V. Szabó László

Der Kampf gegen den europäischen Nihilismus

Der Nietzsche-Verehrer Rudolf Pannwitz

Prolegomena

Wenn es in der umfangreichen Literatur des Nihilismus1 um den Schwerpunkt dieses etwa zwei hundert Jahre alten geistigen Phänomens geht, dann ist der Name Friedrich Nietzsches unausbleiblich. Tatsächlich ist Nietzsche der größte Kämpfer gegen den Nihilismus, diesen "unheimlichsten aller Gäste" gewesen, und sein Kampf ließ unser Jahrhundert nicht unberührt. Die Liste der Nachfolger ist nicht leicht überschaubar, man muß sich meistens auf Einige beschränken: wir haben einen weniger Gewürdigten, in Ungarn kaum Bekannten gewählt, er heißt Rudolf Pannwitz. Das Ausmaß der Pannwitz-Forschung ist im Verhältnis zu Nietzsches gering, unsere Studie versucht es mit seinen Mitteln diese Differenz etwas zu vermindern, wobei aber die Reflexion über Nietzsche schon deshalb nicht ausbleiben kann, weil ja Pannwitz’ Philosophie ohne Nietzsche nicht das wäre, was sie ist.

Décadence und (Post)Moderne

Weiter als Raum und schneller als Zeit

Ist das Befreiende. Nennt es Geist,

Nennt es Gott. Doch fügt es nicht ein,

Betet nicht an. Da es einsam bleibt,

Überall ist und nicht ist und erscheint.

Jeglicher Alter wußte vom Heil.

Weiser weiß heute: es wirkt wo man schweigt.

(R. Pannwitz)

Den Kontext in dem Rudolf Pannwitz seine Werke schrieb prägte das Problem der europäischen Kultur, akuter als je, gleichzeitig mit dem Wanken des Glaubens nicht nur an Gott sondern auch an die Wissenschaft und Technik. Die sich anhäufenden erkenntniskritischen, metaphysischen und ontologischen Fragen zeugten mehr von der Notwendigkeit als der Existenz einer Lösung. Das Subjekt in der gottverlassenen Welt verlor dabei nicht nur seine religiösen und sozialen Bindungen, sondern auch an Zentrierung, Horizont und kulturschöpfender Kraft. Wie es Nietzsche formuliert hatte: "Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins durchbohrende Gefühl seines Nichts?"2 Es entstand eine neue, moderne (denn "modern" heißt letzen Endes "neu") geistige Lage, an der manche resignierten, gegen den aber manche – nicht selten Nietzsche-Nachfolger – den Kampf aufnahmen.

Einer der Vorkämpfer einer modernen, nihilistischen Welt war Rudolf Pannwitz (1881-1969), "der exaltierte Nietzsche-Verehrer", wie er von Bruno Hillebrand bezeichnet wurde.3 Und die Bezeichnung ist vollkommen zutreffend, weil ja keiner von ganzen Generationen der Nietzsche-Begeisterten schrieb so hochpreisende Worte über den auswirkungsreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, als eben Pannwitz in seiner Einführung in Nietzsche (1920): "Der Name Nietzsche ist der höchste Begriff des deutschen Namens, das Heiligtum des deutschen Geistes und die Schuld und das böse Gewissen aller deutschen Menschen."4 Sein ganzes Leben und in all seinen Werken versuchte aber Pannwitz zur Größe Nietzsches aufzuwachsen, ein Versuch und eine Heimsuchung zugleich, die er durch ein monumentales Lebenswerk bewältigte. Sein Leben selbst war das Drama eines Nietzsche-Lebens, so wie er es selbst formulierte: "Ich habe ein fortwährendes geistiges und nicht nur geistiges Drama gelebt und unter dionysischen Revolutionen einen apollinischen Kosmos hervorgebracht."5

Ein "Kind der Moderne und der Décadence" war auch Pannwitz, wie er selbst Nietzsche nannte,6 aber auch der "postmodernen" Epoche, denn allzu oft vergißt man sein Verdienst, die Bezeichnung "postmodern" als Synonym zu "nihilistisch" vor allen anderen bereits im Jahre 1917 verwendet zu haben:

Der sportlich gestählte, nationalistisch bewußte, militärisch erzogene, religiös erregte postmoderne Mensch ist ein überkrustetes Weichtier, ein juste-millieu von décadent und barbar, davon geschwommen aus dem gebärischen Strudel der großen Décadence, der radikalen Revolution des europäischen Nihilismus (KK: 52).

Pannwitz’ Lebenswerk in seiner bunten aber dennoch einheitlichen Vielfalt ist wohl nur mit Goethes zu vergleichen – einer der Gründe, warum man sich wundern muß, daß es bislang so unproportionell gewürdigt worden ist (ganz zu schweigen von Ungarn). Der Vergleich mit Goethe, einem von denen, auf die sich Pannwitz am meisten bezieht und über den er ein Buch zu schreiben plante,7 ist nicht übertrieben, sieht man sich nur die fast endlose Titelliste von Werken an, die die verschiedensten geistigen Bereiche, von den Naturwissenschaften zu Geisteswissenschaften, umfangen: er ist der Autor von Der Ursprung und das Wesen der Geschlechter und der geschechtlichen Fortpflanzung (1936) und Der Aufbau der Natur (1961), aber auch pädagogischer (Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache 1907; Das Werk der deutschen Erzieher 1909; Deutsche Lehre 1919), politischer (Deutschland und Europa 1918; Staatslehre 1926; Die deutsche Idee Europa 1931; Das Weltalter und die Politik 1948; Kommunismus, Faschismus, Demokratie 1961), kulturgeschichtlicher (Zur Formenkunde der Kirche 1912; Die Krise der europäischen Kultur 1917; Mythen 1919/21; Grundriß einer Geschichte meiner Kultur 1921; Beiträge zu einer europäischen Kultur 1954; Gilgamesch-Sokrates. Titanentum und Humanismus 1966), literaturgeschichtlicher (Hermann Hesses west-östliche Dichtung 1957) und philosophischer (Einführung in Nietzsche 1920; Logos, Eidos, Bios 1930; Nietzsche und die Verwandlung des Menschen 1943; Der Nihilismus und die werdende Welt 1951; Das Werk des Menschen 1968) und anderer Werke, die in diese unvollständige Liste schwer einzuordnen sind: Kosmos Atheos (1926), Das Atomzeitalter (1960) usw. All diese Werke drängten aber auch seine literarische Tätigkeit nicht in den Hintergrund: er schrieb Dichtungen wie Urblick (1926), Weihnacht (1932), König Laurin (1956) oder Wasser wird sich ballen (1963), Erzählungen wie Orplid (1923) oder Das neue Leben (1927), Dramen wie die Dionysischen Tragödien (1913),8 Romane wie Die Führer (1919) oder Das neue Leben (1927). Bekannt sind seine Verbindungen zu Stefan George und seinem Kreis – von dem er sich aber in der Charon-Periode (Zeitschrift begründet 1914 zusammen mit Otto zur Linde) bereits distanzierte –, zu Edmund Husserl, Georg Simmel u.a. Seine Distanzierung vom George-Kreis erfolgte parallel mit einer Orientierung zum Expressionismus, aber auch mit der kritischen Erkenntnis, daß Stefan George kein echter Nachfolger Nietzsches gewesen sei:

