Géza Perneczky:
Positionen und Irritationen anläßlich der Kunstrezeption in Ost und West.
Einige Bemerkungen zur Frage: Warum sind wir zusammengekommen?

        Ich habe einen kleinen Katalog über die wichtigsten Ausstellungen und Veranstaltungen in der Bundesrepublik zusammengestellt, die in ihrer Gesammtheit eine Vorgeschichte unserer jetzigen Tagung ergeben:
        1. Die große Ausstellung »Westkunst« mit dem Untertitel »zeitgenössische Kunst seit 1939« in den Hallen des Kölner Messegeländes, 1981. Die Idee und der Löwenanteil der organisatorischen Verwirklichung stammte von Kurt Hackenberg, dem angesehenen Kulturdezernenten der Stadt Köln, der die Eröffnung dieser Schau leider nicht mehr erleben konnte. Ausstellungskomissar war Kaspar Koenig, Handbuchautor und Co-Regisseur László Glózer. Wenn ich eine subjektive Bemerkung äußern darf: dies war vielleicht die einzige in jeder Hinsicht gelungene Mammutausstellung, die ich je gesehen habe und heute, 15 Jahre danach, würden wahrscheinlich viele dasselbe sagen. Die Öffentlichkeit wurde jedoch nach der Eröffnung mit ganz anderen Problemen konfrontiert.
        Diese Ausstellung versuchte, die Kunst in den sehr problematischen Jahren des zweiten Weltkriegs und der Nachkriegsaera neu zu bewerten und auf die nonkonformistische Haltung der Modernen in diesen Jahren hinweisen. Die neueste Gegenwartskunst war also ausgeklammert. Aus dieser Beschränkung entstand ein Konflikt zwischen den Veranstaltern und den Interessevertretern des Kunstmarkts, der im Endeffekt um kommerzielle Vorteile ging. Während man um die Frage rang, ob es tatsächlich einen Skandal bedeutete, daß die Transavantgarde und die Neuen Wilden nicht ausgestellt wurden, platzte ganz unerwartet ein Artikel der FAZ (geschrieben von Thomas Strauß) in die Diskussion hinein, der das Fehlen der »Ostkunst« den Veranstaltern vorhielt und in der ganzen Ausstellungskonzeption nur den Großmachtanspruch und die Arroganz der westlichen Kunstintitutionen sah. Das war ein völlig neuer und verblüffender Aspekt.
        Zur Bewertung dieses FAZ-Artikels sollte man das folgende wissen: 1. Es war 1981 völlig aussichtslos, aus den Ostblockländern diejenigen Kunstwerke zu bekommen, die man zur dieser Ausstellung benötigt hätte. 2. Die offiziellen Stellen der osteuropäischer Staaten waren froh, daß sie nicht gefragt wurden und schwiegen zu dieser Ausstellung, weil sie nichts mit dem zu tun haben wollten, was ein Beweis hätte sein können, daß die sog. westlich orientierte moderne Kunst eine humanistische und was noch mehr ist, eine antifaschistische Kunst war. 3. Auch die innere Opposition der Ostblockländer hatte nichts gegen diese Ausstellung. Sie sah dort jene Künstler vertreten, die vor dem Kommunismus oder Faschismus nach den Westen emigriert waren. Andererseits war die osteuropäische Intelligenz sowieso der Meinung, daß mit wenigen Ausnahmen tatsächlich keine nennenswerte bildende Kunst auf dem ganzen von dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus beherrschten Erdteil in der fraglichen Zeit entstand. 4. Bis heute hat es keiner aus den osteuropäischen Ländern übel genommen, daß es 1981 eine Ausstellung mit dem Titel »Westkunst« gab. Trotz diesen Einsichten entstand eine Hysterie in der Presse und in den Kreisen der Kulturveranstalter und dauerte unablässig an. Als Folge dessen wurde das schreckliche Begriffpaar »Ostkunst-Westkunst« geboren und die ganze Frage wurde in einem unerträglichen Maß ideologisiert.
        In diese Zeit fiel es, daß Peter Ludwig anfing, osteuropäische Kunst – teils die klassische Avantgarde, aber auch die Produkte des zeitgenössischen Kunstbetriebs (sowohl die akademisch anmutende post-stalinistische Kunst als auch die Werke der »anders denkenden«) – aus dem Ostblock anzukaufen und in den eigenen Museen oder in den verschiedenen Kunstinstitutionen von Wien, Budapest und Prag zu lagern.
