Endre Kiss

Von Spinoza als Vorbild des Zarathustra bis zur Materialisierung der formalen Ethik
(Über die relevantesten Inhalte
der Nietzsche-Spinoza-Relation)


Unser Titel enthaelt schon eine These: Es ist durchaus vorstellbar, dass die Gestalt des Philosophen Baruch Spinoza unter anderen auch ein Vorbild für Friedrich Nietzsche’s Zarathustra ist. Wir können im Besitz der als gesichert geltenden Dokumente und Erkenntnisse der Nietzsche-Forschung die im Titel in expliziter Form gestellte Frage jedoch noch nicht ganz eindeutig beantworten. Waere auf diese Frage heute schon eine positive Antwort möglich, so waere es von Anfang an eine philologisch-philosophische Sensation. Es waere naemlich ein neuer Schlüssel zu der so schwierig zu interpretierenden philosophischen Dichtung Zarathustra, es waere aber dadurch – d.h. durch die konkrete Identifizierung des Protagonisten des philosophischen Gedichts mit Spinoza – ein weiterer effektiver Schlüssel zum ganzen Werk Friedrich Nietzsches.
Die Dimensionen der grundlegenden Identifikationsfrage zwischen Nietzsche und Spinoza sind seit je umfassend genug. Es finden sich weder im Werke selber noch in den das Werk begleitenden auktorialen Bemerkungen überhaupt genügend orientierende Argumente dafür, warum Zarathustra eben Zarathustra ist, warum also der deutsche Dichterphilosoph der zweiten Haelfte des neunzehnten Jahrhunderts den (in Europa und generell in der europaeischen kulturellen Erinnerung so gut wie überhaupt nicht vorhandenen) persischen Religionsstifter für sein ganzheitliches alter ego ausgewaehlt hat. Das Fehlen der diesbezüglichen konkreten Hinweise ist um so auffallender, als Nietzsche ansonsten ein Autor ist, der sich mit unvergleichlicher Intensitaet und von vielfachen Motiven geleitet des öfteren selbst erklaert, wiederholt und interpretiert, von seinen staendigen Aeusserungen über andere Denker (auch über Spinoza) ganz zu schweigen. Es faellt das Fehlen der diesbezüglichen konkreten Hinweise aber auf, weil der Zarathustra der philosophischen Dichtung ein zwar (im exakten Nietzscheschen Sinne) „ökumenischer”, darüber hinaus aber auch das gesamte menschliche Geschlecht universal repraesentierender Protagonist ist, der seine Mission gerade in der konkreten Aktualitaet der modernen Lebenswelt formuliert.
Sieht man nun dieselbe Problematik von Nietzsches Seite aus an, so wird es klar, dass er bewusst gewesen sein musste, dass er bei der Auswahl seines eigenen ganzheitlichen alter ego innerhalb der Konzeption einer philosophischen Dichtung von Anfang an vor enorme Schwierigkeiten gestellt war. Diese Schwierigkeiten resultieren vor allem aus der letztlich kaum definierbaren Gattung dieser philosophischen Dichtung. Denn Nietzsche wollte, erstens, nicht nur die thesenhaft im Mittelpunkt stehende, von ihm gerade erst in ihrer Ganzheit erkannte moderne Menschheitsproblematik, und zwar diejenige nach dem Tod Gottes, und eine neue philosophisch durchdachte (wie Nietzsche es ausdrückt) „ökumenische”, d.h. gesamtmenschliche, Problematik artikulieren. Er wollte aber, zweitens, mit dem Zarathustra auch seine neue Philosophie in einer, wie er dachte, allgemein verstaendlichen Form neu formulieren. In diesem Sinne ist Zarathustra ein popularisierendes Werk, besser gesagt, ein Werk der philosophischen Paedagogik. Das bedeutet, dass eine enorme Anzahl der Thesen und Auffassungen, die keine neuen Aussagen, die in klar erkennbarer Form in den Werken der zweiten Phase schon im philosophisch-diskursiven Werk ausgesprochen waren. Drittens erscheint in Zarathustra gleichzeitig eine Parodie und ironische Infragestellung jenes Gesamtansatzes, den wir in den vorangehenden beiden Punkten zusammenzufassen suchten. Und viertens sind wir zur festen überzeugung gekommen, dass der gelehrte Zeitgenosse Möbius Recht hatte: Zwar kann man den Zarathustra insgesamt keineswegs für ein Werk der Pathologie erklaeren, doch sind die Spuren der Grenzüberschreitung zwischen Krankheit (Pathologie) und Gesundheit in ihm deutlich wahrzunehmen. Aus all diesen Aspekten (die alle noch zahlreiche weitere Teilaspekte in sich vereinen) ergibt sich eine zu verallgemeinernde hermeneutische Problematik, die der (von Hugo Friedrich entliehenen) Problematik der „Unbestimmtheitsfunktion der Determinanten”, etwas einfacher ausgedrückt, die Situation der Referenz, wo die Gegenstaendlichkeit des Referierten nicht eindeutig festgestellt, geschweige denn identifiziert werden kann. In diesem Gesamtzusammenhang ist die Hypothese, dass Spinoza auch als Vorbild für Zarathustra ernsthaft in Erwaegung bringen kann, eine Möglichkeit, das Werk besser zu verstehen.
Bevor wir nach jenen Formulierungen Nietzsches Ausschau halten, die die Wahl Spinozas zum Urbild Zarathustras von dieser oder jener Perspektive aus erklaeren könnten, soll auch erwaehnt werden, dass sich Nietzsche in der sog. zweiten Periode seines Schaffens, welche bekanntlich die poetische Dichtung Zarathustra zur Ausreifung verhilft, in jeder Hinsicht als jener europaeische Philosoph erweist, der auch die Problematik der jüdischen Emanzipation in ihrer vollen Bedeutung versteht. Dies ist einerseits wie eine selbstverstaendliche Vorbedingung seiner Hinwendung zu Spinoza, so dass seine spaetere Auseinandersetzung mit ihm sich vor dem Hintergrund seiner einmaligen analytischen Einsichten in diese Problematik vollzieht.1
Nietzsches allgemeine Charakterisierung der jüdisch-christlichen Begegnung enthaelt bereits eine jener Beschwörungen Spinozas, in denen letzterer als der Höchste der menschlichen Gattung erscheint. Hinter dieser Einstellung steht eine sehr komplexe Identifizierung, deshalb scheint die Formulierung Yovels etwas daneben zu greifen, in der er von Nietzsches „Begeisterung” für Spinoza redet, in welcher er (Nietzsche – E.K.) dazu neigt, „die Unterschiede zwischen sich und Spinoza zu verkleinern” (Yovel 1966, 386). Im Unterschied zu diesen Formulierungen sind zwei dynamische Prozesse fast symmetrisch fixiert: Es ist etwas anderes, ob jemand in einer Begeisterung Unterschiede zu verkleinern sucht oder ob er aus dieser Position einer beinahe restlosen Identifikation Unterschiede zu entdecken meint.
In der universal und superlativistisch vorgestellten Gestalt Spinozas vermischen sich sehr subjektive und sehr objektive Momente. Was als „subjektiv” gilt, erscheint als eine Auswahl von der Position der menschlichen Gattung aus, das „Subjektive” erweist sich letztlich also als „objektiv”. Und was eben als „objektiv” erscheint, wird von der sich allseits breit machenden persönlichen Authentizitaet und der dieser folgenden persönlichen Glaubwürdigkeit wieder „subjektiv”2. Die spezifische hermeneutische Schwierigkeit in dieser Aussage besteht darin, dass Spinoza hier in einer mehrfach komprimierten Essentialitaet erscheint, deren analytische Auflösung – mangels der Möglichkeit, die diese Essentialitaet ausmachenden einzelnen Perspektiven einzeln analytisch zu rekonstruieren – kaum möglich ist. Nietzsche will eine latent wissenschaftliche, philosophische und menschliche Gemeinschaft mit den Genannten und unter ihnen auch mit Spinoza errichten. Was er dabei umreisst, erinnert mutatis mutandis an eine ins Zeitlose, Absolute und Essentielle erhobene wissenschaftliche Gemeinschaft im Sinne der wissenschaftstheoretischen Diskussion der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts.
Die vom Zentrum Nietzsche ausgehende universale und gleichzeitig superlativistische Identifizierung mit Spinoza artikuliert sich bei dem Denker auch im Kontext einer essentialistisch komprimierten Problematik d er deutschen Entwicklung (über die von Anfang gewusst werden kann, wie zentral sie generell für Nietzsches Denken und Leben gewesen ist): „Zwei Deutsche – Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist: so sind die erstgenannten Denker im Nachteil: ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es gibt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant’s, eines Kopfes, im Falle Schopenhauers, die Beschreibung und Spiegelung eines Charakters (‘des unveraenderlichen’) und die Freude am ‘Spiegel’ selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellekte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth, im besten Sinne, aber als unbedeutend: es fehlt ihm an Breite und Macht; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Zeit, Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe ‘Ereignisse’ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfaellt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen Vorsprung vor ihm: er besitzt wenigstens eine gewisse heftige Haesslichkeit der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Musse für diese Wildheit. Aber ihm fehlte die ‘Entwickelung’, wie sie in seinem Gedankenkreise fehlte; er hatte keine ‘Geschichte’” (KSA, 3, 285 – Sperrungen im Original – E.K.). Dieser Vergleich, der nicht den „Geist”, sondern die „Seele” der Philosophen zu seinem Gegenstand waehlt, gewaehrt einen Einblick in Nietzsches Auffassung von der Philosophie. Sie ist eine Konzeption, die von einer Einheit der „Seele” und des „Geistes”, der „Persönlichkeit” und des „intellektuellen Charakters”, der „Existentialitaet” und der „kognitiven Potenzen” ausgeht. Diese Forderung nach einer Einheit dieser stets als unterschiedlich, wenn nicht eben widersprüchlich behandelten Sphaeren ist unvergleichlich mehr als nur ein frommer humanistischer oder philanthropischer Wunsch. Diese Forderung hat harte philosophische und heuristische Dimensionen, die existentielle Begründung gilt auch für die höheren Dimensionen des Denkens als notwendigerweise produktiv. Die Erwaehnung Spinozas in diesem Kontext hat einen zweifachen Charakter. Einerseits gehörte auch Spinoza ohne jeglichen Zweifel zu jenen Philosophen, die in ihrem Denken nach einer Einheit der existentiellen und der kognitiven Dimension strebten. Andererseits – und dies kann für die Nietzsche-Spinoza-Relation noch wichtiger werden – war Spinoza ein Denker, der auch noch die Notwendigkeit dieser Forderung ebenfalls erkannte und sie auch reflexiv gemacht hat. Uns scheint, dass die gemeinsame Reflexion dieser Relation wichtiger für die Verwandtschaft der beiden Denker als die ebenfalls gemeinsame ursprüngliche Attitüde ist.
Den Komplexitaetsgrad dieser universalen und superlativistischen Identifikation mit Spinoza zeigt Nietzsches folgender Gedankengang, und zwar vor allem in seinem Vergleich mit den vorangegangenen Ideen einer möglichen Einheit von Existentialitaet und Erkenntnis: „Das reinmachende Auge – Von ‘Genius’ waere am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Tempo soweit nur lose angeknüpft erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade Solche am lebhaftesten von ihrem ‘Genius’ gesprochen, welche von ihrem Temperamente nie loskamen und ihm den geistigsten, grössten, allgemeinsten, ja unter Umstaenden kosmischen Ausdruck zu geben wussten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genie’s konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich vorzufinden, wohin sie auch nur flogen, – das ist ihre ‘Grösse’... – Die Anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das reine, reinmachende Auge, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit einem Male geschenkt: es gibt eine übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, findet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens.” (KSA, 3, 292. -Sperrungen im Original – E.K.) Erst die Gegenüberstellung der beiden Gedankengaenge kann die wahre und vollstaendige Position Nietzsches – beidenfalls im Kontext und mit Hilfe Spinozas! – klarmachen. Auf der einen Seite sollen Kognition und Existentialitaet vereinbar sein. Auf der anderen Seite kann und darf diese Existentialitaet nicht mit dem „Temperament”, mit der alltaeglichen Persönlichkeit des Denkers identisch sein – mit einem Wort, sie darf nicht die partikulaere und noch so authentische Subjektivitaet des Denkers ausdrücken. Wie als ob der praechtig gewaehlte Ausdruck „reinmachendes Auge” den Tatbestand am exaktesten wiedergeben würde: Das Auge des Denkers muss „rein” und gleichzeitig „reinmachend” sein, was exakt eine aus der Tiefe kommende Existentialitaet bedeutet, welche aber frei von den partikulaeren Einflüssen und Motiven, frei von den alltaeglichen Reaktionen des Ichs ist.
Wieder eine neue Fassung der bereits umrissenen Einstellung erscheint im folgenden Gedanken Nietzsches, in dem zunaechst erst auf die superlativistische Gesellschaft von Spinoza hingewiesen werden muss: „Wenn ich von Plato, Pascal, Spinoza und Goethe rede, so weiss ich, dass ihr Blut in dem meinen rollt – ich bin stolz, wenn ich von ihnen die Wahrheit sage – die Familie ist gut genug, dass sie nicht nöthig hat, zu dichten oder zu verhehlen; und so stehe ich zu allem Gewesenen, ich bin stolz auf die Menschlichkeit , und stolz gerade in der unbedingten Wahrhaftigkeit” (KSA, 9, 585. – Sperrungen im Original – E.K.). Dieser Gedanke artikuliert die (von den Genannten erzielte und realisierte, für Nietzsche für sich und für seine Epoche so primaere Qualitaet der) „Menschlichkeit”. Für Nietzsche ist aber auf der Höhe seines Philosophierens von der allergrössten Wichtigkeit, dass seine „Hommage” vor der Menschlichkeit der Genannten „wahrhaftig” wird. Die im Gedankengang erwaehnte „unbedingte Wahrhaftigkeit” bezieht sich nicht auf die Problematik der Tatsaechlichkeit, d.h. darauf, ob die genannten Denker „wirklich” die höchste Menschlichkeit verkörperten oder nicht. „Wahrhaftig” sein heisst hier die Gewissheit, dass die genannten Denker auf jene Weise die höchst erreichbaren Stadien der realisierbaren Menschlichkeit realisieren konnten, dass sie gleichzeitig „wahrhaftig” waren und blieben, dass heisst vor allem, dass sie die nicht-anthropomorphen, d.h. nicht für die Menschen geschaffenen Bedingungen der Wirklichkeit einsehen konnten und dadurch in ihrer Taetigkeit die Wahrheit wie vertraten, bzw. verkörperten. Diese Einsicht liefert einen sehr wertvollen Beweis für jene essentielle Einstellung Nietzsches, wonach „Wahrheit” allein durch ein Optimum an „Menschlichkeit” und „Menschlichkeit” nur durch ein Optimum der Wahrheit wirklich zu realisieren sei.