Es ist George ein einziger Vorwurf zu machen: er, der überall die Einreihung fordert, hat gegen Nietzsche genau so gesündigt, wie überall gegen ihn selbst jetzt gesündigt wird. Er war geistig nicht stark, sitlich nicht schlicht genug, hier – alle einzelnen Überlegenheiten hinnehmend – sich unterzuordnen, anerkennend, daß die neue Welt, die als ganze auch nur zu erleben seiner tragischen Natur mehr als eine Seite abgeht, schon geschaffen war und daß ihm keine Urschöpfung, sondern ein oberster Dienst zustand.9

Eine Auflistung Pannwitzscher Werke, die in bedeutendem Maße im Sinne dieses "obersten Dienstes" entstanden, bedarf noch zweier Bemerkungen: zum einen, daß sie keineswegs komplett ist, zum anderen, daß die Auffächerung eines Gesamtwerkes etwa in "kulturhistorische" oder "philosophische" Schriften nur willkürlich sein kann, denn eine scharfe Abgrenzung ist weder möglich noch nötig; wir haben mit einem Denker im weitreichendsten Sinne des Wortes zu tun, dessen Gedanken in all seinen Werken ein einheitliches Weltbild auszeichnen. Es geht also nicht darum, daß die schwer übersehbare Vielfalt der Gattungen und Denkinhalte die Zerrissenheit eines Lebenswerkes in einer zerrissenen Zeit zeigen würden. Es gilt vielmehr die ebenso zutreffende wie poetische Formulierung von Paul Wegwitz, daß es "auf dem Basalt einer einheitlichen, in sich geschlossenen Gesamtanschauung beruht und in den Himmel eines unvergänglichen Lichtes emporragt, daß das Chaos hier einen Herrn und eine feste formende Hand gefunden hat."10

Spricht man etwa von gedanklichen bzw. dichterischen Werken von Rudolf Pannwitz, so kann man auch darin mit Wegwitz einig sein, daß sie "unter gleicher geistiger Hochspannung"11 entstanden, die die Grenzen verschiedener Gattungen überwölbt. So widersetzen sich etwa das "pädagogische" Werk Deutsche Lehre (1919) und der Roman Das neue Leben (1920) der Einstufung in die gewohnten literarischen Gattungen und enthalten beide das Ganze Pannwitzschen Denkens. Ist im ersten die orphisch-profetische Stimmung vorherrschend, so steht ihm die reale menschliche Situation des letzteren gegenüber, wo die Apotheose menschlicher Verwandlung in ihre Realisierung übergeht.

Die Deutsche Lehre, die uns unter dem Aspekt der Verbindlichkeit ihres Autors für das Vorbild Nietzsches als relevanter erscheint, ist eine im Geiste von Nietzsches Also sprach Zarathustra geschriebene Gedankendichtung, die sprachlich jedoch auch mit den Versen der Bibel einhergeht. Sie ist, wie es Wegwitz plastisch formuliert, "stellenweise erdhafter, körniger, gröber, stellenweise inniger, schwingender, die ergriffene Seele hüllenloser offenbarend als der Zarathustra",12 an dessen Seite zu stehen sie verdiente. Die Grundsituation ist auch hier das Verhältnis zwischen Prophet und Volk: der zugleich beschwörende und anklagende, liebende und lehrende Prophet stellt dem Volk die menschlichste Aufgabe vor, nämlich die, Mensch zu werden, denn eben dies habe die Menschheit vergessen. Um dieser Aufgabe bewußt zu werden und sie zu verwirklichen, bedarf es, den drei Verwandlungen in Zarathustra ähnlich, der Verwandlung des Typus Mensch um der Zukunft des Menschen willen. Vertreter dieser Verwandlung sind zwar nicht die Nietzscheschen Symbole der Kamele, des Löwen und des Kindes, sondern menschliche Idealtypen wie der große Arzt, der große Lehrer und Erzieher, der Künstler, der Adel usw., sie sind aber Realisierungen von Nietzsches Idee des Übermenschen. Sie sind danach gestrebt, die eigenen menschlichen Schwächen zu überwinden, sich zu reinigen und entfalten, um letzten Endes den ideellen deutschen Menschen darzustellen, der gleichsam mit dem "guten Europäer" Nietzsches übereinfällt.13 Es werden hier, wieder in Einstimmung mit Nietzsche, diesem "Pädagoge[n] und Politiker in Bezug auf den Menschen selbst", wie Pannwitz später sein Vorbild nennen wird,14 Grundzüge einer neuen Naturwissenschaft, Religion und eines neuen Ethos aufgezeigt, die mit dem Leben nicht in entgegengesetzter Beziehung stehen, sondern es in einem kosmischen Weltzusammenhang bejahen, wobei die Verehrung des Göttlichen einer diesseitigen Weltfreudigkeit entspricht und wo das höchste Ziel der höhere Mensch ist.

Das Buch Zur Formenkunde der Kirche stellt dem auf Aristoteles zurückgehenden Denken in Begriffen und Kategorien eine "schauende Denkkraft" gegenüber, wobei die rationalen Methoden, wenn nicht verworfen, dann ins Dienende zurückgedrängt werden. Der Geist soll die Natur nicht bloß mechanisch, sondern im Sinne Goethes erforschen, ihre Formenkunde heißt ihre Verhältnisse und Wesentlichkeiten schöpferisch zu entdecken, ihre Formen in ihrer Fülle, Stärke und Kräfte zu untersuchen.

Ist die Natur die Wechselwirkung von Formen, so ist die große politische "Form" Europa, wie sie Napoleon vorschwebte, ihre Formungen und Entformungen in der Renaissance und Reformation, der Gegenstand der Krisis der europäischen Kultur (siehe noch unten). Das andere Buch aus der erwähnten Trilogie, Kosmos Atheos überwindet den Bruch zwischen organischer und mechanischer Welt, wozu die Idee der "Renaissance der Vokalmusik" die Grundstimmung gibt, die, so Pannwitz, "die nackte Stimme freigeben werde und deren dionysische Zeugungen mit den apollinischen Messungen in den ewigen Einklang zu setzen habe",15 was hier als Aufgabe menschlicher Weltbildung erscheint. Der Kosmos, dessen "Morphologie" das Buch erschließen will, ist für Pannwitz ein endloses Werden dionysischer Prozesse, zugleich aber ein Sein in "apollinischen" Individuationen, nicht nur apeironischer Strom, sondern auch Gestaltung. Der erkennende Geist ist dabei "Urgebärdung des Lebens", "das ursprüngliche Maßwerk", seine Erkenntniskategorien sind zugleich Seinskategorien, seine Logik wurzelt im Logos und der "Treue gegen das Apeiron."

