausbreitung der Produkte der herrschenden Kultur. Dominate culture today and you control the laws in 15 years - subsumiert Mark Stahlman nüchtern.
Amerika ist nicht direkt erfaßbar. Es teilt sich uns vor allem über seine Bilder mit, die weltweit präsent sind. In jedem von uns wirken sie bereits. Sie beeinflussen nicht nur unsere Vorstellungen, sondern sind auch in Form direkter Zwänge zu verspüren. Als krassestes Beispiel sei auf den Geschwindigkeits- und Innovationszwang verwiesen, der sich als Konsequenz eines sich selbst steuernden Prozesses der militär/technologischen Entwicklung auf die Welt gestürzt hat.
Daß sich die Expansion in einer derartigen Größenordnung vollziehen konnte, liegt an der Homogenität des durch die Eroberung entstandenen sozialen und wirtschaftlichen Raumes (relative Geschichtslosigkeit bzw. die Verbannung der kolonisatorischen Vorgeschichte aus dem Bewußtsein, die Beliebigkeit des Ortes und die Undifferenziertheit). Aber auch die einzigartigen geographischen Gegebenheiten spielen genauso mit hinein, wie die Herausbildung der in seiner territorialen und sozialen Verhältnisse freieste Individualität. „Wir Amerikaner - schreibt der ungar-amerikanische Schriftsteller Paul Olchváry - haben einen derartigen Raum für Ortsveränderungen (und meistens auch die materiellen Möglichkeiten dazu), daß wir uns nicht nur davon überzeugt haben, daß wir dahin gehen können, wohin es uns beliebt, sondern auch, daß wir werden können, was uns beliebt."

  Die Glaubenswelt von

Hollywood und seiner Provinz

Heute ist bereits die überwiegende Menge der weltweit vertriebenen Filme amerikanischen Ursprungs. Die Filme wirken in ihren verschiedenen Formen als eine Reklame von bestimmten Lebensformen. In diesem Medium erscheinen am augenfälligsten die zu folgenden Gegenstands-, Wert- und Verhaltenssysteme. Das Bild, das weltweit von Amerika existiert, ist nicht zuletzt der mit großindustriellen Methoden produzierten und mit ausgefeilten Strategien verbreitenen Lebensform-Reklamen zu verdanken.
Für die äußere Welt stellen die Bilder von Amerika das Maß und zentrale Muster dar. Die Wirkung der führenden Weltmacht ist deshalb so durchschlagend, weil sie von innen auf die Menschen wirkt. Ständig wird an dieser Wirkung weitergefeilt. (Für die beispielfolgende Bevölkerung der Erde eröffnet eine amerikanische Fast-Food-Kette weltweit alle drei Stunden ein Lokal. Diese Firma hat kürzlich mit dem Maus-Geschichten produzierenden Filmunternehmen einen langfristigen Kooperationsvertrag abgeschlossen.)
Die Produkte, mit denen die Menschheit, vom Kind bis zum Greis, ununterbrochen überflutet werden, sind eine Ware, die eng mit der Persönlichkeitsentwicklung der Menschen in der Schönen Neuen Welt zusammenhängt. „Die Menschen, welche die sogenannte Gesellschaft bilden, sind hier noch unfreier als in Europa. Es scheint aber, daß sie es nicht empfinden, weil die Lebensform die Entwicklung der Persönlichkeit von der Jugend an unterbindet" - schrieb Albert Einstein 1933 in einem Brief an Königin Elisabeth von Belgien.
Die Widersprüche der neuweltlichen Liberty zeigen sich bei einem Versprechen von unbegrenzten Möglichkeiten in einem Fehlen von Freiheit. Parallel dazu gibt es das Paradoxe der amerikanischen Individualität: die manisch betriebene Egologie führt in ihrem Endeffekt zu Konformität und Einförmigkeit. „Interessanterweise - schreibt der Neurologe Detlef B.Linke - ist die Amokreaktion zur Zeit in den USA noch wesentlich häufiger als in Westeuropa. Darin zeigt sich vielleicht, daß die Massenhaftigkeit des Individualkults sich am Schluß doch wieder in relativ gleichförmige Verhaltensweisen kanalisiert."