Auch im weiteren bleibt das Motiv einer einfach scheinenden, nichtsdestoweniger aber die philosophische Essenz repraesentierenden Einheit zwischen Existentialitaet (Glaubwürdigkeit, Authentizitaet und Glück) und Wahrheitsfaehigkeit (Kognitio n, richtiges Bewusstsein, Kritizismus) praesent. Diese scheinbar simple Einheit wird mit einer Reihe von analytischen Einsichten in die gegenseitige Bedingtheit der beiden Momente plötzlich extrem aufgewertet. Dass diese Einheit der beiden Momente auch einen kohaerenten und unschwer erlebbaren Zustand darstellen kann, zeigt Nietzsches folgender Gedankangang: „Im Altertum hatte jeder höhere Mensch die Begierde nach dem Ruhme – das kam daher, dass jeder mit sich die Menschheit anzufangen glaubte und sich genügende Breite und Dauer nur so zu geben wusste, dass er sich in alle Nachwelt hinein dachte als mitspielenden Tragöden der ewigen Bühne. Mein Stolz dagegen ist ‘ich habe eine Herkunft’ – deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed, Jesus, Plato, Brutus, Spinoza, Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an’s Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte. Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes – der historische Sinn beginnt erst jetzt” (KSA, 9, 642. Sperrung im Original – E.K.). Nietzsches „Stolz” ist ein aktueller Zustand, dessen „Erleben” gerade durch die Motive der Wahrheitsfaehigkeit und der existentiellen Authentizitaet, bzw. Glaubwürdigkeit ausgezeichnet wird. Dieselbe überzeugung von höchster innerer Evidenz spricht sich auch in einem anderen Fragment aus: „meine Vorfahren Heraklit, Empedocles, Spinoza, Goethe ...” (KSA, 11, 134 – Sperrungen im Original).
Die universale und superlativistische Identifizierung mit Spinoza, die Annahme, dass er zu denen gehörte, die die höchste und in der Natur der höchsten Dinge liegende Einheit von Existentialitaet und Wahrheitsfaehigkeit auf optimale Weise verwirklichen konnte, schloss aber die Möglichkeit nicht aus, dass die Gestalt, die den höchsten Grad menschlicher Möglichkeiten auf das Optimalste realisieren konnte, stets auch einem Verdacht unterworfen werde. Indem Nietzsche also Spinoza zu den höchsten Menschen (manchmal zu dem Höchsten) erhoben hat, erstand vor ihm die Notwendigkeit, diese einmalige Qualifikation stets von neuem zu prüfen. Daher gewinnt Nietzsches Spinoza-Bild auch eine eigentümliche und sehr intensive Spannung, die mit den wichtigsten philosophischen Positionen und Attitüden am engsten verwachsen war. Indem beispielsweise die „Wahrheitsfaehigkeit” und die richtige Erkenntnis Spinoza mit Notwendigkeit zu einem gegen jegliche Metaphysik eingestellten Denker macht, motivieren die Annahmen über eine „Metaphysik” Spinozas Nietzsche zur Modifizierung seines Spinoza-Bildes.3 Die bereits angesprochene Vielschichtigkeit der gedanklichen Annahme kommt auch in diesem Kontext voll zur Geltung. Es ist Nietzsche zunaechst existentiell wichtig, ob Spinoza wirklich jene „übermenschliche” Vereinigung von existentieller Glaubwürdigkeit und denkerischer Wahrheitsfaehigkeit realisiert oder nicht. Zweitens ist es für Nietzsche auch philosophisch von der höchsten Relevanz, ob seine Auffassung von dem richtigen Philosophieren und Denken überhaupt einmal in der Geschichte der Menschheit je Wirklichkeit geworden war oder nicht. Und drittens haengen bei Nietzsche die intellektuelle und die existentielle Dimension des richtigen (oder anders gesagt: des einzigen richtigen) Philosophierens auch sachlich am engsten zusammen, denn ohne eine Optimalitaet des einen waere auch die Optimalitaet des anderen nicht möglich. Haette sich herausgestellt, dass dieses evidente Aufeinanderangewiesensein nicht einmal von einem Spinoza wirklich realisiert worden ist, so dürfte diese Lehre (Nietzsches eigene Lehre, wohlgemerkt!) ihn selber direkt in die Verzweiflung treiben müssen.
Obwohl wir das für Nietzsche spezifisch charakteristische Schwanken zwischen universaler und superlativistischer Identifizierung und sich stets wieder neu reproduzierenden Verdachtsmomenten auch noch in den spaeteren Teilen dieser Arbeit thematisieren müssen, sei auch schon an dieser Stelle auf die Intensitaet dieses Unsicherheitsgefühls hingewiesen: „Was mich gegen die Philosophen misstrauisch gemacht hat, ist nicht dass ich einsah, wie oft und leicht sie sich vergreifen und verwirren, sondern dass ich nirgends genug Redlichkeit bei ihnen fand: sie stellen sich saemtlich als ob sie eine Sache durch Dialektik entdeckt und erreicht haetten, waehrend im Grunde ein vorweggenommener Satz von ihnen durch eine Art Beweis verteidigt ist...Die Tartufferei des alten Kant, als er seine Schleichwege zum ‘kateg(orischen) Imperativ’ suchte, macht laecheln. Oder gar der mathematische Anschein, wodurch Spinoza seinen Herzenswünschen einen festungsartigen (!) Charakter (gab), etwa, das wie unabweislich den Angreifenden einschüchtern soll” (KSA, 14, 348). Das Moment der „intellektuellen Redlichkeit” spielt bei Nietzsche eine wissenskonstituierende Rolle, so dass sich seine Bedeutung überhaupt nicht auf das Moralische reduzieren laesst. Andererseits benennt Nietzsche hier sowohl im Falle Kants wie auch im Falle Spinozas diejenigen konkreten systematischen Konstrukte, die nach seiner Einschaetzung der mangelnden intellektuellen Redlichkeit entstammen. Diese Hinüberführung der Verdachtsmomente in die Beschreibung, aber auch in die Qualifizierung der einzelnen systematisch-philosophischen Elemente führt bei Nietzsche zum Ausbau einer frühen, noch kaum explizit so zu nennenden wissenssoziologisch-ideologiekritischen Anschauung, deren immanent philosophische Relevanz nicht in Zweifel gezogen werden darf. Es ist auch die Stelle, wo die kognitive, wenn man will, die wirkliche wissenskonstituierende Dimension der moralischen und/oder existentiellen Momente im Sinne der reifen Form von Nietzsches Philosophie exakt benannt werden muss. Denn es steht gerade nicht so, wie Yovel meint, indem er als Nietzsches Meinung anführt, „Erkenntnis (gehöre) zur instinktiven Seite des Lebens”, und daraus folgert, dass diese Interpretation der Erkenntnis zur (im Titel dieser Arbeit auch angeführten) Identifikation zwischen „Erkenntnis” und „(maechtigsten) Affekt” bei Nietzsche führen konnte (s. Yovel, 1996, 386). Nun sind wir der Meinung, dass Nietzsche ein voll ausarbeitete Erkenntnistheorie des kritizistischen Positivismus (oder kritizistischen Empirismus) hatte (s. z.B. Kiss, 1993), und gerade seine voll ausgearbeitete kritizistische Erkenntnistheorie führt auf gewissen Linien zu einer „naturalistischen” (oder vitalistischen) Erweiterung der Gnoesologie. Diese Erweiterung wird von vielen (unter ihnen auch von Yovel) als eine unvermittelte und voll beabsichtigte Naturalisierung der Erkenntnistheorie interpretieren. Aus all dem folgt aber, dass eine Auffassung der Erkenntnis als „maechtigster Affekt” keine naturalistische Reduktion (Erkenntnis = instinktive Seite des Lebens), vielmehr eine im früheren Sinne verstandene, wissenssoziologisch eruierte Ausdehnung und Erhöhung derselben (Erkenntnis als legitime Erkenntnis = maechtigster Affekt), eine Art „Metaerkenntnistheorie” ist, in welcher dann in vollkommen unerwarteter Weise wieder auch eine klare sachliche Beziehung zwischen existentiellen/oralischen und kognitiven Qualitaeten aufkommt.
Für Nietzsche wie für Spinoza ist es somit durchaus charakteristisch, dass die zum immanenten philosophischen Motiv gemachte „intellektuelle Redlichkeit”, oder anders gesagt, die ebenfalls zum selbstaendigen philosophischen Inhalt erhobene Einheit von Existentialitaet und Wahrheitsfaehigkeit nicht nur in ihrer negativen Form oder in ihrer Abwesenheit, sondern auch in ihrer positiv erlebten und erlebbaren Form als bestimmender Faktor des richtigen Denkens und des richtigen Lebens erscheinen muss. Die Bedeutung dieses Tatbestandes ist kaum zu überschaetzen.4 Die Gl eichsetzung der Erkenntnis und des Glücks ist – sowohl bei Nietzsche wie auch bei Spinoza – jedem möglichen Anschein zum Trotz bei weitem nicht eine Frage der Moral oder der rechten Lebensführung. Die Realisierung dieser Einheit ist eine hohe Praxis, eine realisierte Philosophie, aber auch eine Form des richtigen Denkens par excellence.
Nur scheinbar steht im Widerspruch zu dieser im wahren Sinne des Wortes „göttlichen” Einheit der folgende kritische Gedankengang über die Motivationen der Wissenschaftsförderung, vor allem aus dem Grunde, weil es sich hier um die soziologische Objektivation „Wissenschaft”’ und nicht um die Perspektive des richtigen Denkens geht: „Aus drei Irrtümern – Man hat in den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte...das Hauptlohn in der Seele der grossen Englaender (wie Newton) – theils weil man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntnis glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Franzosen (wie Voltaire), – theils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem sie bösen Triebe des Menschen überhaupt nicht beteiligt seien – das Hauptmotiv in der Seele Spinoza’s, der sich als Erkennender göttlich fühlte: – also aus drei Irrthümern” (KSA, 3, 405-406). Die Lobpreisung der Einheit von Erkenntnis und Glück (und zwar auf Grund thematisch gemachter philosophischer überlegungen) und spaeter die Bezeichnung von Spinozas Glücksgefühl wegen des Erkennens als eines „Irrtums”, ist kein Teil von Nietzsches innerem Oszillieren zwischen einer universalen und superlativistischen Identifizierung und einem Verdacht in Hinsicht auf die wahre Authentizitaet dieser historischen und denkerischen Einmaligkeit. Dieser scheinbare Widerspruch ist eine Folge seines philosophischen Perspektivismus, der ja den vollen Wahrheitsgehalt einer gegebenen Perspektive artikuliert, ohne im Augenblick der Artikulation einer konkreten Perspektive auch an die Gesamtstruktur der Aussagen zu denken, die aus den Einsichten pinzipiell von allen Perspektiven insgesamt resultiert.
Nach diesen bestimmenden Linien der Spinoza-Rezeption Friedrich Nietzsches muss man die philologischen und rezeptionshistorischen Momente dieser Verbindung thematisieren. Obwohl die diese Zusammenhaenge und Fakten beleuchtenden Forschungen in dieser Arbeit nicht vollzaehlig aufgeführt werden können und wir andererseits annehmen können, dass die bisherigen Forschungen in Zukunft noch durchaus relevante Ergaenzungen erfahren werden, scheinen gewisse bestimmende Momente trotzdem schon gesichert zu sein. Man kann zum einen annehmen, dass der junge Nietzsche von einigen für ihn wichtigen Autoren sein Spinoza-Bild empfangen hat. Zu denken ist vor allem an die für den jungen Nietzsche erreichbaren Spinoza-Darstellungen von Friedrich Albert Lange, Eugen Dühring und Arthur Schopenhauer. Im Kontext dieses Versuchs seien diese als sicher geltenden jugendlichen Erinnerungen und Lektüren ausgeklammert.
Die Grundlage der heutigen Einsicht in die philologische Dimension der Spinoza-Rezeption Nietzsches bietet die 1881 durchgeführte Lektüre. Dabei las Nietzsche den Spinoza-Band von Kuno Fischer (Fischer 1865), den er von dem Freund Overbeck nach Sils Maria schicken liess. In dieser Lektüre dürfen wir die philologischen Schlüsselmomente dieser Rezeption entdecken, die ja die ganze Breite und Tiefe der philosophischen Rezeption doch nicht voll abdecken. Die Annahme, die Nietzsche-Spinoza-Beziehung von dieser einmaligen Relevanz ginge auf eine frühere Zeit, naemlich auf eine der engeren Zusammenarbeit mit Paul Rée, zurück, waere beim heutigen Stand der Forschung kaum zu verifizieren. In dieser Arbeit versuchen wir auf diese Annahme auf zwei unterschiedlichen Linien zu antworten. Die eine Linie waere (spaeter gehen wir auf diese Möglichkeit noch einmal ein) der pure Gestus der Demonstration: Es laesst sich demonstrativ nachweisen, dass Inhalte, die mit Spinoza’s Affektenlehre zu identifizieren sind, in Nietzsches Werk erst nach 1881 auftauchen. Die andere Linie waere eine Rekonstruktion der indirekten Zeugnisse von Nietzsches Korrespondenz. Sollte es ein Zufall sein, dass Nietzsches Brief an Overbeck, in dem er (neben zwei anderen Büchern) Fischer’s Spinoza-Buch verlangt, am selben Tag als ein Brief auch nach Paul Rée nach langer Zeit und als Zeichen einer Kontaktaufnahme geschrieben wurde?5 Zu dieser Zeit, etwa des Erscheinens der Morgenröte (Sommer 1881) faengt wieder ein langer Briefwechsel zwischen Nietzsche und Rée wieder an (dem neue persönliche Begegnungen, sogar auch Begegnungen mit Lou, folgen), der Name Spinoza faellt aber in dieser Kommunikation nie. Diese und andere Momente zeigen, dass Paul Rée zu dieser Zeit in Nietzsches Denken nicht in einem Universum mit Spinoza existiert. Und dies zu einer Zeit der universalen und superlativistischen Identifizierung!