Auch die anderen Werke Pannwitz’ sind als "Aufgaben menschlicher Weltbildung" gemeint. So ist etwa seine Staatslehre (1926) kein politologischer Traktat über ein von Menschen gebildetes rechtliches Machtwerk, das aufgrund eines gesellschaftlichen Vertrags die menschlichen Triebe zu zügeln habe, und dem sich die Untertanen wie einem Leviathan zu unterwerfen hätten, sondern, widerum in Anlehnung an Nietzsche, eine hochgespannte Reflexion über eine Machtform zu übermenschlichen Zielen. Der so gesehene Staat ist das Spannungsfeld zwischen der Realität des Einzelnen und der Idee des höchsten Typus, zwischen den unmenschlichen Mächten des Elementarischen und Zufälligen, des Natur- und Schicksalhaften auf der einen Seite, und den übermenschlichen Mächten wie Geschichte, Menschheit, Übermensch, Kosmos, Kultur, Freiheit, Gott auf der anderen.

Ein Pannwitzscher "Kosmos" ist auch das Epos Das Kind Aion (1919), das im Geiste und Versmaß Dantes das Inferno des Zeitverfalls schildert, mündet aber in die Hoffnung auf den deutschen und europäischen Menschen, die die Gegenwelt zu allem menschlichen Ungenügen und Irrsal im Paradies der ewig währenden, heiligen Natur bilden sollen. Eine ähnliche erlösende Kraft kommt dem orphischen Misterium in den Erlöserinnen zu, das die große Schuld des Geistes und ihre Tilgung durch seine Liebe für und Hingabe an den Kreislauf der Wesen lehrt.

Überall in Pannwitz’ Dichtungen finden wir Sinnbilder für das neue Leben und Weltgefühl, für übermenschliche Bildungen und eine kosmische Religion, überall gibt es Stellen in seinem Werk, wo man, wie es Wegwitz mit Recht schreibt, "die von Schöpfermacht und -qual bebende Hand spürt, den leidvollen Ton einer mit einer übermenschlichen Aufgabe beladenen, unter der Übergewalt einer unerbittlichen Bestimmung zitternden Seele heraushört."16

Kosmos und Chaos

Wenn auch die sprachliche Bildung Pannwitzscher Werke gelegentlich von dichten Wolken umnebelt werden mag, so erscheinen sie letzten Endes, wie sie wiederum von seinem Zeitgenossen Paul Wegwitz treffend bezeichnet wurden, "als zusammenhängende Kontinente einer strengen und gefestigten Schöpfungswelt."17 Es war übrigens eben Pannwitz, der, der sprachlichen Schwierigkeiten seines Werkes bewußt, den Lesern in der Einleitung zur Krisis der europäischen Kultur (1917) einen Schlüssel in die Hand gab: "Eine demgemäße Sprache wird, ähnlich der Welt, zuerst verschlossen scheinen, alsdann rein aus sich selbst verständlich werden." Diese Sprache verschließt und erschließt zugleich, gleich einer Offenbarung für all diejenigen, die das Ohr und das Herz für sie haben. Sie ist gleichermaßen Ausdruck eines Denkens, einer Kunst und einer Wissenschaft, dieser Geschwister menschlichen Geistes, die in dem "Gedankenwerk" Rudolf Pannwitz’ in vollkomenem Einklang stehen. Wenn "Die Bücher des Kentauren", wie er, mit einem an Nietzsche erinnernden Selbstbewußtsein der Bedeutung seiner Werke, die geplante Trilogie Die Freiheit des Menschen – woraus noch Kosmos Atheos beendet wurde –, übertitelte, seine "Philosophie" und zugleich seine "Beiträge zu den Wissenschaften" enthalten sollten, so führte die Vorarbeit von fünfzehn Jahren an der Krisis zu der "Einsicht und Ausübung dessen, daß Denken eine Kunst ist, die höchste, schwierigste und seltenste von allen und nur als diese gehandhabt und zur Meisterschaft gebracht werden kann." Alle drei, Philosophie, Wissenschaft und Kunst – so einer der vielleicht merkwürdigsten Gedanken von Pannwitz in der Einleitung zur Krisis – seien mithin "kentaurische Geschöpfe":

Tatsächlich sind Philosophie, Wissenschaft und Kunst, wenn nicht die erste religiös verehrt, die zweite handwerklich betrieben, die dritte willkürlich beliebt wird, nicht mehr voneinander zu trennen, sie verschmelzen zu einem kentaurischen Geschöpfe.

Gelingt es, die drei in eine "Schlußform" zusammenzuziehen, so ist das erhoffte Ergebnis, daß "ein Kosmos glückt", welcher Kosmos ja der ewige Antipode des Chaos ist. Chaos ist Krise, und Krise ist das Merkmal einer europäischen Kultur, die an ihrer "Verwesung" leidet, deren "große Décadence" jedoch nicht "ihre Scham", sondern "ihr Stolz [...], ihr Schmerz, ihre Sehnsucht, ihr Fruchtboden und ihr Weibblut, ihr Pfeil und ihre Rasung, ihr Untergang und ihr Aufgang" sein soll, weshalb die moderne Menschheit "nicht zu viele, sondern zu wenige Décadence" (KK: 53) hat, um aus der eingenen Asche emporzusteigen wie der Phönix. Es galt also diese "ungeheure Krisis des Menschen", die "seit Nietzsche wieder geflissentlich vergessen ist, den sehr Wenigen" zu zeigen, denen "die Kultur am Herzen liegt."