Vorweggenommene Zukunft

Amerika dient gleichsam als erfolgreiches und beispielgebendes Experiment bei der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies zu finden ist heute Existenzbedingung der sich ständig weiter differenzierenden und segmentierenden modernen Massengesellschaften. Auf diesem Gebiet hat Amerika von Anfang an Vorsprung, denn die Differenzen der aufeinander folgenden Einwandererwellen mussten bewältigt werden. So stellte sich eine stillschweigende Forderung nach Nivellierung der kulturellen Besonderheiten als Bedingung eines neuartigen Zusammenlebens. Diese benötigt den sich Tag für Tag erneuernden Mythos der neuen Kollektivität und das Betreiben neuer identitätsstiftender Verfahren. Es ist vielleicht auch kein Wunder, daß der amerikanische Kollektivismus, trotz eines immer wieder beschworenen Individualismus, in vielen Zügen dem sowjetischen Modell auf frappierende Weise gleicht. Der rußlandstämmige französische Philosoph Alexandre Kojéve äußerte dazu folgende bemerkenswerte Gedanken: „nachdem ich mehrere, einen Vergleich ermöglichende Reisen in die Vereinigten Staaten und in die UdSSR unternommen habe (1948 - 58), haben mir diese den Eindruck verschafft, daß, wenn die Amerikaner nur wie reiche Chinesen oder Sowjets wirken, dies nur deshalb der Fall ist, weil die Russen und die Chinesen nichts sind als noch arme Amerikaner, gewissermaßen mit Aussicht auf rasche Bereicherung. Ich war gehalten, daraus zu schließen, daß der american way of life die eigentliche Lebensweise der posthistorischen Periode sei, und die Allgegenwart der USA in der Welt die zukünftige "ewige Gegenwart" einer einzigen Menschheit vorwegnehme. So schien mir die Rückkehr des Menschen zum Tier nicht mehr eine noch ausstehende Möglichkeit, sondern eine schon gegenwärtige Gewißheit zu sein."
Seine Vision, die er ¸brigens als Sachkundiger der OECD entwickelte, wird einige Jahrzehnte später auch von Baudrillard unterstrichen: „Im Grunde sind die Vereinigten Staaten mit ihrem Raum, ihrem technologischen Raffinement, ihrem brutalen guten Gewissen die einzige aktuelle primitive Gesellschaft."

Wild West

Der Einzug in das gelobte Land Amerika ist ein Weg in die Wildnis der neuen Welt" (Böhringer). In den wilden Westen. Dorthin, wo das Wilde, zuweilen in Gestalt von Indianern, ständig präsent ist. Die Wildheit der Welt ist eine in uns allen schlummernde Wildheit. Die Wilden der Neuen Welt haben Teile des Bewußtseins der alten Welt und die Wildheit der Neuen Welt in sich integriert. In uns allen verbirgt sich eine indianische Bestie. „Die Gewalt - so Baudrillard - entsteht nicht aus dem sozialen Bezug, sondern aus allen Bezügen, sie ist exponentiell." Obwohl diese Feststellung nicht weiter ausgeführt ist, wird ihre Gültigkeit dennoch Tag für Tag auf den verschiedensten Gebieten bestätigt. So kann man beispielsweise lesen, daß ein Amerikaner bis zum Alter von 18 Jahren durch das Fernsehen durchschnittlich Zeuge von rund 18.000 Morden wird. All dies entspringt laut Baudrillard der Absicht, „die physische und gesellschaftliche Negativität" zu vernichten. Aus dem Wunsch nach einer utopischen Welt, aus der solche Dinge eliminiert sind, die der Zivilisation entgegengerichtet sind. In der aber Zusammenstöße der nach Selbstverwirklichung strebenden Individuen unvermeidlich sind. Auch das animiert zur Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Jetzt, wie auch in der
Vergangenheit. Die mitgebrachte, über Jahrhunderte verfeinerten Zeichensysteme werden derart dekonstruiert, daß sie im Kreise der Mormonen genauso auf Verständnis stoßen wie unter Mexikanern. Am offensichtlichsten äußert sich dies in der Sprache: „Der Amerikaner - schreibt der österreichischstämmige Psychologe Paul Watzlawick - hat eine von der unseren grundsätzlich verschiedene Einstellung zur Sprache. Niemand hat ihm je den Gedanken nahegelegt, daß Sprache etwas Ehrwürdiges sei, ein natürliches Lebewesen, das, wenn nicht gepflegt und erhalten, sehr rasch entartet und verkümmert. Die Sprache ist für ihn ein Verbrauchsmitttel, ebenso wie ein Papiertaschentuch; er kann alles mit ihr tun; er verspürt keine innere Beziehung zu ihr."