Der Horizont der Schlüsselmomente in den Fischer-Exzerpten wird grundsaetzlich von der Tatsache bestimmt, dass Nietzsche in der Zeit der Lektüre sich als Verfasser einer eigenen Philosophie erlebt, der nach einer gewissen Regel sein Werk und seine Leistung mit denen der Klassiker der Philosophie vergleicht. Es ist nicht uninteressant, dass Nietzsche für diese seine als endgültig angesehene Philosophie Lou Salome als Schülerin und Nachfolgerin zu gewinnen sucht, waehrend er über dieselbe Philosophie mit Rée nicht kommuniziert! Dass im Laufe dieses merkwürdigen Prozesses die Aehnlichkeiten zwischen Spinozas und seiner eigenen Philosophie ihm klar geworden sind, gilt als ausgemacht. Nietzsche erlebt sich aber auch als Autor einer Philosophie, die er mit dem besten Gewissen für einmalig haelt, die aber kaum von jemandem verstanden wird, auch nicht von jenen, von denen er es auf evidente Weise erwartet haette. Dies weckt in ihm stets neue Versuche der Verbesserung seiner philosophischen Kommunikation, die letztlich zur philosophischen Dichtung Zarathustra führen werden. Und drittens gilt Nietzsche in dieser Zeit zwar als Autor einer revolutionaer neuen Philosophie, diese zweifellos reif gewordene Philosophie entwickelt sich aber auch weiter. Die einmalige Bedeutung Spinozas für Nietzsche setzt sich aus allen drei Elementen auf die gleiche Weise, wenn auch nicht im gleichen Ausmass zusammen. Zum einen vergleicht Nietzsche seine reife Philosophie mit jener von Spinoza. Zum zweiten ist Spinoza der eine, den Nietzsche zum Prototyp der Zarathustra-Gestalt machen will. Zum dritten übernimmt Nietzsche von Spinoza Elemente für die weitere Entfaltung und Ausarbeitung seiner reifen Philosophie, waahrend auch noch die Spinoza betreffenden Verdachtsmomente sich generativ auf die weitere Entwicklung der an sich schon „fertigen” Philosophie auswirken.
In all die soeben genannten Perspektiven wird uns ein Einblick gewaehrt, wenn wir uns die Serie jener Spinoza-Zitate kurz vergegenwaertigen, die Nietzsche in diesem ausgezeichneten Stadium seiner Spinoza-Rezeption sich exzerpiert hatte. Im folgenden geben wir die praktisch vollstaendige Reihe dieser Zitate wieder (KSA, 9, 517-519), an deren Ende Nietzsche die Seitenzahl der Fischer-Monographie selber angegeben hat.6
Die von Nietzsche zu genau dieser Zeit aus Spinoza ausgewaehlten Zitate weisen auf eine gemeinsame und umfassende Perspektive hin. Es ist die Problematik der im breiten Sinne genommenen „Selbsterhaltung” und die des damit am engsten verbundenen „freien Willens”. Es ist klar, dass diese gewaehlte Perspektive Nietzsches Interesse für Spinoza nicht voll repraesentiert, ist aber in Kenntnis von Nietzsches sehr spezifischem philosophischem Interesse alles andere als fragmentarisch. Denn – und seine Fischer-Exzerpte stellen dies unter Beweis – Nietzsche’s philosophisches Interesse macht oft gleich nach dem einem Erreichen eines neuen Wissensstandes halt. Anstatt diese neue Einsicht philosophisch, wissenschaftlich oder sonstwie weiter diskursiv herauszuarbeiten, wendet sich Nietzsche in einer überwiegenden Mehrheit der Faelle zu den (im sehr breiten Sinne verstandenen) moralischen Konsequenzen des soeben erreichten und gesicherten neuen Wissens. In seinem philosophischen Hauptwerk Menschliches, Allzumenschliches geht er dabei so weit, dass er diese Bewegung des Interesses im wesentlichen in jedem wichtigen Aphorismus einzeln praktiziert. Im Ersten Hauptstück entdeckt er in jedem einzelnen Aphorismus eine relevante neue philosophische Einsicht, um sich noch in demselben Aphorismus mit den moralischen, existentiellen, d.h. „ökumenisch-menschheitlichen” Konsequenzen seiner eigenen nagelneuen Entdeckung auseinanderzusetzen (Kiss 1993). In diesem Sinne bilden die Fischer-Exzerpte keine Ausnahme. Einerseits geht es in seiner Konfrontation mit Spinoza um eine positive Ergaenzung und Ausfüllung dieses prinzipiellen Rahmens auf dem Wege der Beschreibung des „realen Verhaltens”, der „desideologisierten Psychologie” oder der „entlarvenden Forschung” der menschlichen Sphaere ganz bis in die Problematik des Verschwindens des traditionellen Begriffs vom Ich. Andererseits erscheinen der „freie Wille” und die „Selbsterhaltung” als exemplarische Beispiele dafür, in welchem Ausmass Nietzsche aus jedem beliebigen Gedankenmaterial mit untrüglichem Instinkt die für die Gestaltung der menschheitlichen Moral relevantesten Motive hervorhebt!
An dieser Stelle sei nochmals auf die extreme Vielschichtigkeit und Vieldimensionalitaet dieser Vorbildrelation hingewiesen. Einerseits beinhaltet die von Spinoza erfolgreich durchgeführte Vereinigung von Erkennen und Existentialitaet schon an sich allein eine Menge von vereinten philosophischen und moralischen Bedingungen, die an den einzelnen konkreten Stellen seiner Philosophie einzeln placiert sind. Andererseits verwirklicht Spinoza durch diese vereinheitlichende Attitüde ein kaum zu verwirklichendes Ideal Nietzsches, ein Ideal von extremem Schwierigkeitsgrad, welches doch die einzig mögliche Lösung ist. Drittens bedeutet das so verwirklichte Ideal einen normativen Zustand des menschlichen Glücks, der mit dem (diesmal tatsaechlich verwirklichten) Optimum der gesamtmenschlichen Möglichkeiten identisch ist. Diese „Normativitaet” erhaelt eine spezifische und der wahren Komplexitaet der philosophischen Lage voll entsprechende Bedeutung. Ein Optimum kann naemlich erst zur Norm erhoben werden, wenn es von jemandem schon exemplarisch verwirklicht worden ist. Durch Spinoza kann also das Optimum zur Norm erhoben werden! Die zutiefst philosophische Denkfigur des normativen Paradoxons wird ins Leben gerufen: Abraham opfert seinen Sohn Isaak, womit er Religion als Realitaet und dadurch wieder als „Norm” etabliert. Spinoza bestaetigt durch sein Leben ein Optimum an Erkenntnis und Existentialitaet, wodurch das blosse Optimum plötzlich zur höchsten Norm werden kann! Und viertens bedeutet die Verwirklichung dieses wie überbelasteten Ideals für Nietzsche eine persönliche Bestaetigung seines eigenen und persönlichen Vorhabens, und zwar in einer Zeit, als er, wie davon bereits die Rede war, als Verfasser einer Philosophie und einer gesamtmenschlichen Lösung damit kaempfen muss, dass seine Philosophie im wesentlichen nicht verstanden wird.
Bevor wir auf die Problematik des Zarathustra und auf die der Wahl der Gestalt Spinozas zum Modell des Propheten naeher eingehen, sollten zwei prinzipielle Bemerkungen in den Vordergrund gestellt werden. Zum einen sind wir auch der Meinung, dass die ursprüngliche Konzipierung dieses philosophischen Gedichts zum Teil visionaer-irrationaler Natur ist und somit die von Nietzsche selber hinterlassene Geschichte von der genau lokalisierten und datierten ersten Begegnung mit Zarathustra eine historische und psychologische Authentizitaet besitzt.7
Wie bei fast jedem Nietzsche-Werk, finden wir im Nachlass zahlreiche skizzierte übersichten und provisorische Gesamtkonzepte, die in unterschiedlichen Entfernungen zu der spaeteren endgültigen Fassung stehen. Dass diese für uns wegen der Plausibilisierung von Spinozas eventueller Modellrolle von Wichtigkeit sind, versteht sich von selber.
Das erste skizzierte Gesamtkonzept, betitelt „Mittag und Ewigkeit”
Untertitel: „Fingerzeige zu einem neuen Leben” thematisiert das „neue Leben”. Wir haben allen Grund, diese Thematisierung im Sinne der früheren Erörterungen als das optimale und als das einzig optimale Leben zu interpretieren. Der Text dieser skizzenhaften Thematisierung lautet so:
„Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, ging in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den Zend-Avesta. Die Sonne der Erkenntnis steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte – es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!” (KSA, 9, 519).
Wie kohaerent und zusammenhaengend das Gesamtkonstrukt des zukünftigen Zarathustra in Nietzsche heranreifte, zeigt eine andere Skizze, die sich kaum von der anderen unterscheidet:
„Entwurf einer neuen Art zu leben
Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neuesten Symphonie. Chaos sive natura: ‘von der Entmenschlichung der Natur’. Prometheus wird an den Kaucasus angeschmiedet. Geschrieben mit der Grausamkeit...der Macht’.
Zweites Buch. Flüchtig-skeptisch-mephistophelisch. ‘Von der Einverleibung der Erfahrungen’. Erkenntnis = Irrtum, der organisch wird und organisiert.
Drittes Buch. Das Innigste wird über den Himmeln Schwebendste, was je geschrieben wird: ‘vom letzten Glück des Einsamen’ – das ist der, welcher aus der ‘Zugehörigen’ zum ‘Selbsteigenen’ des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene ego: nur erst dies ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, gibt es etwas anderes als Liebe.
Viertes Buch: Dythirambisch-umfassend. ‘Annulus aeternitatis’ Begierde, alles noch einmal und ewige Male zu erleben. Die unablaessige Verwandlung – du musst in einem kurzen Zeitraume durch viele Individuen hindurch. Das Mittel ist der unablaessige Kampf” (KSA, 9, 519-520).
Die Beweise für die Praesenz Spinozas in diesen Gesamtentwürfen werden nicht unbedingt oder nicht nur durch Momente erbracht, die mehr oder weniger direkt auf ihn hinweisen (wie etwa: Chaos sive Natura). Den wichtigsten Beweis dafür liefern die beiden (Haupt)-Titel, über die Art, auf neue Weise zu leben. Es ist jene umfassende Idee, die mit der Einheit von Erkenntnis und Existentialitaet identisch ist und deren Modell Nietzsche Spinoza so lange gesucht hatte. Zusammenfassend könnten wir sagen, dass die Protagonistenrolle Spinozas für Zarathustra ihren Grund in einer Auffassung des neuen Lebens findet, welches einerseits eine Einheit zwischen Erkenntnis und Existentialitaet und andererseits Spinozas herausragende eigene Bedeutung bei der positiven und normschaffenden Verwirklichung dieses Ideals voraussetzt. An dieser Stelle entsteht aber auch eine neue Relation, die aufgrund einer vertieften Auseinandersetzung Nietzsches mit Spinoza auf den Plan tritt. Waehrend also Nietzsche dem möglichen Modell des Protagonisten seiner Dichtung nachdenkt und dabei auch über sein eigenes erkennendes-existentiales Schicksal in der Form von universaler und superlativistischer Identifizierungen (und nicht nur mit Spinoza!), wird er mit weiteren philosophischen Dimensionen konfrontiert, die er in Spinozas Philosophie findet. Die Exzerpte aus Kuno Fischers Spinoza-Buch markieren einen exakten übergang. Die Probleme des freien Willens und der Selbsterhaltung in der Moral stammen noch aus dem Universum des kritizistischen Empirismus der zweiten Periode, deren Hauptwerk Menschliches-Allzumenschliches ist. Nietzsches Interesse für diese Probleme zeigt aber eine Richtung der Erweiterung seiner Philosophie. Richtung und Inhalt dieser Erweiterung wird in einem Brief Nietzsches in aller Deutlichkeit überliefert: „Nicht nur, dass seine (Spinozas – E.K.) Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniss zum maechtigsten Affekt zu machen – in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am naechsten: er leugnet die Willensfreiheit –; die Zwecke –; die sittliche Weltordnung –; das Unegoistische –; das Böse –; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen liess, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit” (Briefe, III/1, 111 – Sperrungen im Original – E.K.). Diesem Zitat kann sowohl der ganze Hintergrund der universalen und superlativistischen Identifizierung wie auch der von Nietzsche selber genannte Inhalt der Vereinigung von Erkennntnis und Existentialitaet („die Erkenntnis zum maechtigsten Affekt zu machen”) entnommen werden. Diese Ergaenzung bzw. Ausdehnung der Nietzscheschen Philosophie nach seinem Konfrontiertwerden mit Spinoza besteht darin, dass die grundsaetzliche Problematik der (idealtypisch verstandenen) Aufklaerung mit derjenigen der Affektenlehre Spinozas ergaenzt wird.