Es galt somit aufzuzeigen, daß in jedem Untergang auch der Aufgang, in jeder Welke auch die Blüte inbegriffen ist und umgekehrt, daß also die Krise der Kultur einer Gesetzmäßigkeit folgt, die vom menschlichen Geist erschlossen werden kann, der seinerseits die Kultur wiederzubeleben, stets wiederzuschöpfen vermag. Wenn die Kulturen der Renaissance- oder der Klassik als Gipfelpunkte der europäischen Geschichte gelten, so konnten sie sich über ihre Gegenwelten nicht hinwegsetzen, sie waren "Gipfel zitternd vor Untergang und verlangend nach ihm" (KK: 34), sie verschwendeten ihre Kräfte bevor sie zur Vollendung kamen, denn "die Reife ist zugleich Rückgang" (KK: 49). Ihr folgten "Romantikepochen", die kurzlebig und "dem Tod geopfert" waren, um einer Wiederkunft der Blüte Platz zu machen. Eine solche ewige Wiederkunft des Gleichen ist kraft des Geistes jeweils möglich. Was aber das Ziel dieser kosmischen Bewegung der Kultur ist, darauf hatte, so Pannwitz’ Überzeugung, bereits Nietzsche die Antwort gegeben.

Es ist verhängnisvoll, schreibt Pannwitz, daß sich Politik und Kultur sowohl sachlich als auch zeitlich verfehlen. So fällt etwa Nietzsches Geburt der Tragödie in den preußisch-französischen Krieg von 1870-71, seine Unzeitgemäßen Betrachtungen in die ersten Gründerjahre, und im Grunde genommen stand Nietzsche "zur Décadence, zu Richard Wagner und zum Deutschen Reich wie Goethe zur Romantik, zu Lord Byron und zum Jungen Deutschland" (KK: 35f.). Die Natur gewährt ja eine gleichzeitige Blüte der Kultur und der Politik höchstens nur da, "wo sie schlechthin dasselbe sind, denn eine Blüte gedeiht nicht durch weise allgemeine Verteilung, sondern durch wahnsinnige alleinige Verschwendung" (KK: 36). Die ganze Epoche kann deshalb ein Phänomen wie Nietzsches verkennen, wenn man nicht sieht, daß "die Erdachse sich gedreht hat." Diesem Mißverständnis kann "der ganze Nietzsche, nicht nur sein Übermensch" (KK: 41) anheimfallen, und es besteht weiterhin die Gefahr, daß Nietzsche "konstitutionell werde", daß man ihn "aufsauge und umdeute wie Paulus den Christus, daß man die Religion, die er nicht ist, aus ihm pfiffig heraushöre", und daß dieser Prophet "die Rolle der im Verhängnis verwandten Juden" aufnehme [sic], wobei man aber "einen größeren als Christus – den Kosmos" kreuzigen würde (KK: 43). Die Ohnmacht des Chaos muß aber dem neuen Kosmos Platz einräumen, denn dem "Mechanismus der Kultur und des Menschen scheint eine Macht beizuwohnen, die ihm das Ziel gibt", was nichts anderes ist, als "Nietzsches Schöpfung des Übermenschen" (KK: 46). Das Ziel der in der Krise begriffenen (post)modernen Kultur ist somit der neue Typus Mensch, der wie ein "Pfeil über sich hinaus" schießen soll (KK: 47). Wie hatte es ja Nietzsche formuliert?

Man kommt immer wieder einmal ans Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Sieges – und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Not immer nur noch straffer anzieht.18

Das Ziel, und zwar das endliche Ziel des Menschen ist, so Pannwitz, der Übermensch, und die menschliche Kultur ist eben das Mittel dazu. Unendlich ist nur die Natur, deren Ziel nicht definierbar ist, oder eben als undefinierbar, etwa als Apeiron zu bezeichnen wäre; so ist der Mensch nur als Natur unendlich, und der Typus Mensch eben "der Weg vom Unendlichen ins Endliche." So lautet einer der konzentrierten Aussagen des Buches, die wieder auf das Bogen (oder Pfeil-) Gleichnis ausläuft:

Die Natur ist das Unendliche, der Mensch das Endliche, der Mensch als Natur ist das Unendliche, der Übermescnh das Endliche, der Typus Mensch ist der Weg vom Unendlichen ins Endliche, die Kultur des Menschen ist das Mittel die Natur des Menschen zu überwinden, die Spannung des Bogens bis der Pfeil fliege (KK: 48).

"Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß" – heißt ja die berühmte Predigt in Nietzsches Also sprach Zarathustra, die mithin auch zum wesentlichen Bestandteil Pannwitzscher Kulturphilosophie wird. Die ganze menschliche Natur und Kultur soll, meint Pannwitz, "auf einen Zukunftwillen, den Übermenschen bezogen werden" (ebd.), der als Teleologie nicht nur Ideal, sondern auch "plastische Tat", Kulturschöpfung wird. Die Kulturschöpfer sind aber vor allem die Küstler, die, "reif und mächtig, den vollen Stoff auf zarteste schonend, auf freieste formend" die "Mitte" und den "Mittag [...] ewig wollen [...] und können" (ebd.), deren Aufgabe der von Nietzsche in der Geburt der Tragödie erwähnten "Artisten-Metaphysik" entspricht, die zugleich eine "dionysische Lehre" ist.19 Und auch die Gleichnisse der Mitte und des Mittags knüpfen an Nietzsche: jene als Referenzpunkt einer seit Kopernik veränderten Welt, dieser als "der große Mittag", als Symbol des vom Nihilismus erlösenden Menschen der Zukunft:

Dieser Mensch der Zukunft, der ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen...20

Die Selbstverpflichtung für den großen Mittag wird von Pannwitz als ein radikaler Schritt konzipiert, der keine Alternative duldet; ihr Gegenteil wäre die Überwindung des principio individuationis, was einem "geistigen Selbstmord" gleichkommen würde:

Soll das aber als Wahn gelten anstatt als die andere Welthälfte der Wahrheit, so ist das principium individuationis selbst in der Konsequenz zu überwinden und ein geistiger Selbstmord aller Individuation ohne jeden religiösen, ethischen und ästhetischen Schwindel das Einzige dem Menschen noch Anständige (ebd.).

Hieraus die brisante Folgerung: "Der reine Buddho [die Ortographie von Pannwitz] oder der reine Nietzsche, ein drittes gibt es nicht." Die "Gipfelepoche aller Renaissanceepochen" wäre dementsprechend eine "Nietzsche-Epoche, die, ohne noch Nietzsche als Religion zu vollbringen, als Kultur aus ihm erblühen würde".

Das Schaffen jedweder Kultur ist, in der Auffassung von Pannwitz, ein Akt des Geistes, der als "wirkliches Organ", als Schöpfer, als Macht und "Übermacht" den Chaos überwindet und verachtet, sich die Aufgabe der "Weltbewältigung" vorsetzt, wie es Napoleon und Nietzsche taten, deren Größe ebenfalls aus dem Geist als einem "ethischen Genie" entsprang:

Der Geist ist frei zu schaffen, aber das Schaffen ist gesetzlich Verachtung des Chaos [...]. Der Geist ist der Schöpfer, der Schöpfer ist der Künstler, der Künstler ist der Kaiser, ein Übermächtiges Ich, ein Übermächtiges Ziel, eine Übermacht von Macht und Gerechtigkeit ermöglichen die Weltbewältigung, welche Aufgabe des Geistes ist. Er, nicht der Handelnde ist das ethische Genie, und die Größe eines Napoleon ist, daß er sogar handelte aus der Doppelkraft solches Geistes, und der Übermensch, den Nietzsche konzipert hat, ist aus solchem Geiste geboren, als seine letzte Frucht und reifsteTraube (KK: 51).