Heldenreklame

Der Westernheld verkörpert nicht nur einen Stil - schreibt Böhringer -, ihm fällt zugleich auch eine gewaltige Aufgabe zu: die Rettung Amerikas. Die Heldenverehrung des Cowboys ist eingelassen in den Starkult, die Sternenreligion Hollywoods. Der Star verbindet die verschiedenen von ihm gespielten Filmrollen zu einer einzigen Rolle und durchsetzt sie manchmal sogar mit seiner Biographie." Die dem Firmament folgenden Übermenschen haben keine Identitätsprobleme. Ihren Leitbildern folgend gestalten sie ihre Wünsche, trainieren und ernähren ihren Körper nach wissenschaftlichen Methoden. Jede einzelne, über den Narzißmus hinausgehenden Bewegung ist eine persönliche Investition in den sozialen Sektor. Jedes Lächeln vervielfältigt die Wirksamkeit des Kapitals Körper. Unverzichtbar ist daher die Gesichtsmassage nach dem Aufstehen. Ebenso die genau einstudierten Sympathiebekundungen. Der elektrisierte Körper verrichtet eine Lebensgymnastik, damit er in der Lage ist, auch schnellere Zeichenabfolgen zu erkennen - in Hinblick auf die transhumanen, technisch bedingten Perspektiven.

Künstliches Universum

Im Western ist der Mensch von Prärie und Wüste umgeben, von einer gleichzeitig erhabenen und bedrohlichen Landschaft. Die Wüste stellt für diese Art der Zivilisation eine Bedrohung dar. Die Städtchen des Wilden Westen liegen inmitten von unbewohnten Gebieten, riesigen Entfernungen, unüberschaubaren Räumen. Nur die Eisenbahn stellt eine Verbindung zur Zivilisation dar.
Während der Jahrhunderte des Go West trafen die Einsiedler nicht mit einer bereits jahrhundertelang kultivierten Landschaft und mit aus Europa gewohnten nachbarschaftlichen Verhältnissen zusammen, sondern mit echter Wildheit: mit wilden Menschen und wilder Natur. Gegen die bedrohende Natur schützten sich die Siedler mit Wagenburgen. Sie schufen in der Wüste künstliche Oasen der Zivilisation. „Nichts ist den amerikanischen Wüsten fremder als die Symbiose (flatternde Kleider, langsame Rhythmen, Oasen), wie man sie in den 'autochthonen' Wüstenkulturen findet. Alles Menschliche ist hier künstlich" - so Baudrillard, obwohl er in der Wüste ein Grundmerkmal der amerikanischen Existenz sieht. Der innere Beobachter Paul Olchváry bemerkt dazu: „Wir Amerikaner - oder überhaupt: wir heutigen Menschen, die noch nicht aus dem Zug der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung und einer immer effektiveren Kommunikation ausgestiegen sind, versuchen die Natur auf bewußte und widernatürliche Weise zu begreifen, in der Hoffnung, daß wir uns von ihr unterscheiden können. Wir stellen uns vor, daß uns die Natur gehört. Daß sie unser Eigentum ist."