Für Nietzsches Philosophie der kritischen Wissenschaftlichkeit und der neuen Aufklaerung (Kiss, 1993) erweist sich die konsequente und folgerichtige Aufgabe der Umwertung (auch in der Form der Umwertung aller Werte) als ein mentales Problem. Der Ausgang aus dem falschen und der Eintritt ins richtige Bewusstsein erweist sich unter solchen Umstaenden als ein Problem der Wissenssoziologie oder der Ideologiekritik und laesst sich in der Gestalt einer neuen (idealtypisch zu verstehenden) Aufklaerung lösen. In diesem Kontext existieren also zwischen Nietzsches Aufklaerung und der grossen Aufklaerung des achtzehnten Jahrhunderts keine paradigmatischen Unterschiede (Kiss, 1997). Philologisch und historisch gehört es noch hierzu, dass die führenden Werke der mittleren Periode Nietzsches, Menschliches-Allzumenschliches voran, noch die Bewusstseinsprobleme auf dem Niveau der Aufklaerungsproblematik, d.h. auf dem des „falschen” und des „richtigen” Bewusstseins, auffassen, so dass von einer früheren und ohne Spinoza vorstellbaren Begegnung mit der Affektenlehre nicht die Rede sein kann. Denn – philosophisch gesehen – ist die Aufklaerungskonzeption mit seiner vollen Wissenssoziologie des richtigen Bewusstseins eine durchaus kohaerente und im guten Sinne des Wortes ausreichend „geschlossene” Konzeption und hat mit einer Affektenlehre im engeren Sinne kaum etwas zu tun. In dieser Hinsicht ist die Aneignung der Affektenlehre eine gewaltige und eigentlich beispiellose Bereicherung der Nietzscheschen Wissenssoziologie, Psychologie und Ideologiekonzeption. Beispiellos ist diese Zunahme aus dem Grunde, weil damit – wie es spaeter einmal noch thematisiert wird – eine wirkliche neue Disziplin entsteht, eine Disziplin, die keinen Namen hat. Es ist eine lebendige und funktionsfaehige Synthese von Psychologie, Wissenssoziologie und Ideologiekritik, wobei hervorzuheben ist, dass diese Psychologie eine unvergleichlich reichere und differenziertere ist als diejenige, die wir unter diesem Namen kennen. Denn die Psychologie als strenge Wissenschaft ging von ganz anderen Ausgangspositionen als Spinozas Affektenlehre aus. Diese neue, einstweilen namenlose Disziplin entstand bei Nietzsche und vornehmlich gerade in Zarathustra.
Es scheint aber wieder fast als konsequent, dass Nietzsches wissenssoziologisch begründeter Aufklaerungsbegriff durch Spinozas Affektenlehre ergaenzt und vervollstaendigt worden ist. Denn die Affekte sind für Nietzsche legitime Fakten, Ergebnisse kritischer Wissenschaftlichkeit. Es bedeutet klar, dass Spinozas ganzheitlich formulierte Affektenlehre für Nietzsche nicht nur eine legitime Fortsetzung seiner wissenssoziologischen Verfahrensweise, sondern auch eine seinen eigenen kritizistisch-positivistischen Grundprinzipien voll entsprechende Verlaengerung derselben ist.
Dieses extrem ausgedehnte, ins Unbewusste reichende Feld bereitet aber auch für Nietzsches Ausgangsfrage eine qualitativ neue Umgebung. Denn die Vereinigung von Erkenntnis und Existentialitaet, die erwünschte Verwandlung der „Erkenntnis” in den maechtigsten „Affekt”, erweist sich so auch als eine qualitativ schwierigere, wenn auch um so anziehendere Frage. Der Unterschied zwischen den beiden Thematisierungen ist, dass, waehrend die erwünschte Vereinigung von Erkenntnis und Existentialitaet (Glück) im Aufklaerungskontext praktisch mit dem richtigen Bewusstsein identisch ist, sie im neuen Kontext als eine viel dynamischere und an den Bereich der Chaostheorie erinnernde Problematik erscheint, der aber die frühere Bewusstseinsproblematik nicht ganz abgeht, sondern in der diese in neuen Dimensionen erscheint.
Es ist also kein Wunder, wenn wir bei Spinoza Formulierungen finden, die bei Nietzsche in dieser Periode die wichtigsten Errungenschaften ausmachen. So beispielsweise finden wir über das Problem des Leibes bei Spinoza folgendes: „das erste, was das Wesen des Geistes ausmacht, die Idee des wirklich existierenden Körpers (ist), so ist es das erste und hauptsaechliche Streben unseres Geistes,...die Existenz unseres Körpers zu bejahen...eine Idee, welche die Existenz des Körpers verneint, (ist) mit unserem Geiste im Widerspruch...” (Spinoza 1975, III.Teil, Lehrsatz 10, 170). Selbst eine paraphrasenartig aehnliche Formulierung zu Nietzsches „der Leib ist die grosse Vernunft” findet man bei Spinoza: „die gegenwaertige Existenz unseres Geistes ...davon allein abhaengt, dass der Geist die wirkliche Existenz des Körpers in sich schliesst” (Spinoza, 1975, III. Teil, Lehrsatz 11, 171). Es versteht sich von selber, dass die Problematik des freien Willens auch vor dem neuen Horizont wieder aktuell und thematisch werden muss, allerdings gilt es für unseren Versuch, dass diese Problematisierung in der Richtung des vollen Paradigmas der Affektenlehre deutlich über den Stand der Fischer-Exzerpte hinausgeht, so dass die Tiefe und die Intensitaet der Aneignung und der selbstaendigen Mobilisierung der Affektenlehre die pure Problematik der Selbsterhaltung weit übersteigt.
Dies heisst aber, dass auch die ganze Problematik des Zarathustra in einem etwas verwandelten Licht erscheinen muss. Zarathustra ist nunmehr nicht „nur” ein Versuch, die Vereinigung von Erkenntnis und Existentialitaet in sinnbildlicher Form und als Modell vor Augen zu führen. Zarathustra waehlt nunmehr den noch schwierigeren Weg. Das thematisiert die Notwendigkeit der Vereinigung von Erkenntnis und Existentialitaet vor dem Horizont der soeben angeeigneten Affektenlehre. Dass das einen qualitativen Unterschied im Vergleich zur früheren Konzeption ausmacht, versteht sich von selber. Eine philosophische Paedagogik, um nur dieses einzige Moment herauszugreifen, ist vor dem Horizont einer Aufklaerungskonzeption unvergleichlich einfacher auszuarbeiten als vor dem Horizont dieser neuen gemeinsamen Disziplin von Affektenpsychologie, Wissenssoziologie und Ideologiekritik. Nietzsche hat es sich gewiss nicht leichter gemacht.
Die Demonstration der einzelnen Sit uationen, die erzieherische Rhetorik Zarathustras, das vielfache Vorexerzieren des richtigen Verhaltens sind zwar nach wie vor aufgrund des aufklaererischen Modells konzipiert, waehrend dieses Modell im Werk selber schon von den chaotischen Erkenntnis- und Entlarvungsschüben der Affektenlehre von und nach innen ausgedehnt, wenn nicht eben stellenweise gesprengt wird. In dieser philosophischen Paedagogik sind also die Konsequenzen der Affektenlehre bereits mit reflektiert, waehrend Nietzsche dem Aufklaerungsmodell insofern noch durchaus treu bleibt, als er diese Reflexion den Schülern aufklaererisch-bewusst machen will, mit anderen Worten, er will auch die Affekte bewusst machen, um das bewusste Handeln auch auf solche Weise zu gestalten. Die Aneignung der Affektenlehre in Zarathustra hat aber auch noch eine für unsere Arbeit weniger relevante Dimension. Es geht um die Uneinheitlichkeit der prophetischen Protagonistenrolle in dem Sinne, dass Nietzsche Zarathustra nicht nur positiv, als Verkünder seiner eigenen positiven philosophischen Botschaft, aufbaut, sondern ihn auch als den gleichzeitigen Verkünder einer ironischen, parodistischen und ins Absurde neigenden Auffassung derselben Prophetenrolle hinstellt. Es versteht sich natürlich von selber, dass die besagte Aneignung der Affektenlehre auch in dieser negativen Dimensionierung des philosophischen Prophetentums durchaus reich zum Ausdruck kommt. Zum Teil war es aber auch diese innere Verschiebung von Nietzsches Persönlichkeit, die die von Anfang an breite Spinoza-Rezeption bei der Aneignung der Affektenlehre noch erheblich steigerte. Das Auftauchen ironischer, parodistischer und absurder Züge bei gleichzeitiger Konstanz der aufklaererischen Philosophenrolle faellt gerade in die Zeit vor Zarathustra. So kann man sagen, dass es Nietzsches eigene Affekte waren, die ihn – neben der intellektuellen Rezeption – offen für die Affektenlehre machten, wiewohl es eine wahrhaft gefaehrliche Einseitigkeit waere, diese Züge zu übertreiben und die ökumenisch-gesamtmenschliche Dimension von Nietzsches ganzer Philosophie in Frage zu stellen.
Daher kommen zwei revolutionaer neue Momente im Menschenbild des Zarathustra. Das erste möchten wir den superlativistischen Zug nennen. Es heisst, dass Zarathustra stets für die Ablegung jeglicher Schwaeche und für die Abarbeitung jeglicher Eigenschaft plaediert, die die Persönlichkeit schwaechen bzw. fremden Einflüssen ausliefern könnte. Wir sind überzeugt, dass dieser superlativistische, wenn man will, perfektionistische Zug im Menschenideal des Zarathustra vor dem Horizont der Affektenlehre eine grundsaetzlich andere Bedeutung erhaelt, denn gerade die Affektenlehre liefert die nüchtern-sachliche Begründung dafür, dass jede so verstandene „Schwaeche” sich tatsaechlich schicksalhaft für die Persönlichkeit auswirken kann. Der zweite hier in Frage kommende Zug ist die vollkommene soziale Verschwommenheit des Menschenideals. Es steht zwar fest, dass diese Verschwommenheit bei einem essentialistisch philosophischen Menschenbild nicht unbedingt eingefordert werden. Viel wesentlicher ist jedoch, dass gerade die integrierte Affektenlehre in diese Richtung weist, denn ihre Momente schaffen eine menschliche Allgemeinheit, die nicht unmittelbar soziale Unterschiede zu tragen vermöchte. Hierzu gehört aber auch die Hervorhebung dessen, dass eine tiefere und von Anfang an existierende Gemeinsamkeit zwischen Nietzsche und Spinoza notwendig gewesen ist, damit die Affektenlehre so problemlos und konsequent in Nietzsches Aufklaerungskonzeption aufgenommen werden konnte. Beide waren Vertreter des richtigen Bewusstseins in der Philosophie, und beide identifizieren es mit dem Glück.
Verdachtsmomente gegenüber der Authentizitaet der für Nietzsche aus so zahlreichen bestimmenden Momenten relevanten Attitüde Spinozas kommen in der Regel nicht unmittelbar, sondern auf dem Umweg der Analyse der philosophischen und der ethischen Systematisierung auf. Um dies sprachlich am einfachsten zu formulieren, findet Nietzsche die philosophische Systematisierung in ihren konkreten Formen, wohl aber auch überhaupt nicht einer Denkweise der Vereinigung von Erkenntnis und Existentialitaet adaequat. Ein geradezu klassisches Beispiel liefert Nietzsches folgender Gedankengang: „Wie die Optik hinter dem Sehen ..., so die Moralistik hinter der Moralitaet. Die Einzelbeobachtungen sind bei weitem das Wertvollste. Eine moral(ische) Grundfehler-Theorie ist meist der Ursprung der grossen philosophischen Systeme: es soll etwas bewiesen werden, wozu die Praxis des Philosophen stimmt (Spinoza, z.B.) (Schopenhauer Ausnahme – noblesse darin)” (KSA, 10, 243-244. – Sperrungen im Original – E.K.). Uns scheint, dass die im Zitat enthaltene These über eine moralische „Grundfehler-Theorie” als über den „Ursprung der grossen philosophischen Systeme” die Hauptattitüde der neuzeitlichen philosophischen Systematisierung voll und ganz wiedergibt, so dass die Relevanz dieser Einsicht ausser ihrem konkreten Wahrheitsgehalt auch noch weit über den konkreten Spinoza-Kontext hinausgeht. An dieser Stelle ist für uns nicht so sehr die wohl auch vollkommen richtige Tatsache von Bedeutung, dass Spinoza dadurch auch sich selber gegenüber in Widerspruch geraet, sondern es ist vielmehr von Bedeutung, dass die Verdachtsmomente hinsichtlich der Authentizitaet Spinozas nicht in den begründenden Ideen, sondern in den Formen der Systematisierung aufkommen. Kein Wunder, dass Nietzsche zeit seines reifen denkerischen Lebens keine Systematisierung traditioneller Art initiierte, wie auch, dass so moderne und befaehigte Vertreter des metaphysischen Denktypus wie eben Scheler deutliches Interesse für Spinoza bekundeten (ein Beispiel: Scheler, 1960, 31.). Es ist durchaus lehrreich (wenn nicht direkt amüsant), dass Verdachtsmomente bei Scheler über Spinoza ebenso aufkommen, wie es bei Nietzsche der Fall gewesen ist, nur – wie es zu erwarten war – in umgekehrter Richtung. Waehrend also Scheler in Spinoza einen Metapyhsiker modernen Schlags (und zwar in dem sehr komplizierten, inkommensurablen Schelerschen Sinne) sucht, bekaempft er mit aller Kraft Spinozas (übrigens Nietzsche im wesentlichen vollkommen aehnliche) Rückführung der moralischen Einstellungen auf positive Momente: „Eine seit Spinoza viel vertretene Theorie (auch von Nietzsche – E.K.) behauptet, dass der Sinn der Worte ‘gut’ und ‘schlecht’, im Grunde kein anderer sei als ‘Begehrt-werden’, bzw. ‘Erstrebt-sein’, resp. ‘Inhalt eines Widerstrebens sein’. Gut – so Spinoza – heisst ‘Begehrt-werden’; resp. ‘Begehrt-werden-können’ – wo gerade kein aktuelles Begehren vorhanden ist. Nicht also baut sich nach dieser Lehre das Erstreben und Widerstreben auf ein vorangaengiges und es fundierendes Wertbewusstsein ‘von etwas’ auf; sondern dieses Bewusstsein des Wertes ‘ist’ hiernach nichts anderes als eben das Bewusstsein, zu begehren oder begehren zu können selbst...Hier ist nur zu bemerken, dass die Theorie selbst ein pures Ressentimentprodukt und zugleich eine Ressentimentbeschreibung ist” (Scheler 1955, 50.). Dass Max Scheler an dieser Stelle Nietzsches bahnbrechende Ressentimenttheorie gegen Spinoza und (selbstverstaendlich) Nietzsche selber wendet, macht diesen Zusammenhang der letzten Auseinandersetzung zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik nur noch historisch und typologisch relevanter.