Die Kultur ist dann nichts anderes, als "der Weg des schaffenden Geistes", der die "Zwischenkrystalle der Kultur" zwischen sich und "sein Ziel, den Typus Mensch und den Übermenschen" lagert (KK: 53). Die Aufgabe der Kunst besteht also darin, wie es bereits Nietzsche-Zarathustra ausgesprochen hatte, "Mythos der Zukunft zu sein", und das tragische Zeitalter impliziert, dem marmornen agon des Dionysos und Apollon gleich, eben "die Verführung zu einem Menschen, der aller Gewalten Spiel und Herr, das Maß der Dinge und der König der Erde" werden soll (ebd.).

Der Mythos aber, so grundlegend auch in Nietzsches Geburt der Tragödie, gehört nicht nur der Zukunft, sondern er ist der ewige "Sternenhimmel zur Sonne", d.h. eben der unerläßliche und unergründliche Teil der menschlichen Seele, der vom Bewußtsein verdunkelt wird: "der Mythos macht die Hälfte des Daseins bewußt, die das Bewußtsein verdunkelt" (KK: 91). Sein Organon ist zu jeder Zeit die Sprache – Buddha habe ja "in vollkommenen Pali und Nietzsche in französischem Deutsch [sic] alles Äußerste ausgesagt" –, seine Geschichte ist auch die Geschichte des Menschen, ohne ihn gibt es keine wahre Geschichte menschlichen Geistes. So muß Pannwitz konstatieren: "wir haben, außer bei Nietzsche, kaum irgendwo auch nur den Ansatz zu einer wahren Geschichte unseres Geistes"21 (ebd.).

Und zwar des europäischen Geistes, denn Pannwitz ist es, bei der weitgehenden Kenntnis und Anerkennung orientalischen Denkens, vor allem am europäischen Geist, an der europäischen Philosophie gelegen. Hierzu gehören in seinem Urteil ein Bacon und ein Nietzsche, die Wissenschaftslehre Goethes und die "dämonische Physik" Schopenhauers, Herakleitos oder Leonardo in gleichem Maße: "Herakleitos als das Kind Ewigkeit,22 Nietzsche als der Schöpfer des Übermenschen, Leonardo als der unermeßliche Vollender, Goethe als die goldene Mitte, Bacon als der Magnet gen Norden: diese und dieserart sind die europäischen Philosophen [...]" (KK: 109). All diese nehmen dadurch einen Platz in dem gleichsam als eine Zukunft der Tradition23 verstandenen komplexen Perspektivismus von Pannwitz ein, in den zwar, wie auch in Falle Oswald Spenglers (dessen berühmter Untergang des Abendlandes in demselben Jahre erschien), auch andere Kulturen, vor allem die orientalischen hineigehören, wo aber das letzte Wort doch Europa, das bereits in Nietzsches Denken so welterschütternd pulsierende Schicksal unseres Kontinents, hat. Wenn der Leser in dem umfangreichen Anhang zur Krisis der europäischen Kultur eine Einweihung in die geistigen Welten eines Buddha oder Kungfutse bekommt, so kommt auch Nietzsche nicht außer Sicht, indem er in seiner Geburt der Tragödie aus dem "Kerne" dieser orientalischen Weltanschauungen geschöpft habe (KK: 182).24 Und wenn dem einleitenden Satz des Anhangs mit seiner ebenso überraschenden wie gewagten Konklusion: "Einen Ausweg aus der Krisis der europäischen Kultur auf irgendeinem begangenen Wege gibt es nicht mehr", (KK: 180) weil nicht einmal Nietzsche "unmittelbar richtig" wirken könne, die noch eklatantere Aussage: "Für alle und keinen, für einen und alle ist der Weg der Verschmelzung unserer unter sich verschmolzenen Halbkulturen mit den großen orientalischen klassischen Kulturen", sowie der begeisterte und im Geiste der Zeit ertönende Ausruf: "Geschehe wieder, was immer geschehn, daß die jüngeren Völker scheinbar die älteren kolonisieren, wahrhaft von ihnen sich kolonisieren lassen!" (ebd.) folgen, so geschieht dies eben im – allerdings nicht engstirnigen, etwa imperialistischen – Interesse Europas, deren Kultur der Genesung bedürftig ist. Denn auf Europa setzt Pannwitz seine Hoffnung:

Unsere europäische Aufgabe ist allein dann vielleicht kein Wahnsinn mehr, wenn wir das im Orient Geleistete ganz uns einverleiben, und die Metaphysik, auch unsere eigene, ganz herausstoßen, uns auf den Westozean des Schöpferischen wagen mit einem Schiff und Steuer aus Osten, als dem besten, das je da war und stet da ist, und mit dem Ziele nach dem neuen All, das Nietzsche uns gezeigt hat (KK: 207).

Nietzsche und Europa

Ziele dieser von Nietzsche (der also nach Pannwitz von der orientalischen Denkweise nicht so fern stand, wie er von sich glaubte) ausgezeichneten Aufgabe, der der europäische Mensch noch aufwachsen müsse, sind nunmehr, betont Pannwitz, das "gute Europa" und "der gute Europäer". Das hieße nichts anderes, als daß der europäische Mensch der Postmoderne vom Osten übernehmen würde, was er zur eigenen geistig-kulturellen Entwicklung braucht, welche Entwicklung dann auch eine politische Form erlangen könnte. Die Machteinheit eines überstaatlich gefestigten kontinentalen Imperiums bildet übrigens die Zentralidee der Schrift Deutschland und Europa (1918) und des Flugblatts Europa (1920), dieses mit der Einführung in Nietzsche gleichzetig erschienen. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg, den Pannwitz, wie er es später bekannte, "nur als falsch und tragisch" empfand und mit dem er nichts zu tun zu haben glaubte,25 war er aber der Meinung, daß das "Gilgamische Titanentum" Nietzsches, sein "Dasein" und seine "Tat", seine "Urzeugung aus dem Logos" über jedem Begriff des "Deutschen" und gar Europas stehe:

Nietzsche gehört nicht den Deutschen, weder mit seinem eigentlichen Blute, noch mit seinem eigentlichen Geiste. [...] Nietzsches Werk sind nicht seine Werke, sondern ist eine Tat, sein wahres Dasein ist auf keine Weise das eines Schreibenden, sondern auf jede Weise die Laufbahn eines halbgöttlichen Helden. Am nächsten zu vergleichen ist jener größte König babylonischer Ursage Gilgamesch [...].26