Cyber-Amerika

„Amerika hat keine festen Grenzen. Es ist nicht ein für alle Mal definiert". (Böhringer) Die Expansion setzte sich nach der Eroberung und Bevölkerung Amerikas in einer völlig neuen Welt, eines außerirdischen Gebietes fort. Die Wendung der Expansionsrichtung hin in den Weltraum ist eine logische Konsequenz aus der Raumerfahrung in der Neuen Welt und der während ihrer Erschließung entstandenen Individualität. „Die Erfolge bei der Eroberung des Weltalls und überhaupt die Erfolge auf dem Gebiet der Technik - schreibt Olchváry -, können letztlich als eine Ausweitung des inneren Raumes von Nordamerika - und wagen wir uns noch ein Schritt weiter - als unseres eigenen inneren Raumes betrachtet werden."
Das in den 60er Jahren begonnene und in der Mondlandung gipfelnde Apollo-Programm stellte den ersten Höhepunkt dar bei der Suche nach dem gelobten Land. Und zeigte zugleich auch erste Grenzen dieser Suche auf. Der von „himmlischen" Hoffnungen geführte Griff nach den Gestirnen erwies sich als Endpunkt der expansiven Bestrebungen. Es wurde schnell klar, daß es nicht nur die Kosten waren, die uns davon abhalten würden, zu anderen Planeten zu reisen oder uns für längere Zeit auf orbitalen Raumstationen oder gar anderen Himmelskörpern aufzuhalten, nein, der Grund war viel natürlicherer Herkunft: der Mensch ist ein für die Erde geformtes Lebewesen. Längere Aufenthalte in der Schwerelosigkeit oder in kosmischer Strahlung sind seiner Gesundheit einfach abkömmlich. Zumal die Wüstenlandschaften des Mondes oder auch die des Mars nun wirklich kein sehr einladendes Ziel für zukünftige Siedler darstellen.
Doch mit dem Abschluß des Apollo-Programms begann ein Programm, in dessen Rahmen die Eroberung der Neuen Welt fortgesetzt werden konnte, diesmal im Cyberspace. Das Jahr 1971 ist das Geburtsjahr des ARPANET. Dieses Netz, das ursprünglich aus militärischen Überlegungen heraus entwickelt worden war, schuf die Grundlage für eine Verbindung verschiedener Computer sowie der virtuellen Welten ihrer Anwender. Die seit der Entdeckung der Neuen Welt mit ungebrochenem Elan geführte Expansion war zwar äußerlich gestoppt, doch nun eröffneten sich im Inneren der Technologien erneut unendliche, zu weiteren Eroberungen einladende Weiten. Der Cyber-Space versprach die Erfüllung eines alten amerikanischen Traumes. John Perry Barlow, einer der Evangelisten des Netzes, schreibt in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyber-Space" prophetisch: „Wir schaffen eine Welt, in der jeder einzelne Mensch an jeder Stelle seine Meinung äußern kann - egal wie individuell sie auch ist. In unserer Welt ist all das, was der menschliche Geist erschaffen hat, umsonst reproduzierbar und verteilbar. Unsere Welt ist überall und nirgends zu Hause - auf jeden Fall nicht da, wo die Körper leben."
Mir scheint, daß das Problem der virtuellen und paradoxen amerikanischen Freiheit trotz allem zutiefst europäischer Herkunft ist. Treffend formuliert Paul Virilio: „Das 20. Jahrhundert hat einerseits die echten Kolonien befreit, andererseits aber auch das letzte Kolonialreich geschaffen: das Reich der virtuellen Realität. Und es ist kein Zufall, daß im Mittelpunkt dieses Prozesses die Amerikaner stehen. Denn vergessen wir nicht: Amerika ist die einzige Kolonie, die nicht befreit wurde. So kann sie nur ihr Ebenbild erschaffen."

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