Die auf die philosophische Systematisierung lokalisierten Verdachtsmomente werden spaeter durch Absichtszuschreibungen ergaenzt, wie durch die folgende: „Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie...wie in Erz panzerte und maskierte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern,...wie viel eigene Schüchternh eit und Angreifbarkeit verraet diese Maskerade...” (KSA, 5, 19). Solche zuschreibenden Verdachtsmomente vermehren sich, wenn Nietzsche aktuell seine superlativistische Identifizierung verliert, wodurch die einzelnen konkreten Annahmen des Verdachts die Gründe des nicht mehr optimalen, sondern des uneigentlich gewordenen Verhaltens herauszustellen suchen (ein weiteres Beispiel aus mehreren: KSA, 14, 348).
Konzeptionell entscheidend ist, dass Nietzsches Assimilation der Affektenlehre und die durch sie vollzogene Ergaenzung seiner Aufklaerungskonzeption in eine Phase fallen in der auch eine theoretische Integration seines philosophisches Pespektivismus auf die Tagesordnung kommt. Das bringt mit sich, dass diese theoretische Integration die Affektenlehre in sich aufnehmen wird. Da sie im Klartext mit der theoretischen Herausarbeitung der Problematik der „Macht” identisch ist, heisst es, dass Nietzsches Begriff der Macht mit Spinozas Begriff des „Taetigkeitsvermögens” im wesentlichen identisch ist, wodurch Spinozas Affektenlehre ihre wahre Rezeption in Nietzsches theoretischer Integration seines philosophischen Perspektivismus erfahren kann. In Nietzsches folgendem Gedanken wird eine übereinstimmung gleichzeitig mit einem Dissens artikuliert, der Dissens entsteht jedoch auf der Grundlage der Gemeinsamkeit: „Sich selber erhalten zu wollen ist der Ausdruck einer Notlage, einer Einschraenkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf Machterweiterung hinausgeht und in diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in Frage stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen...” (KSA, 3, 585 – Sperrung im Original – E.K.). Wir erinnern uns, die Problematik der „Selbsterhaltung” war die, die in Nietzsches Exzerpten aus Kuno Fischers Monographie im Mittelpunkt stand. Es kann jedoch nicht genügend betont werden, dass der Unterschied zwischen „Selbsterhaltung” und „Machterweiterung” nur auf dem gemeinsamen Boden der Affektenlehre und der theoretischen Integration des philosophischen Perspektivismus überhaupt erst entstehen konnte. An dieser Stelle einer weitgehenden (und durchaus folgenreichen) Identifizierung des conatus Spinozas mit dem Willen zur Macht Nietzsches muss man kurz aber auch auf ihren durchaus unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Hintergrund eingehen. Dies erweist sich als um so wichtiger, als die weitgehende sachliche Identitaet nicht in Frage gestellt werden kann. Waehrend der conatus, das Taetigkeitsvermögen Spinozas doch noch als „materialistischer Monismus” bezeichnet werden kann, dürfte diese Klassifizierung für Nietzsches Willen zur Macht in einem engeren Sinne überhaupt nicht mehr zutreffen, denn der Wille zur Macht ist nach seinem wissenschaftsthoretischen Status kein Monismus, vielmehr ein theoretisches Produkt, welches als die letztlich gelungenste theoretische Integration einer bis dahin nur in perspektivistischer Form existierenden Philosophie schon ab ovo eine theoretische Dimension hat.
Die Affektenlehre bzw. ihr Einbau in die Wissenssoziologie und Bewusstseinsphilosophie Nietzsches führt zu vielen und vielfachen wissenschaftstheoretischen Gemeinsamkeiten, vor allem zu einer Homogenisierung der verschiedenen Phaenomene der Affektenlehre aufgrund der Rückführbarkeit des einen auf das andere.8
Nach einer übersicht der Aufnahme der Affektenlehre in Nietzsches schon entlarvend genug konzipierten Wissenssoziologie und Bewusstseinsphilosophie wird uns wieder von einer neuen Seite aus ganz klar, wie vielfach begründet und motiviert die schon ursprünglich als „universal” und „superlativistisch” aufgefasste Identifizierung Nietzsches mit Spinoza begründet war. Daher ist hier die Stelle, an welche das wohl seltsamste Dokument von Nietzsches unaufhörlichem Ringen mit Spinoza als dem realisierten Ideal von gelebtem Denken und gedachtem Leben angeführt werden soll. Es geht um das kurze, aber um so wichtigere Gedicht (KSA,12, 85).9 Das Gedicht stammt aus einem im Nachlass befindlichen Text „Selbstgespraech eines Psychologen”, das wieder zeigt, dass ein „Selbstgespraech” auch schon die tiefste Problematik Spinozas mit enthalten muss. Zu diesem „Selbstgespraech” gehört ein „Anhang” aus Gedichten, zu denen jenes mit dem Titel „An Spinoza” gehört. Das Gedicht lautet so:
„Dem ‘Eins in Allem’ liebend zugewandt,
Ein amor dei, selig, aus Verstand –
Die Schuhe aus! Welch dreimal heilig Land! –
Doch unter dieser Liebe frass
unheimlich glimmender Rachebrand:
am Judengott frass Judenfrass! –
Einsiedler, hab ich dich erkannt?”
Uns scheint, dass wir die an Komplexitaet und holistischen Dimensionen kaum überbietbare Bedeutung von Spinozas Authentizitaet für Nietzsches Denken, aber auch für seine Existenz einigermassen nachzeichnen konnten. In dieser Reihe bedeutet nicht einmal dieses Gedicht eine wirklich relevante Aenderung. Relevant ist dieses Gedicht, ausser der an eine Liebeserklaerung gemahnenden Anrede Spinozas im ersten Teil, unter einem neuen Aspekt. Dieser Aspekt ist die Konkretisierung der Verdachtsmomente um den Kern des Christentums, praktisch die Annahme, dass alles, was in Spinoza „metaphysikverdaechtig” ist, d.h. die eventuelle Ablehnung der Aufklaerung, des richtigen Bewusstseins oder der Art und Weise der Systematisierung, nicht eine ganz spontane Einstellung, vielmehr eine bewusst oder auch unbewusst praktizierte residuale Praxis auf dem Boden des Christentums ist. Da jedoch bei Nietzsche das idealtypisch Christliche ebenso unter verallgemeinerter wissenssoziologischer Einstellung auch Attitüden bezeichnete, die die Aufklaerung etc. aehnlicherweise ablehnten und dem Denker deshalb idealtypisch als „jüdisch” vorkamen, entsteht die wohl nicht alltaegliche Identifizierung von „jüdisch” und „christlich”, die im Falle ihrer Anwendung auf einen jüdischen Denker auch noch zusaetzlicher Erklaerungen bedarf. In diesem Kontext kann sich uns der wahre Gehalt des Gedichts erschliessen, und zwar die Annahme im zweiten Teil, die verdachtsmaessige Nicht-Authentizitaet Spinozas möge auf seine idealtypisch verstandene „christliche” Attitüde mit Ressentiment zurückgeführt werden. In Anti-Christ erscheint Spinoza, um diesen in diesem Augenblick vielleicht wohl etwas unglaublichen Zusammenhang durch Beispiele zu demonstrieren, als „bleicher” Christ und Metaphysiker! Bedenkt man aber auch noch, was für eine Bedeutung für den Nietzsche der zweiten Haelfte der achtziger Jahre das Christentum gerade in solchen Perspektiven hatte, so kann man die Universalitaet der Bedeutung von Spinoza für ihn noch weiter steigern!
Zusammenfassend sollte unbedingt gesagt sein, dass in Nietzsches Zeitalter, das ja identisch mit der Entstehung der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin war, Spinozas Affektenlehre von vielen, wie von Müller, oder Eugen Dühring ebenfalls voll als Wissenschaft anerkannt worden war (Dühring, 1869, 302). Ohne diese problemlose Anerkennung waere die stets neu entstehende Befragung Spinozas nach seiner Authentizitaet ebenfalls völlig unvorstellbar gewesen. Die Aneignung der Affektenlehre wies gleich aber auch die (vielleicht nur provisorischen) Grenzen der Realitaetsbezüge dieser Konzeption auf. Die Affektenlehre machte ihm klar, dass die Aufklaerungskonzeption in ihrer ursprünglichen Form für die Durchführung der welthistorischen Aufgabe der Umwertung der Werte allein nicht ausreicht. In Hinsicht auf die Affektenlehre wird es klar, dass zur Veraenderung des Bewusstseins nicht nur eine Reflexion der Affekte, sondern auch eine ergebnisvolle und dramatische Koexist enz mit ihnen notwendig ist. Im Aufbau des eigenen Selbst kann der Sieg des bewussten Individuums nicht unbedingt von vorne herein als gesichert angesehen werden.
Mit diesem schlagartig komplexer werdenden und kathartischen Menschenbild muss dann Nietzsche die ursprünglich für die aufklaererische Konzeption zugeschnittene Aufgabe meistern.
Nietzsches „neuer Mensch” hatte ursprünglich die zwei aufeinander bezogenen Parallelaufgaben, einerseits einen Zustand des richtigen Bewusstseins durch Umwertung herzustellen und andererseits die menschheitlich-ökumenischen Dimensionen der menschlichen Identitaet zu sichern (Kiss, 1993). Es versteht sich von selber, dass die Erweiterung der Aufklaerungskonzeption durch die Affektenlehre die ursprüngliche historische, sogar ökumenische Mission der kritisch-emanzipativen Bearbeitung des Bewusstseinsproblematik durchaus fraglich machen kann, was viele weitere Probleme für Nietzsche bedeuten mochte.
Fasst man die Affektenlehre als eine Ausgangsperspektive auf, von wo aus die ganze Wissenssoziologie als solche relativiert werden kann, so erscheint Nietzsches staendiges Hinterfragen der gleichzeitigen Systematisierungsansprüche Spinozas als durchaus legitim, obwohl Spinoza zu seiner Zeit zu dieser Art der Systematisierung seine anderen Gründe hatte. Kein Wunder, dass in Nietzsches Verdachtsmomenten Spinozas Systematisierung (eigentlich die Diskrepanz zwischen positivistisch-realistischem Inhalt und geometrischer Form) stets eine eminente Rolle gespielt hat. Ein Beispiel dafür: „Was mich gegen die Philosophen misstrauisch gemacht hat, ist nicht dass ich einsah, wie oft und leicht sie sich vergreifen und verirren, sondern dass ich nirgends genug Redlichkeit bei ihnen fand...” (KSA, 14, 348). Die Gipfel dieser Verdachtsmomente werden in jenen allerallgemeinsten Aussagen erreicht, in denen Nietzsche die Abkehr vom richtigen Weg des Denkens in seiner noch wachen, aber der Pathologie zuneigenden Phase auf ihre wirklichen Formeln bringen will. Einer der allerwichtigsten Texte in dieser Hinsicht ist „Wie die ‘wahre Welt’ endlich zur Fabel wurde” in der Spaetphase, in dem auch Spinoza beim Namen genannt wird: „...vernünftig, simpel, tatsaechlich, sub specie Spinozae Umschreibung des Satzes : ‘ich, Spinoza’” (KSA, 14, 415).
„Alles oder nichts” – laesst sich Nietzsches Spinoza-Interpretation zusammenfassen. Einerseits betrachtet Nietzsche in ihm die grosse menschliche Ausnahme, die für ihn philosophisch wie menschlich von gewaltiger Bedeutung war, und eine Qualifikation, welche Spinoza in übermenschliche Höhen erhebt. Andererseits versucht er angesichts Spinozas Systematisierungen auch unentwegt, dieses Bild des menschlichen Glücks und der diesseitigen menschlichen Heiligkeit zu hinterfragen.
Diese einmalige und wie uns scheint, bis jetzt nicht voll wahrgenommene spezifische Bedeutung Spinozas für Nietzsche ergibt sich letztlich daraus, dass Spinoza zum lebendigen Kriterium von Nietzsches mutigsten philosophischen Neuansaetzen wird. Dies ergibt, wir wir es darzulegen suchten, eine ganzheitliche, holistische Relation, die – vollkommen konsequent – entweder zu einer ganzheitlichen Identifizierung oder zu einer ganzheitlichen Ablehnung Spinozas von Nietzsches Seite führen muss. Diese Ganzheitlichkeit der Relation nimmt jedes Teilproblem eines Nietzsche-Spinoza-Vergleiches auf. Es heisst aber nicht, dass diese Teilaspekte nicht auch im einzelnen aufgewiesen werden sollten.
Aus der möglichen Vielfalt von philosophischen Teilaspekten sei an dieser Stelle die Problematik der ethischen Urteilsbildung hervorgehoben.
Sowohl bei Spinoza wie auch bei Nietzsche wird eine Typologie der ethischen Urteilsbildung durch die Konfrontierung der Typen der „formalen” und der „materiellen” Ethik aufgestellt. Sowohl im einzelnen, wie auch in dieser Konfrontation überhaupt betrachten wir diese Arten der ethischen Urteilsbildung als „idealtypisch” und aus diesem Grunde auch als die relevantesten Weisen der ethischen Urteilsbildung par excellence.
Wir erkennen generell selbstverstaendlich aber auch andere Verfahren der ethischen Urteilsbildung als legitim an, wie wir es auch gern auch zugeben, dass die Typologisierung der verschiedenen ethischen Schulen auch auf nicht als nur eine andere Weisen möglich ist. Wir können uns beispielsweise ohne Schwierigkeiten vorstellen, dass eine ethische Typologie aufgrund der prinzipiellen und historischen Bestimmungen, bzw. überzeugungen des Alltagsbewusstseins unternommen wird, worin man auch die einzelnen Typen der antiken Ethik im grossen aktualisiert werden könnten.