Nietzsche habe in Europa "kein Gleichnis" und Europa habe seinerseits "keinen Maßstab für Nietzsche", und zwar nicht deshalb, weil Nietzsche "uneuropäisch wäre", sondern eben weil er "übereuropäisch" ist: "Europa tritt mit ihm erst, doch ohne sich selbst zu verlieren, in eine Reihe mit Asien nach dem Grade seiner eignen Entwicklung-Zersetzung und nach der Größe dieses seines Sohns."27 Und weiter:

Nietzsches Werke – als neudeutsche, neueuropäische, eine literarische Literatur – sind, ihrer Hülle entkleidet und im Geiste begriffen auch da, wo Worte und Formen, Einzelheit und Augenblick dem größten Sinn und Sein nicht gewachsen sind, allein und durchaus Zeugnisse unsterblicher Taten des Geistes, Urzeugung aus dem Logos, unmittelbare Wissenschaft,28 profetische Weisheit, schöpferische Welterzeugung-Menschenverwandlung, kosmische Wiedergeburt des göttlichen Äons.29

Liest man heute diese fast vergöttlichenden Worte über Nietzsche, so hat man mit Recht den Eindruck, daß sie nicht zu übertreffen waren, zumal die Begeisterung für den Dichterphilosophen im späteren bei vielen nachließ. War aber Pannwitz einer der Enthusiasten in der ersten Phase der Nietzsche-Rezeption in Deutschland, so blieb er, merkwürdig genug, dem Vorbild Nietzsches auch nach dem Zweiten Weltkrieg treu. Zu einer Zeit, wo Nietzsches Name vom Faschismus kompromittiert worden war, bezeichenete ihn Pannwitz in seinem Aufsatz Nietzsche und die Gegenwart (1951) als "Opfer einer neuen Welt" und formulierte das neue Imperativ: man müsse "jenseits unserer ärmlichen Parteiungen und Ideologismen [sic] einen vollen und klaren Blick auf Nietzsche richten."30 Denn "die Geister und die Seelen" der Zeit seien durch den Nihilismus und nicht durch dessen Überwindung, die menschliche So-und-so-Existenz vielmehr von Kierkegaard als von Nietzsche bestimmt, der Prozeß des gegenwärtigen Weltalters führe somit vielmehr zu Nietzsche hin, als von ihm weg, d.h. daß "eine Verjüngung aus ursprünglichen Böden bevorsteht." Es sei falsch, Nietzsche einer alten Welt zuzuordnen, die nunmehr gewesen und damit begraben wäre, Nietzsche ist ja vielmehr Zukunft als Vergangenheit. Nur so ist Zarathustras – von Pannwitz als Motto des Aufsatzes gewählte – Prophezeiung zu verstehen: "Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren."

Daß Nietzsche ein Prophet war, dafür gibt es für Pannwitz in Nietzsches Schriften Beweise genug: die Voraussage "einer klassischen Epoche der großen Kriege", der "Barbarisierung und Primitivierung", der Krise des europäischen Menschen, des Zusammenbruchs seines ganzen Wertesystems. Nietzsche habe aber nicht nur den Verfall, sondern auch den möglichen "überpolitischen Aufbau" gesehen: "Auch die imperiale Föderation ist vorausgesehen, Europa und der gute Europäer gefordert, von der tragenden Grundlage eines wirtschaftlichen Demokratismus ein überpolitischer abgehoben." Die ganze Prophezeiung Nietzsches sei gerade "historisch und äonisch in Zusammenfall, eine Apokalypse und Eschatologie" (NW: 290). Nietzsche, der Prophet und Dichter in einer Person habe mit seinem Zarathustra und den Dionysos-Dithyramben "schwindelnde Höhen der Ausdrucksgestalt des Unsäglichen" und die "letzte Gipfel des Sprachwerks überhaupt" erreicht. Wie aus dem "Lavakrater eines unerschaffenen Dramas, dessen der Verkündigung der ewigen Wiederkunft"31 schleuderte er seine Hymnen empor, aber nicht nur ein Gesang und eine Lehre, sondern "ein »Ereignis« wie die Mysterien, aber eines der Zukunft" (NW: 291). Nietzsche war, wie es auch Pannwitz klar war, ein Denker, dessen Gedanken auf eigener Erfahrung und eigenem Leben beruhten: "Nietzsche war ein Philosoph gelebter Philosophie und seine Lehre seine jeweilige Erfahrung" (NW: 292). Seine Philosophie war dementsprechend, betont Pannwitz, "die erste Philosophie des Lebens", sie entsprang dem Bewußtsein, "daß unser Leben durch eine ihm feindliche und verderbliche Werteordnung bedroht ist, die den europäischen Menschen zur Degenereszenz und zum Nihilismus geführt hat", (NW: 294) der eben "das Negativ zu Nietzsches positiver Philosophie des Lebens" ist (NW: 296). Diesen Zustand zu erforschen hieß die menschliche Seele und ihre Genealogie zu erforschen, die Pannwitz als eine Art Archäologie und Paläontologie der Seele betrachtet: "Nietzsche ist ein Archäologe und Paläontologe der Seele" (NW: 295). Sah aber Nietzsche den Nihilismus der Zeit als ein biologisches Phänomen, dann – so Pannwitz’ Einwand – hielt er für Ursache, was eigentlich Symptom ist: die moderne geistige Situation zeigt eine Verschmelzung von Wertesystemen etwa christlicher und moralistisch-bürgerlicher Art (der "Geist der Schwere" bei Nietzsche), die nicht überwunden ist. Es fehlt das Ziel, Ermüdung und Blutverderbnis sind die Ergebnisse, es herrscht eine moderne Hölle, aus der Nietzsche, wie Dante, sich emporstößt, und, Schopenhauer und Buddha hinter sich lassend, "mit einem asiatischen und überasiatischen Auge auf das umgekehrte Ideal des übermütigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen" blickt. Dieser Mensch, auf den Nietzsche seine Hoffnung setzt, ist sich- und lebensbejahend, und in "alle Ewigkeit hinaus" will er haben, was war und ist. "Mit diesem Ideal", heißt die überraschende Folgerung von Pannwitz, "scheint zugleich ein neuer Gott auf", und zwar "der übermenschlich-übergöttliche des vollkommenen Lebens und seines Kreislauf-Mysteriums: in dem Orient, Antike und Christentum sich übergeschichtlich vereinigen, und der so das Leben in dem Leben und über dem Leben ist" (NW: 297). Nietzsche ist somit kein Atheist, der alte Gott widerspricht aber seiner Vorstellung von einem Gott, den die weiteste Kluft von allen tradierten Gottes-Vorstellungen trennen. Sein Ideal liegt jenseits von jeder Moral und allen verlogenen reaktiven Trieben, die dem maximalen Typus Mensch im Wege stehen.