Aufsehenerregende Ergebnisse liessen sich ferner auch durch einen strukturellen Vergleich von grossen ethischen Systemen mit umfassenden historischen Perioden erzielen, es waere aber auch ebenso produktiv, die hinter den einzelnen ethischen Konzeptionen stehenden „metaphysischen” oder „quasi-metaphysischen” Ansaetze für eine Typologie der ethischen Konzeptionen fruchtbar zu machen, darüber ganz zu schweigen, dass auch die einzelnen Religionen als möglicher Ausgangspunkt einer verallgemeinerten Typologie der einzelnen ethischen Ansaetze geradezu wie bestimmt erscheinen. Es verspricht ferner auch viel, wenn ethische Konzeptionen auf ihre sozialontologischen Implikationen hin weiter untersucht und typologisiert werden würden. Im Konkreten denken wir hierbei etwa an eventuelle Versuche, materialistisch aufgebaute ethische Konzeptionen mit „geschlossenen” Gesellschaften und formell aufgebaute ethische Konzeptionen mit „offenen” Gesellschaften in streng typologischem Sinne in Verbindung zu bringen.
Trotz all diesen Bemerkungen von einschraenkendem Charakter gelten für uns diese beiden Typen der spezifisch ethischen Urteilsbildung, d.h. die „formale” und die „materiale” Ethik sowohl in ihrer singulaeren strukturellen Beschaffenheit wie auch in ihrer unaufhörlichen Koexistenz und Rivalitaet als die bestimmendsten Phaenomene nicht nur einer Geschichte der Ethik, sondern auch des jeweiligen konkreten ethischen Phaenomens.
Die grundsaetzlichen Typen der ethischen Urteilsbildung gehen vielfach auch ins ideologisch-religiöse Gebiet hinüber und werden auch als solche zu fundamentalen Komponenten der neuzeitlichen Geschichte. Im Laufe des europaeischen historischen Prozesses wechselte die in typologischer Sicht material aufgebaute Ethik in eine formale hinüber, aber so, dass die konstitutive Rolle der das Christentum kennzeichnenden materialen Elemente auch erhalten blieb.
Will man den Typus der formalen ethischen Urteilsbildung generell bestimmen, so sollten die Momente der individuellen moralischen Autonomie, die der operativ und autonom zu vollziehenden Konstitution der ethischen Entscheidung und der Notwendigkeit der allgemeingültigen Formulierbarkeit der einzelnen ethischen Zusammenhaenge sowie die der Transparenz der formalen Regelung der richtigen Urteilsbildung in der ersten Reihe hervorgehoben werden. Im Gegensatz dazu definiert der Typus der materialen Ethik die ethische Urteilsbildung im Verfolgen von allgemein anerkannten und vor der ethischen Gemeinschaft klar definierten Werten und Gütern, wobei der jeweilige lebensweltliche Tatbestand mit diesen vorhin schon definierten Werten und Gütern in die Relation der Entsprechung gebracht werden soll. Der Einzelne soll hierbei nicht so sehr die ethische Tat frei konstituieren, anstatt dessen soll er einen bestimmten konkreten Tatbestand in die Sphaere der geltenden Werte einordnen. Aus diesen Bestimmungen folgt, dass die materielle Ethik schon von vorne herein hierarchisiert ist, da die einzelnen „Werte” und „Güter” eine kohaerente und hierarchische Ordnung wie notwendig vorschreiben.
Jede grosse Richtung der ethischen Urteilsbildung hat ihre versteckten sozialontologischen Vor aussetzungen, die auch im einzelnen weiter erforscht werden sollten. Der formale Typ der Urteilsbildung enthaelt ein sozialontologisches Moment der menschlichen Freiheit, dessen kompromisslose und die sogenannten „Realitaeten” ausser acht lassende Betonung bei dem „rigorosen” Kant so vielfache Widerstaende und Verwunderungen auslöste. Anders steht es im Falle des Typus der materialen Ethik. In diesem Fall nehmen die in der ethischen Urteilsbildung zentral aufgestellten Werte und Güter bereits in dem rein ethischen Kontext sozialontologische Dimensionen an, denn ohne diese wirklichen ontologischen oder quasi-ontologischen Massstaebe könnte keine „materiale” Hierarchie der Werte und Güter bestehen.
Bevor wir den Versuch unternehmen würden, Spinozas Ethik im Rahmen dieser Typologie naeher zu beschreiben, wird diese Typologie mit anderen philosophisch-ethischen Konzeptionen konfrontiert.
Ziel dieser Demonstration ist die Untersuchung der Frage nach der Relevanz dieser Typologie der ethischen Urteilsbildung. In einer wahrhaft „typologisch” zu nennenden Skizzenhaftigkeit wird im folgenden die philosophische Konzeption von Hegel, Nietzsche, Feuerbach und des Platoschen „thymos” auf ihre Beschaffenheit unter dem Aspekt der formalen und der materialen ethischen Urteilsbildung erforscht (auf eine selbstaendige Analyse von Nietzsches Lösung der ethischen Urteilsbildung im Vergleich zu Spinoza kehren wir in dieser Arbeit selbstverstaendlich noch zurück).
Vergleicht man die Essenz der demonstrativ gewaehlten philosophischen Schulen mit den Normen der formalen ethischen Urteilsbildung, so ergibt sich das folgende Bild. Bei Hegel kann eine konkrete, in der Sphaere der Besonderheit sich bewegende Tat nicht unmittelbar zum Gegenstand einer im formalen Sinne genommenen Allgemeingültigkeit werden. Denn es entscheidet sich nicht aufgrund eines Automatismus der transparenten formalen Urteilsbildung, welche Tat sich in ethischer Sicht in die Höhe der Allgemeingültigkeit erhebt und welche nicht. Dieser Bewaehrung soll naemlich ein komplexer intellektueller Prozess vorangehen, der aufgrund einer vielschichtigen Analyse letztlich entscheiden kann, ob diese Qualifikation eine berechtigte ist oder nicht. Ebenfalls wird nach den Grundkoordinaten der Nietzscheschen Philosophie der (im formalen Sinne genommene) ethische Charakter einer Tat erst nach einer Reihe von konstruktiven intellektuellen Schritten eruierbar. Aufgrund dieser Einsichten erlaubt weder die Hegelsche noch die Nietzschesche Grundkonzeption der Philosophie die Entfaltung einer im direkten Sinne genommene „formale” Ethik. Nicht anders steht es aber auch mit der eudaimonistischen (Feuerbach) oder auch mit der auf die Idee des „thymos” ausgebauten Ethik. In diesen beiden Faellen geht es darum, dass die (im formalen Sinne genommenen) ethischen Qualitaeten einer Handlung nicht durch ein in der formalen Ethik konstituiertes Verfahren operationalisiert werden, vlelmehr geht es hier wieder um einen intellektuell motivierten Gedankengang, dessen Ergebnis zur endgültigen ethischen Qualifikation der betreffenden Tat führen muss. Aufgrund dessen können wir nun auch in expliziter Form aussagen, dass diese (vor allem nur als Beispiele angeführten) ethischen Konzeptionen nicht in den Typus der formalen Ethik restlos eingeordnet werden können.
Fragt man nun danach, ob diese vier philosophischen Konzeptionen in ihren Grundkoordinaten in den Typus der materialen Ethik gehören, so ergibt sich das folgende Bild.
Fasst man die diesbezüglichen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie in typologischer Absicht zusammen, so kommt man zum Schluss, dass sich die einzelnen Handlungen im Zeichen einer spezifisch Hegelschen „unbestimmter Bestimmtheit” zweifellos doch auf „materiale” Werte und Güter richten, die spezifisch ethische Qualifizierung der einzelnen Taten laesst sich aber unter keinen Umstaenden ausschliesslich aufgrund dieser primaeren Relation ausführen. In idealtypisch abgekürzter Form kann auch die Nietzschesche Ethik nicht „material” genannt werden, obwohl die staendige Betonung von konkreten und dadurch „materialen” Zielsetzungen leicht den Eindruck erwecken kann, dass es hier um eine wirkliche materiale Ethik geht. Auch ohne eine detaillierte Analyse laesst sich aber einsehen, dass es jederzeit der wahre Grund der jeweiligen Verfaelschung der Nietzscheschen Philosophie war, wenn seine scheinbar „materialen” moralischen Zielsetzungen beim Wort genommen und als tatsaechliche materiale Ethik ausgegeben und aufgefasst worden sind. Scheinbar waere auch ein logischer Schritt, die Ethik des Eudaimonismus in ihrem bei Feuerbach artikulierten Typus als eine „materiale” Ethik zu definieren, denn – ebenso scheinbar – das Glück liesse sich mit einem „materialem” Gut identifizieren. Dagegen spricht aber, dass das Glück nicht ohne weiteres als ein Gut kategorisiert werden kann, vor allem (aber nicht ausschliesslich) aus dem Grunde, weil es analytisch kaum so aufgelöst werden kann, dass es das notwendige Mass der Allgemeingültigkeit erreicht. Mit anderen Worten geht es hier um die extremen wissenschaftslogischen Schwierigkeiten der Definition des Glückes, die ja auf dem Wege der analytischen Unauflösbarkeit, die es effektiv verhindern können, das „Glück” als zentrales Gut im Sinne der materialen Ethik aufzufassen. Aus diesem Grunde kann das Glück dem Ausmass der Allgemeingültigkeit nicht erreichen, die für die Konstituierung der Ethik notwendig waere, wohlgemerkt, es geht hier um jenes Ausmass der Allgemeingültigkeit, die für eine „materiale” (d.h. nicht „formale”) Ethik an Allgemeingültigkeit der leitenden Werte und Güter erforderlich waere. Aehnlich steht es mit jener ethischen Vorstellung, die auf den Gedanken des „thymos”, etwas anders formuliert, auf denjenigen des „Kampfes um Anerkennung” aufgebaut ist. Gerade die „Anerkennung” laesst sich – wieder scheinbar – als ein im Sinne der „materialen” Ethik genommenes „Gut” interpretieren, was so viel heissen würde, dass dadurch diese Ethik als „material” bestimmt werden kann. Die eine (aber nicht ausschliessliche) mögliche Linie der Argumentation dagegen ist wieder der Nachweis dessen, dass die „Anerkennung” eine analytisch in dem gleichen Masse nicht auflösbare Dimension darstellt als es mit dem Glück vorhin der Fall gewesen ist, so dass eine Identifizierung einer Anerkennungsethik mit der materiellen Ethik nicht möglich ist.
Wir kamen zu dem Schluss, dass der par excellence ethische Charakter der einzelnen konkreten Handlungen im System der Kategorien dieser vier philosophischen Konzeptionen nicht ohne weitere gedankliche Operationen auszumachen ist. Weder die Bedingungen der formalen noch die der materialen Ethik konnten in diesen vier repraesentativen und bedeutenden philosophischen Richtungen restlos erfüllt werden.
Bei Hegel wird die einzelne und „besondere” Handlung durch eine spezifischen intellektuellen Akt mit dem Allgemeinen konfrontiert, dessen Ausführung nicht in jedem Fall dem einzelnen Handelnden selber überlassen werden kann. Mutatis mutandis unterscheidet sich Nietzsches Fall von dieser Struktur kaum, denn die überlegung der spezifischen ethischen Qualitaet einer Handlung schreibt letztlich die Beherrschung von schwierigen intellektuellen Techniken und einer authentischen und persönlichen Einsicht in zahlreiche und ursprünglich überhaupt nicht ethische Zusammenhaenge vor. Dasselbe konstruktive Moment ist – wieder mutatis mutandis – aber auch für die eudaimonistische und die auf die Idee des „thymos” aufgebaute Ethik charakteristisch. Zu all dem muss man an dieser Stelle noch hinzufügen, dass dieses konstrukt ive Moment allein noch keineswegs ausreichend ist, das typologische Dilemma der ethischen Urteilsbildung zu lösen.
Nach der Konfrontierung dieser vier philosophischen Konzeptionen mit den beiden wichtigsten Typen zeichnet sich ein merkwürdiger zweifacher Charakter der ethischen Urteilsbildung ab.
Als „material” erwies sich in diesen vier philosophischen Systemen, dass sie alle aus – aus ethischer Sicht klar identifizierbaren – materialen Werten ausgehen. Diese materialen Komponenten lassen sich jedoch als nicht a priori, als nicht evident, als nicht voraussetzungslos, als heteronom und als Produkte spezifischer intellektuell-konstruktivistischer Operationen identifizieren10. Dies verhindert, dass diese Konzepte ohne weitere Bestimmungen, bzw. Ergaenzungen als materiale Ethik-Entwürfe identifiziert und beschrieben werden könnten.
In allen vier kurz heraufbeschworenen Ethik-Konzeptionen meldeten sich aber auch „formale” Züge an. Alle vier enthielten die Affinitaet zur Allgemeingültigeit, zu einer Art kontextueller Autonomie. Alle vier betrachten sich als Gattungsoptimum, was zwar noch primaer kein ethisches Optimum ist, auf sekundaere Weise aber schon auch geeignet dafür werden kann, den einzelnen Handlungen ihre in formalem Sinne genommene Allgemeingültigkeit zu gewaehren. Darüber hinaus enthielten sie alle die wohl wichtigste Komponente der formal-ethischen Urteilsbildung, naemlich die bestimmende und primaere Bedeutung der menschlichen Freiheit und Autonomie in der ethischen Urteilsbildung11.
Die exemplarisch behandelten philosophischen Schulen bewahren alle das allerwesentlichste Element der „formalen” Ethik, indem sie sich auf die Allgemeingültigkeit, auf die persönliche Freiheit und Souveraenitaet beharren. Sie konstruieren aber die diesen Bedingungen entsprechende handlungsleitende Maxime nicht direkt (d.h. nicht so, wie es eigentlich in dem reinen Typus der formalen Ethik geschehen sollte). Zwischen der Wahrnehmung der konkreten Situation und der („formellen”) Konstruktion der handlungsleitenden Maximen schalten sie den Akt einer intellektuell-konstruktiven Operation ein, die berufen ist, aufgrund einer spezifischen überlegung definitiv zu entscheiden, ob die betreffende Tat tatsaechlich den „formalen” Bedingungen der ethischen Urteilsbildung entspricht oder nicht. Diese intellektuell-konstruktive Operation enthaelt ohne Zweifel das Element der Sinngebung und der Interpretation, die in manchen Faellen nur durch extrem anspruchsvolle und komplizierte intellektuelle Schritte realisiert werden kann.
Dies impliziert einerseits eine Art Intellektualisierung der spezifischen ethischen Urteilsbildung. Man muss entschieden betonen, dass diese Art der Intellektualisierung den genuin ethischen Charakter dieses Prosesses nicht widerruft, es geht in diesem Fall um eine rein ethische Angelegenheit, die nach ihren eigenen Notwendigkeiten intellektualisiert wird.
Diese Intellektualisierung der genuin ethischen Urteilsbildung laesst sich aber auch so auffassen, dass dadurch die ursprünglich „formale” ethische Urteilsbildung Schritt für Schritt „materialisiert” wird. Mit diesem Prozess müssen wir uns auch bei Spinoza eingehend auseinandersetzen, denn es zeichnen sich die Konturen ab, in denen die Fundamente der formalen Ethik zwar erhalten bleiben, die Bildung dieser Urteile aber aus intellektueller Notwendigkeit immer staerker materialisiert wird. Uns schwebt als Hypothese schon vor, dass diese Entwicklung einen spezifischen übergang der ethischen Urteilsbildung von dem Zustand der ethischen Autonomie in einen Zustand der ethischen und mit diesem gleichrangigen intellektuellen Autonomie führen wird.
Diese Grundverhaeltnisse einer auf die Unterscheidung „material”-„formal” aufgebauten Typologie, mitsamt den Einsichten in die „Intellektualisierung” der ethischen Urteilsbildung liefern auch die Rahmen für eine Rekonstruktion von Spinozas im engeren Sinne des Wortes genommenen Ethik, die dann mit einem ethischen Gesamtentwurf Nietzsches verglichen werden soll.
Eine der wichtigsten Bestimmungen dieser Ethik ist: Grundrelation nicht die Relation zwischen Einzelnen und Einzelnen, auch nicht zwischen Einzelnen und Gesellschaft. Die klar ersichtliche Grundbeziehung ist eine Relation des Einzelnen zu sich selber, die Relation des Einzelnen zu seinen eigenen Affekten, die ja seine Einstellung zu den anderen Einzelnen, aber auch zu der Geserllschaft konstituieren.
Diese indirekten Relationen zeigen aber auch gleich, dass diese überhaupt nicht übliche Grundeinstallung mit einer Privatisierung der Ethik keineswegs gleichbedeutend ist. Trotz also der Wendung ins Innere versichert das Zentrum der ethischen Urteilsbildung – wenn auch nunmehr aauf die soeben angedeutete indirekte Weise – die spezifisch ethische Relation auch zu den Anderen.
Aehnlich zu den soeben angeführten Philosophen (Hegel, Feuerbach, Nietzsche und der Platon der thymos-Problematik) erweist sich auch dieser spezifische Ausgangspunkt der ethischen Urteilsbildung bei Spinoza nicht als einer, der ohne weiteres in die formale oder die materiale Ethik eingeordnet werden könnte. Die Klaerung unserer richtigen Relation zu unseren Affekten konstituiert mit Selbstverstaendlichkeit ein entscheidendes „materiales” Element in dieser Auffassung der ethischen Urteilsbildung. Weil aber die so entstehende ethische Position in ihrem weiteren Ausbau, waehrend wessen er auf indirekte Weise zur Interpersonalitaet und zur Sozialitaet hinführt, auch „formale” Kriterien annimmt, bewahrheitet sich auch im Falle Spinozas, dass keiner der reinen Typen der ethischen Urteilsbildung auf seine Konzeption generell zutrifft.
Schaut man an dieser Stelle auf die allgemeine Beurteilung der im engeren Sinne des Wortes genommenen Ethik Spinozas, so faellt auf, dass ein Schrumpfen, bzw. Rückgang der eigentlichen ethischen Dimension generell gesehen und festgestellt wird. Maurice Blondel geht davon aus, dass das umfassende ethische Interesse Spinozas es ist, das zu einer spezifischen Reduktion führt. Das eigentlich Moralische geht in Metaphysik und Ontologie auf.12 Nicht unaehnlich dazu beurteilt Albert Schweitzer in seinem bedeutenden Werk über die Ethik Spinozas. Er kommt zu dem aehnlich paradox klingenden Schluss, dass das ethische Verhaeltnis kein ethisches Verhaeltnis ist. In dieser Verschiebung in der Richtung der Ontologie erscheint auch das Moment des intellektuellen Anteils im Prozess der ethischen Urteilsbildung, was in Schweitzers Augen das Ausmass der spezifischen ethischen Taetigkeit stark reduziert.13 Aehnlich signalisiert Gilles Deleuze das Moment eines Fehlens des praktischen Motivs in Spinozas Ethik, das mit der Ignoranz des Negativen und ihrer Macht zusammengeht.14 Obwohl sich die Ansaetze ebenso wie die Terminologien der angeführten Autoren voneinander deutlich unterschieden, die Aehnlichkeit ihrer Einstellungen laesst sich nicht übersehen. Alle drei deuten das Fehlen einer als „normal” oder als „üblich” anzusehenden ethischen Dimension an und weisen entschieden auf jene in der Richtung der Ontologie, bzw. der Metaphysik weisenden Sphaere hin, die wir als die „materiale” Dimension dieser Ethik bezeichneten. Wegen ihres indirekten Charakters erwaehnt aber keiner von den drei Autoren den versteckten „formalen” Charakter dieser ethischen Konzeption, waehrend auf diese oder jene Form die Tendenz zur Intellektualisierung der ursprünglich rein ethischen Urteilsbildung bei ihnen allen explizit angesprochen wird.
Es besteht kein Zweifel, Spinozas Ethik (im engeren Sinne des Wortes) ist eine sehr komplexe, wenn eben nicht gar paradoxe Konzeption in ihrer Vereinigung der materialen und der formalen Qualitaeten vor dem Horizont der Intellektualisierung. Im Falle Spinozas ist es die Erfüllu ng der Bedingungen der materialen Dimension der Urteilsbildung, die die Erfüllung der formalen Kriterien derselben ethischen Urteilsbildung ermöglicht. In der Erfüllung der materialen Kriterien (in der Form der Herstellung des richtigen Verhaltens zu den eigenen Affekten) wird aber eine sowohl in ihrer Komplexitaet wie auch in ihrem sonstigen Ausmass gewaltige intellektuelle Arbeit verlangt. In der hier unvermeidlich vereinfachten Form ausgedrückt, muss der Handelnde zunaechst ins Wesen der Affekte entscheidende Einsichten haben, um dann die an sich ebenfalls eher paradoxe Logik eines (eudaimonistisch gefaerbten) Glücksgewinns auf dem Wege des freiwilligen Verzichts auf die eigene Affektivitaet vollziehen zu können. Uns geht es an dieser Stelle nicht so sehr die Frage an, dass diese Ethik eine für Philosophen ist. Für uns an dieser Stelle ist es wichtiger, auf die Grundrisse von Spinozas Ethik im Rahmen der genannten Typologie hinweisen zu können.
Es ist von nicht geringerer Bedeutung, dass jener kognitiver Spielraum, der bei der intellektuellen Ausfüllung der konkreten Leerstellen jeder materialen Ethik erfordert ist, im Falle von Spinozas Ethik eben mit der Erkenntnis und mit der selbstaendigen, d.h. von keiner Philosophie oder Religion unterstützten Pragmatik eines Affektenverzichtes zusammengeht. Dies zeigt, dass die Intellektualisierung im Vollzug der Forderungen der ethischen Urteilsbildung nicht mit Notwendigkeit eine triviale ist. Es wird klar, dass das richtige ethische Handeln bei Gelegenheit mit der höchsten intellektuellen Herausforderungen einhergehen kann. Es wird einsichtig, dass Ethik nicht unbedingt ein Feld von gemaessigten intellektuellen Erwartungen und Forderungen sein muss und ihre Reduzierung der wirklichen Komplexitaet keiner aehnlichen Reduzierung jeglicher anderen Provenienz nachsteht.
Der Vollzug der einzelnen Phasen der ethischen Urteilsbildung ergibt somit eine eigentümliche Dynamik, die ja weder theoretisch noch praktisch auf die ethische Sphaere beschraenkt bleiben muss. Diese Dynamik formt die Persönlichkeit, denn sie muss einen Weg von ansehnlicher Weite in der Zurückdraengung ihrer Affekte hinter sich legen. Dieser Weg generiert auch zeitliche und damit auch historische Prozesse. Allein aus diesem Grunde ist es uns, dass die Thesen über den vollkommen unhistorischen Charakter von Spinozas Denken nicht unbedingt voll richtig sind. Auch an dieser Stelle sei daran erinnert, dass damit auch die These über das Fehlen der ethischen Praxis nicht als stichhaltig erscheint. Eine Praxis der ausgeführten formalen Ethik scheint aus dem Grunde zu fehlen, weil diese Praxis erst nach dem vollendeten Verzicht auf Affektenrealisierung in Funktion treten kann15.
Nicht nur in den umfassenden strukturellen Zügen weist Spinozas Ethik spezifische, nicht-konventionelle Züge auf. Die materialen Elemente dieses Urteilsbildungsprozesses sind selber sehr vielschichtig und differenziert. Erstens findet man in dieser Reihe gewöhnlich zu nennende materiale Elemente (beispielsweise „Glück”). Zweitens sind hier auch reformierte, wenn eben nicht revolutionaere materiale Elemente, die schon in dieser revolutionaeren Form wie Paradoxien ausschauen können („Glück ist Erkenntnis”). Und drittens thematisiert Spinoza dabei auch „negativ-materiale” Elemente („Glück ist Verzichtleistung auf Affekte”16). Allein diese Zusammensetzung der materialen Dimension des Urteilsbildungsprozesses zeigt die einmalige Komplexitaet von Spinozas Ethik (denn die andere Haelfte ist hier noch überhaupt nicht thematisiert worden). Der intellektuelle Prozess bei der Realisierung der materialen Elemente der ethischen Urteilsbildung führt in Spinozas Fall zu wahrhaft paradoxen, aber auch zu wahrhaft neuen Ergebnissen. In einer kohaerenten Zusammenfassung der gewöhnlichen, der refomierten/revolutionierten, bzw. der negativen Elemente der material-ethischen Urteilsbildung kommt Spinoza nicht allein zu einer Neuordnung, sondern auch zu einer spezifischen Selbstauslöschung einer einheitlichen materialen Ethik. Ausgehend aus einer auf Glück aufgebauten materialen Ethik wird, wie bereits kurz angedeutet, Glück mit Erkenntnis identifiziert und zuletzt die mit Glück identifizierte Erkenntnis oder das mit Erkenntnis identifizierte Glück führt zu einer bestimmten komplexen menschlichen Praxis, die ganz auf Verzicht der eigenen Affektbetaetigungen ausgerichtet ist.
Diese Selbstauslöschung einer materialen Ethik in ihrer reinen Form bestaetigt die anfangs heraufbeschworenen unterschiedlichen Beurteilungen von Blondel, Schweitzer und Deleuze, sie macht aber für eine spezifische Form der formalen Ethik den Weg auch frei. Von einer anderen Perspektive aus gesehen, war es gerade dieser Konzept Spinozas, der Nietzsche so faszinierte, indem er ihm die auch von ihm selber eigens fortgesetzte, paradox anmutende gleichzeitige Auslöschung und Verwirklichung der Affekte offeriert hatte.
Aufgrund dessen laesst sich auch schon die Frage stellen, ob Spinoza nicht schon ein eigener entwicklungsgeschichtlicher Ort in der Geschichte der Ethik zukommt. Wir sind überzeugt, dass diese Annahme im Rahmen der in diesem Versuch in Anspruch genommenen Typologie richtig ist. Wir formulieren sie, auch wenn es nur noch eindeutig hypothetisch formuliert werden kann.
Versucht man es, den Typus der materialen Ethik historisch zu aktualisieren, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieser Typus der ethischen Urteilsbildung historisch mit den geschichtlich überlieferten Religionen die intensivste Verbindung hatte. Die zentralen Werte, die Gütertafel, die Hierarchie der Werte, sowie alle anderen relevanten Bestimmungen der materialen Ethik sind zwar typologisch oder prinzipiell keineswegs an transzendentale Denkfiguren gebunden, sie erscheinen aber trotzdem historisch an die frühen Formen der Religiositaet gebunden.
Die wahre Bedeutung dieser Hypothese für die Geschichte der Ethik überhaupt zeigt sich in einem bisher, wie uns scheint, überhaupt nicht thematisierten, typologisch nichtsdestoweniger aber ebenfalls höchst relevanten Zusammenhang. Die Ablösung der materialen Ethik durch einen klassischen Typus der formalen Ethik erfolgte im Hauptstrom der historischen Entwicklung durch die protestantische Ethik, die dann das Niveau der Klassizitaet bei Kant erreichte. Waere diese Spinoza betreffende Hypothese einmal tatsaechlich zu verifizieren, so könnte man auch noch einen anderen Weg aus der materialen in die formale Ethik aufweisen, der ja auch in zahlreichen weiteren Detailfragen neue Einsichten liefern könnte. Mit anderen Worten vertreten wir die These, dass Spinozas im vorigen ausgeführte Dekonstruktion der materialen Ethik die Ausgangsbedingungen für die klassische Version einer formalen Ethik geschaffen hat, was sich allein schon von der Tatsache ablesen laesst, dass der seinen Affekten entledigte Mensch die notwendige Freiheit und Autonomie für eine funktionierende formale Ethik bereits aufweisen kann.
Kein Wunder, wenn gerade Spinozas Weg von einer materialen zu einer möglichen formalen Ethik bei Nietzsche in neuer Konstellation wieder thematisch werden muss.