Pannwitz greift zu Nietzsche aus der eigenen komplexen Perspektive heraus und bedient sich, wie er es in der Einführung in Nietzsche tat, eigener Begriffe, die von Nietzsche kaum verwendet oder eben bekämpft worden waren. Das wird ganz prägnant in der Feststellung:

Nietzsches Kosmos vollendet sich in dem Zusammenklange von vier Hauptsphären als ein göttliches Diesseits. In ihm ist jegliches geheiligt, doch nicht pantheistisch, sondern durch den schöpferischen, erlösenden, verklärenden, vollkommenen Blick. Dessen ist der Mensch der Erkenntnis und Liebe, die auf höchster Stufe eins sind, fähig (NW: 299).

War im Kind Aion die Natur, das ganze "göttliche Diesseits", so wird jetzt der ganze Nietzschesche Kosmos samt seinen "Hauptsphären" geheiligt, als eine Welt, die dem Chaos des Nihilismus durch einen "vollkommenen Blick" auf den Übermenschen die entscheidende Alternative anbietet. Und wird dieser Kosmos einer der Erkenntnis und Liebe, der auch Spinozas amor dei intellectualis in Erinnerung rufen mag – aber bei Nietzsche vielmehr ein amor fati oder eben amor mundi ist –, so nimmt Pannwitz den Verdacht auf Pantheismus vorweg, ihn durch die vier Hauptsphären Nietzsches ersetzend: sie sind der Wille zur Macht, die ewige Wiederkunft des Gleichen,32 der Übermensch und Dionysos. Trotz der Erfahrung des Faschismus und des Weltkrieges nennt also Pannwitz die Grundpfeiler der Philosophie Nietzsches beim Namen, im Bewußtsein, daß sie jedwede Ideologie überleben: er sprach es aus, wo andere (z.B. Thomas Mann) Nietzsche umzudeuten oder aus dem eigenen Denken auszutilgen bestrebt waren, daß der Wille zur Macht "die Triebkraft des Lebens" selbst ist, die sich "unter vielen Erscheinungen und Verwandlungen" auf eine ebenso natürliche Weise, wie das Leben selbst manifestiert. Denn das Leben strebt nach "Ausdehnung, Steigerung, Herrschaft", es will über sich hinausgreifen, und "alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden" ist – wie es bei Nietzsche heißt – "ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, ein Kampf" (NW: 299), es ist ein Glauben an "Dauerndes und regelmäßig Wiederkehrendes", das den Menschen zur "Erschaffung der Welt" bewegt (NW: 300). Das menschliche Dasein ist kein atomistisches, wird nicht durch Rechen-Einheiten aufgebaut, die ewige Wiederkehr ist mithin keine (von der modernen Physik geleugnete) ewige Wiederkunft des mechanischen Ganzen, sondern erinnert vielmehr an die orientalisch-antike Äonologie, dernach der Mensch durch seine Lebensführung sein ewiges Schicksal bestimmt. Der Kreislauf tritt indessen an die Stelle des Endziels sowie des Unendlich-Ziellosen.

Den von der faschistischen Ideologie mißbrauchten Begriff des Übermenschen betrachtet Pannwitz als den Ausdruck eines Menschgottes, einer "Überart der Art Mensch", die das Ziel der Entwicklung des vom Zukunftwillen beherrschten Menschen ist. Dieser "maximale Phänotyp" ist kein romantisches Gebilde des sich im Weltall auflösenden Menschen, sondern der "klassische Mensch", in dem sich der Kosmos personifiziert. Das Prinzip des Werdens ist in ihm geheiligt, dem Menschen ist sein Sinn und Ziel gegeben. Der Übermensch versinnbildlicht dabei den Antipoden des "letzten Menschen", der seinerseits "das Ergebnis der Nivellierung, die ungeheure Überzahl und beinahe Allzahl des Menschenphilisters" verkörpert (NW: 303). Weil nun die Philister, die die Mehrheit der Menschheit ausmachen, auf Behagen ausgerichtet sind, ist "die Meschheit und der Mensch selbst gespalten" – lautet Pannwitz’ Folgerung, die an die Aussage in der Krisis erinnert: "Die Menschheit mag es geben, den Menschen gibt es noch nicht" (KK: 43f.).

Pannwitz warnt indessen vor der Verkennung Nietzsches, wenn man seine Sprache, Witze, "Gaukeleien" oder sogar seine Krankheit überschätzt und hinter all diesen die "Siebendeutigkeit" seiner dionysischen Welt, das in sein eigenes Bild, in die Kunst übergegangene Leben, "das überwundene Ringen im Reiche des Vollendeten" (NW: 304) nicht richtig erkennt. Die Illusion, der Schein, die "Lüge"33 selbst sind ja konstitutive Elemente einer Dimension des Lebens, das aber im Grunde genommen "Fülle und Kraft, Traum und Rausch, Lust und Wollust" ist. Allerdings ist kein Leben absolut, sondern perspektivisch und "phantasmagorisch", mitbedingt duch die Phänomene der Kunst, des Ästhetischen, dieser "Potenzen der Realisation, der Realität", die ihrerseits ein "objektives artefactum" sind. Rückt zwar Dionysos, die höchste Potenz des Lebens, beim späten Nietzsche in den Vordergrund, so kann jedoch ohne Apollon weder ein Seiendes, noch ein Werk entstehen, und "tatsächlich" – schreibt Pannwitz – "ist beider Gleichgewicht in Nietzsches Welt da" (NW: 305).

Die Bedeutung von Dionysos in Nietzsches "Welt" sieht Pannwitz nun darin, daß der Antagonist des "undionysischen Christus" den Sinn aller Religion "erneuert und verjüngt", der nichts anderes besagt, als "die Gewinnung des Lebens durch seine freiwillige Preisgabe an den Tod." Der Tod ist aber kein Endziel des Lebens, sondern bejaht den Kreislauf, das ewige Leben, die Wiedergeburt des Menschen. Letztere ist wiederum keine Wiedergeburt der Seele in eine andere Welt, sondern eben "die Urgeburt eines neuen Menschen in die bestehende." Es wäre allerdings vor Torheiten und Übereilungen zu warnen, betont Pannwitz, zumal sich der europäische Mensch am "Ende eines Äons" befindet, das "keinen salto mortale in den nächsten erlaubt." Wo die Eschatologie zur Mode geworden ist, da folgt nur "ein elendes Versumpfen und Verkommen", wie in dem gegenwärtigen postmodernen Europa, aus dessen Krise es nur "jenseits des Nihilismus" einen Ausweg gibt.

Dieser "mörderischen Dynamik des Nihilismus", der die Krise des europäischen Menschen bezeichnet, ist aber, konkludiert Pannwitz, nur Nietzsche mit seiner schrankenlosen Liebe gewachsen: eine Hoffnung für diejenigen, die der herrschenden Religion nicht zugehören und dennoch eine Welt haben wollen.

ANMERKUNGEN

1. Siehe hierzu etwa Dieter Arendt (Hrsg.): Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts. Darmstadt, 1974.; Hans Jürgen Gawoll: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart/Bad Cannstatt, 1989.; Bruno Hillebrand: Ästhetik des Nihilismus. Von der Romantik zum Modernismus. Stuttgart, 1991.; Elisabeth Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus. Berlin, 1992.

2. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, III. Abt., 25 §.

3. Vgl. Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Tübingen, 1978., Bd. I, S. 20.

4. Ebd., S. 199. Nicht von ungefähr steht dieses Zitat auch bei Aschheim als Motto über der ersten Phase der Nietzsche-Rezeption in Deutschland. Vgl. Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. Berkeley/Los Angeles/London, 1994. (Kapitel Germany and the Battle over Nietzsche, 1890-1914).

5. Zit. nach Paul Wegwitz: Einführung in das Werk von Rudolf Pannwitz. Nürnberg, 1927., S. 19.

6. Vgl. Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg, 1947. (2. Aufl.), S. 34. (im weiteren abgekürzt im Text mit "KK")

7. Pannwitz schrieb 1968 im Umriß meines Lebens und Lebenswerks: "Doch bewog mich die Revolution Hitlers [sic], 1933 ein Goethe-Buch zu beginnen, das Goethe in die Mitte seiner Epoche und der Vor- und Nachepochen stellen sollte." Zit. nach Udo Rukser: Über den Denker Rudolf Pannwitz. Meisenheim, 1970., S. 154.

8. Von der Verpflichtung des Autors dieser Tragödien für Nietzsche zeugt außer dem Titel auch die Widmung auf dem Vorsatzblatt des ersten Bandes: "Friedrich Nietzsche dem Schöpfer unseres neuen Lebens die Ausgabe dieser Werke als einer ganzen Jugend verspätete Antwort und Dankbarkeit für die Tat." Vgl. Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Bd. II. Berlin/New York, 1998. (2. Aufl.), S. 623.

9. Rudolf Pannwitz: Maßstäbe und Beispiele lyrischer Synthese. IV. Stefan Georges Stern des Bundes (1919). In: Hillebrand, a. a. O., S. 195.

10. Wegwitz, S. 4.

11. Ebd., S. 7.

12. Ebd., S. 8.

13. Vgl. hierzu etwa Elisabeth Kuhn: Nietzsches ‘gute Europäer’ und ‘gutes Europa’. In: Endre Kiss (Hrsg.): Friedrich Nietzsche und die globalen Probleme unserer Zeit. Cuxhaven/Dartford, 1997., S. 215-228.

14. Pannwitz: Der Nihilismus und die werdende Welt. Aufsätze und Vorträge. Nürnberg, 1951., S. 119.

15. Wegwitz, S. 12.

16. Ebd., S. 19.

17. Ebd. S. 5.

18. Vgl. Nietzsche: Genealogie, I. Abt., § 12.

19. Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, Vorrede.

20. Nietzsche: Genealogie, II. Abt., § 24.

21. Die Psychologie Carl Gustav Jungs, dessen Werke Pannwitz später kennenlernte und würdigte, ist wohl diesem seinen Wunsch nähergekommen. Vgl. Rudolf Pannwitz: C. G. Jungs Wissenschaft der Seele. In: Merkur, 63 (1953), S. 418-438.

22. Eine Bezeichnung, die zwei Jahre später zum Titel seines (oben erwähnten) Epos Kind Aion wird.

23. Die Bezeichnung wird von György Kunszt in Anlehnung an Karl Jaspers verwendet. Vgl. György Kunszt: A hagyomány jövõje, Veszprém 1995.

24. Eine ähnliche Feststellung macht Pannwitz in seinem viel späteren Werk Beiträge zu einer europäischen Kultur (1954), demnach Nietzsche "mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen die altorientalische Aenologien wieder aufgenommen" habe, und zwar mit Hilfe der modernen Physik (!). Vgl. Rudolf Pannwitz: Beiträge zu einer europäischen Kultur. Nürnberg, 1954., S. 255.

25. Zit. nach Rukser, S. 147.

26. Zit. nach Hillebrand, Bd. I, S. 199. Über die Bedeutung des Gilgamesch-Mythos sollte Pannwitz später ein Buch schreiben mit dem Titel: Gilgamesch –Sokrates. Titanentum und Humanismus. Stuttgart 1966.

27. Hillebrand, S. 200.

28. Nietzsches Wissenschaftskritik vor Augen haltend ist dieser Ausdruck wahrscheinlich vielmehr als "unmittelbares Wissen" zu verstehen

29. Vgl. Hillebrand, S. 200f. Die "kosmische Wiedergeburt" ist hier nicht unbedingt mit der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" gleichzusetzen, sie ist nach Pannwitz’ Ansicht gleichsam eine Entäußerung des Geistes, die dessen ewige Weisheit verkündet.

30. Rudolf Pannwitz: Nietzsche und die Gegenwart. IN: Pannwitz: Der Nihilismus und die werdende Welt, S. 289. (im weiteren abgekürzt im Text mit "NW")

31. Daß Nietzsches Also sprach Zarathustra das Drama eines Menschen ist, der den Gedanken der ewigen Wiederkunft in sich trägt, ist auch Gadamers Ansatz. Vgl. Hans Georg Gadamer: Das Drama Zarathustras. IN: Nietzsche-Studien 15, 1986., S. 1-15.

32. Pannwitz’ Auffassung der ewigen Wiederkunft des Gleichen in der Kultur erinnert aber wohl noch stärker an Spengler als an Nietzsche (für einen Vergleich zwischen diesen siehe etwa Dezsõ Csejtei: Die ewige Wiederkehr des Gleichen – zu Kleingeld gemacht? IN: Pro Philosophia Füzetek, Veszprém, 1998/13-14., S. 193-206). In diesem Falle kann man allerdings mehr von parallel gezogenen ähnlichen Folgerungen als vom Einfluß des Zeitgenossen sprechen.

33. "Lügen" die Dichter zuviel, so bekennt sich ja auch Zarathustra zu ihren Lügen: "wir lügen zuviel" (Also sprach Zarathustra II, Von den Dichtern).