Wir sind uns der Komplexitaet des Nietzscheschen Denkens auf dem Gebiet des Ethischen in demselben Ausmass bewusst, wie es auf dem Gebiet des Aesthetischen oder des Politischen ebenfalls eine an der Unmöglichkeit grenzende Herausforderung ist,. „Nietzsches Ethik” (Aesthetik, Politik, usw.) definitiv zu kategorisieren. Trotz dieses Bewusstseins der extremen Komplexitaet heben wir drei Momente aus einer virtuell rekonstruierten nietzscheanischen Ethik im Vergleich zu Spinoza hervor.
Die eine Dimension ist diejenige, die wir vorhin schon mehrfach andeutungsweise darlegten. In dieser Dimension ersteht Nietzsches Ethik in gewissen ihren Hauptintentionen als ein mehr od er weniger klassisches Beispiel für jene Spielart der Materialisierung der formalen Ethik, die (nach Kant – und dieses Kriterium erweist sich in diesem Zusammenhang als entscheidend) auch bei Hegel oder Feuerbach in typologischer Verallgemeinerung thematisch geworden sind.
Die zweite Dimension ergibt eine symmetrische Gegenposition zu Spinoza, die aber in ihren Grundlagen Spinozas entscheidende Voraussetzungen bei der Begründung der Ethik weitgehend teilt. Waehrend, wie wir es aufzuzeigen suchten, die Dekonstruktion und die mehrfache Reform einer materialen Ethik bei Spinoza ein Weg zur formalen Ethik war, beschrieb Nietzsche den nach Kant logischen und notwendigen Weg der Materialisierung der formalen Ethik. Diese symmetrische Gegenposition
zeitigt aber noch keine allzu nahe Verbindung zwischen Spinoza und Nietzsche, da die angedeutete Richtung einer Materialisierung der formalen Ethik unter anderen auch für Hegel oder Feuerbach in dem grössten Ausmass charakteristisch war. Wo diese bereits gegebene symmetrische Gegenposition wirklich zu einer sehr engen wird, ist jenes Moment, in welchem die Problematik der Affekte sowohl bei Spinoza (auf dem Wege einer Formalisierung der materialen Ethik) wie auch bei Nietzsche (auf dem Wege einer Materialisierung der formalen Ethik) am entscheidendsten wird. Spinoza brauchte eine überwindung der Affekte, um zu den Ausgangspositionen der formalen Ethik, d.h. zu der Freiheit und Autonomie des Individuums zu gelangen. Nietzsche braucht die überwindung, bzw. die freie und emanzipative Verwirklichung der Affekte, um die extrem schwierige Aufgabe einer (notwendigen, aber seinen Wünschen nach auch richtigen) Materialisierung der formalen Ethik durchführen zu können.
Auf die dritte hier ausgewaehlte Dimension der Nietzscheschen Ethik sei am Ende dieser Ausführungen nur kurz hingewiesen. Das ist der Schritt, durch welchen Nietzsche die Gesamtproblematik der individuellen Ethik sozial und sozial verallgemeinert, ohne übrigens dabei zu einer üblichen Soziologie im heutigen Sinne zu kommen. Es geht dabei um die umfassende Problematik der asketischen Ideale. Sowohl diese Problematik, wie auch ihre Methodologie führt zu eminent wichtigen spinozistischen Fragestellungen, deren Aufarbeitung jedoch erst in spaeteren Versuchen möglich werden kann.

LITERATUR:
Blondel, Marcel, Der Ausgangspunkt des Philosophierens. Drei Aufsaetze. Hamburg, 1992
Deleuze, Gilles, Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin, 1988.
Dühring, Eugen: Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfaengen bis zur Gegenwart. Berlin 1969.
Fischer, Kuno, Geschichte der neuern Philosophie I.2. Descartes’ Schule. Geulinx, Malebranche, Baruch Spinoza. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Heidelberg 1965.
Fuhrmans, Horst, Schellings Philosophie der Weltalter. Schellings Philosophie in den Jahren 1806-1821. Zum Problem des Schellingschen Theismus. Düsseldorf 1954.
Kiss, Endre, Friedrich Nietzsche filozófiája. Budapest 1993.
Kiss, Endre, Gibt es ein Projekt der Aufklaerung und wenn ja, wie viele? (Aufklaerung vor dem Horizont der Postmoderne). in: Sven-Eric Liedman (ed.), The Postmodernist Critique of the Project of Enlightenment, Amsterdam – Atlanta 1997. 89-104.
Kiss, Endre: Zur Bestimmung der wahren politischen Philosophie Friedrich Nietzsches. in: Endre Kiss (ed.), Friedrich Nietzsche und die globalen Probleme unserer Zeit, Cuxhaven – Dartford 1997. 249-263.
Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Dritte Abteilung, Erster Band. Friedrich Nietzsche, Briefe. Januar 1880 – Dezember 1884. Berlin – New York 1981.
Nietzsche, Friedrich: Saemtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Baenden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin – New York 1967-1977.
Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsaetze. Vierte, durchgesehen Auflage. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern 1955.
Scheler, Max: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Zweite, durchgesehene Auflage mit Zusaetzen. Herausgegeben von Maria Scheler. Bern und München 1960.
Schweitzer, Albert, Kultur und Ethik. München, 1923.
Seidel, George J.: Activity and Ground. Fichte, Schelling and Hegel. Hildesheim – New York 1976.
Spinoza: Ethik. Herausgegeben von Helmut Seidel. Leipzig 1975.
Staude, John Raphael: Max Scheler. 1827-1928. An Intellectual Portrait. New York – London 1967.
Zwingelberg, Hans Willi, Kants Ethik und das Problem der Einheit von Freiheit und Gesetz. Bonn, 1969.
Yovel, Yirmiyahu: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Aus dem Englischen von Brigitte Flickinger. Göttingen 1996.

Anmerkungen
1 „Sobald es sich nicht mehr um Conservierung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kraeftigen europaeischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefaehrliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll... Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, weil dies, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das maechtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt” (KSA, 2, 310).
2 „Auch ich bin in der Unterwelt gewesen wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eigenen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandelt bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke, auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. ...Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an...” (KSA, 2, 533 – Sperrung im Original – E.K.).
3 Hier nur ein Beispiel: „vernünftig, simpel, tatsaechlich, sub specie Spinozae Umschreibung des Satzes ‘ich, Spinoza’” (KSA, 14, 45), wobei der zitierte Text einen Teil des berühmten Gedankenganges „Wie die wahre Welt zur Fabel geworden ist” gehört.
4 „Erkenntnis und Schönheit – Wenn die Menschen, so wie sie immer noch tun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht, und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, – dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht geglaubt, welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei haesslich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntnis auch der haesslichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, haesslich zu finden. Gibt es denn etwas ‘an sich Schönes’? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntnis legt ih re Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit, für diesen Satz ihr Zeugniss ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, haesslich zu finden. Gibt es denn etwas ‘an sich Schönes’? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntnis legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit, für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten: sie fanden es im Erkennen, in der Taetigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes (nicht etwa in der ‘Intuition’, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, nicht im Schaffen, wie alle Praktiker). Aehnlich urteilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie Alle die Erkenntnis genossen haben! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden! -” (KSA, 3, 320-321 – Sperrungen im Original, E.K.).
5 Im Stil etwa: „Alle Welt haelt uns schon für ertrunken, aber da tauchen wir immer wieder auf und bringen sogar aus der Tiefe etwas mit herauf...” (Nietzsche, Briefe, III/1. 101).
6 Von den Herausgebern der Kritischen Studienausgabe werden diese Exzerpte auf den Frühling-Herbst 1881 gesetzt: „Spinoza: wir werden nur durch Begierden und Affekte in unserem Handeln bestimmt. Die Erkenntniss muss Affekt sein, um Motiv zu sein. – Ich sage: sie muss Leidenschaft sein, um Motiv zu sein”; „ex virtute absolute agere = ex ductu rationis agere, vivere, suum Esse conservare”; „von Grund aus nicht anderes suchen, als den eigenen Nutzen”; „Niemand strebt um eines anderen Wesens willen das eigene Sein zu erhalten”; „Das Streben nach Selbsterhaltung ist die Voraussetzung aller Tugend”; „Die Menschen sind sich gegenseitig am nützlichsten, wenn jeder seinen eigenen Nutzen sucht”; „Kein einzelnes Wesen in der Welt ist dem Menschen so nützlich, als der Mensch der nach der Richtschnur seiner Vernunft ex ductu rationis lebt”; „Gut ist alles, was der Erkenntniss wahrhaft dient; schlecht dagegen alles, was sie hindert”; „Unsere Vernunft ist unsere grösste Macht. Sie ist unter allen Gütern das Einzige, das alle gleichmaessig erfreut, das keiner dem anderen beneidet, das jeder dem Anderen wünscht und um so mehr wünscht als er selbst davon hat. – Einig sind die Menschen nur in der Vernunft. Sie können nicht einiger sein als wenn sie vernunftgemaess leben. Sie können nicht maechtiger sein, als wenn sie vollkommen übereinstimmen. – Wir leben im Zustande der übereinstimmung mit Anderen und mit uns selbst jedenfalls maechtiger als in dem des Zwiespalts. ist die erste und einzige Grundlage der Tugend”; „Es gibt im Geiste keinen freien Willen, sondern der Geist wird, dies oder jenes zu wollen, vo Die Leidenschaften entzweien...”; „ego: das Alles ist Vorurtheil. Es giebt keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft wird alles schwach, Mensch und Gesellschaft”; „Die Begierde ist das Wesen des Menschen selbst, naemlich das Streben, kraft dessen der Mensch in seinem Sein beharren will”; „Jeder ist in dem Grade ohnmaechtig als er seinen Nutzen, d.h. seine Selbsterhaltung ausser Acht laesst”; „Das Streben nach Selbsterhaltung n einer Ursache bestimmt, die ebenfalls von einer anderen bestimmt ist, und diese wiederum von einer anderen, und so fort bis ins Endlose”; „Der Wille ist das Vermögen zu bejahen und zu verneinen: nichts Anderes. Dagegen ich: Heerdentrieb sind aelter als das ‘Sich-selbst-erhalten-wollen’. Erst wird der Mensch als Funktion entwickelt: daraus löst sich spaeter wieder das Individuum, indem es als Funktion unzaehliger Bedingungen des Ganzen, des Organismus, kennen gelernt und allmaehlich sich einverleibt hat”. (Sperrungen und Kursivierungen in Nietzsches Exzerpten – E.K.).
7 Aus all dem folgt für uns, dass wir die wohl instinktmaessig-irrationale Dimension dieser Selektion stark rationalisieren.. Wir schenken ferner auch eine gewisse Glaubwürdigkeit jener vor allem von Möbius vertretenen These, dass Spuren oder vielleicht schon Elemente der Pathologie bereits in Zarathustra enthalten sind. Da wir auch diese Dimension nicht recht in unsere Analyse einbeziehen können, geben wir zu, dass unsere überlegungen in diesem Kontext in zweifacher Richtung die in Frage kommenden Fakten „rationalisieren”.
8 Ein gleich auch schon auf Nietzsche hinweisender Text von Spinoza lautet so: „. ..Lust... – ein Leiden, durch welches der Geist zu grösserer Vollkommenheit übergeht; Unlust... ein Leiden, durch welches der Geist zu geringerer Vollkommenheit übergeht” (Spinoza, 1975, III. Teil, Lehrsatz 11. 170). Diese und aehnliche Inhalte formuliert Nietzsche auch des öfteren, so dass die einander unaehnlich scheinenden Komplexe ebenfalls als Variationen, meistens als verschiedene Grade ein- und derselben materiell-energetisch interpretierten Grundqualitaet sind.
9 Es ist schon vielsagend, dass die Entstehungszeit dieses Gedichtes von dern Herausgebern der KSA zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 datiert ist, eine Zeit, die zu den letzten einigermassen schöpferisch ausgefüllten Jahren Nietzsches gehört und in den Massstaeben von Nietzsches Leben weit über die Zeit der Jahre 1881-1882 hinausgeht, in der die relevante Begegnung mit Spinoaza mit allen Folgen und Konsequenzen erfolgte.
10 Nur vereinfacht hingewiesen sei in diesem Kontext darauf,. dass unter diesem Aspekt auch Kants „Sittengesetz” in einer etwas veraendertem Licht in der Analyse erscheinen kann. Dass man durch die Regeln der formalen Ethik zur materialen Dimension der Ethik kommt, erscheint bei ihm in der Setzung des in uns bereits existierendes Sittengesetz.
11 Die Praesenz dieses für die Konstitution jeglicher formalen Ethik so bestimmenden Moments der Freiheit und Autonomie hat in jeder einzelnen konkreten Konzeption zweifellos eine andere Qualitaet. Besonders interessant ist es im Falle Hegels, wo zwar der Einstieg in den Kampf um Anerkennung nicht unbedingt aus Freiheit und Autonomie erfolgen muss, die Ausdauer in diesem Kampf aber schon voll der menschlichen Freiheit und Autonomie überantwortet ist.
12 Blondel, 1992. 7-8.
13 Schweitzer, 1923.
14 Deleuze, 1988.- Der Ausfall der im üblichen Sinne genommenen ethischen Praxis wird, wie kaum anders annehmbar, aus zahlreichen weiteren Gründen motiviert. So sei hier nur an die Deutung der Erkenntnis als des maechtigsten Affektes erinnert, die ganz relevant etwa in Friedrich Nietzsches Spinoza-Deutung zum Vorschein kommt.
15 Wir kennen eine lange Reihe von Aeusserungen, in denen spaetere Vertreter der formalen Ethik ihren Vorgaenger in Spinoza überhaupt nicht erkennen, anstatt dessen fixieren sie sich auf irgendwelche naturalistische Seite dieser Ethik (richtiger: dieser ethischen Urteilsbildung).
16 Weil die Problematik der Affekte bei Spinoza eine so direkte Verbindung mit der ethischen Urteilsbildung aufweist, gilt hier ein Hinweis auch auf Nietzsche als relevant, bei dem eine andere, aber ebenso bewusste Bearbeitung der Affekte eine unter dem Aspekt der ethischen Urteilsbildung ebenso entscheidende Rolle spielt.