        2. »Das andere Land«. Eine Ausstellung der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen Lisolette Funcke mit dem Untertitel »ausländische Künstler in der Bundesrepublik« und unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Die Ausstellung startete 1986 in Berlin-Charlottenburg, ging dann auf die Reise nach Bochum, Bremen, Frankfurt, Hannover, Ludwigshafen München... usw. Ausgestellt wurden auch prominente Künstler wie Armando, Hrdlicka, Lakner, Nam June Paik, Emmett Williams, aber auch Künstler, die aus dem mediterranen Bereich oder aus dem Nahen oder Fernen Osten stammten und noch wenig Erfahrung mit europäischen Ausstellungen hatten, zumal sie gelegentlich der Folklore oder der naiven Kunst zuzuordnen waren.
        Einige sehr bekannter, in der Bundesrepublik arbeitende Künstler, wie Edward Kienholz, haben ihre Teilnahme mit der Begründung abgelehnt, daß sie es diskriminierend fänden, unter dem Titel »Ausländerkunst« ausstellen zu müssen. Die Presse, wenn sie von der Ausstellung überhaupt Notiz nahm, wiederholte diese Formulierung fett gesetzt als Überschrift und bewertete die Wanderausstellung als ein Mißverständnis oder als totales Fiasko. Von der Seite der Veranstalter zog man daraus den Schluß, daß man das Problem näher besprechen sollte. Es gab also noch einige Nach-Veranstaltungen zu dieser Ausstellung, z. B. wurde der Mißerfolg in einer Tagung in der Evangelischen Akademie in Loccum in Anwesenheit der mitwirkenden Künstler und der eingeladenen Kunstkritiker gründlich ausdiskutiert und verinnerlicht.
        3. 1991, d. h. zehn Jahre nach der »Westkunst« eröffnete Peter Ludwig sein Ludwig-Forum mit einer Ausstellung, in der – wie das offenbar beabsichtigt war – auch der »Ostkunst« Gerechtigkeit zuteil wurde. In einem Kolloquium, das den Titel »Westkunst-Ostkunst« trug, besprachen die eingeladenen Experten die anstehenden Fragen. Das Eröffnungsreferat und die Moderation leistete Thomas Strauß. Dieses Kolloquium gelang doch besser, als man das erwartet hätte. Zugereist waren nämlich überwiegend Fachleute mit hoher Kompetenz und gerade die osteuropäischen Kunsthistoriker waren am wenigstens bereit, zwischen Westen und Osten einen nenneswerten Konflikt in der Sache Kunst auszumachen. Der Schwerpunkt dieser Tagung lag – der Neigung der Teilnehmer entsprechend – auf dem Jugendstil und der frühen avantgardistischen Kunst.
        4. Einige Jahre später, 1994 wurde die Mammutschau »Europa-Europa« in der Bonner Bundeskunsthalle eröffnet. Sie war der Sieg all derer Politiker und Kulturmanager, die auf eine »Wiedergutmachung« des von der »Westkunst«-Ausstellung verursachten angeblichen Schadens bestanden und gleichzeitig auch Peter Ludwig, der als ernst zu nehmender Rivale der offiziellen Institutionen auftrat, endlich aus dem Ring drängen wollten.
        Die Ausstellung sollte eine Zeitspanne von dem Symbolismus bis zu der Gegenwartskunst in Mittel- und Osteuropa zeigen – eine unmögliche Aufgabe, wenn man bedenkt, daß zwei Weltkriege, die Entstehung und der Untergang der ganzen klassischen Avantgarde, die schrecklichen Jahre des Nationalsozialismus und des Stalinismus, die denkwürdige Epoche der Neoavantgarde und die manieristische Periode der Postmoderne auf diesen Zeitraum fiel, und das Material sollte den geographischen und kulturellen Großraum in einem Umkreis von Warschau, Prag, Budapest, Belgrad, Sofia, Kiew, Moskau und St-Peterburg umfassen. Ich wage nicht zu sagen, ob Herr Stanislawski, der Ausstellungskomissar, mehr aus diesen Voraussetzungen hätte herausholen können, als er dann tatsächlich tat. Er machte eine polnische Nationalschau mit nennenswerten tschechischen und russischen Ergänzungen und alles anderes fiel unter dem Tisch.
        Um ein Beispiel für das Defizit in der Vorbereitungsphase dieser Ausstellung zu nennen: Das ungarische Literaturmuseum wurde z. B. gebeten, als Beitrag zur Geschichte der ungarischen Avantgarde einen auf 1956 bezogenen sentimentalen Kurzroman von Tibor Déry und eine beliebige Schrift von dem derzeitigen Pen Club Präsidenten György Konrad nach Bonn auszuleihen. Dies wirkte so, als hätte man einige Bücher von Heinrich Böll anstatt der Buch-Graphik und der Typographie-Kunst der Weimarer Republik zur Ausstattung einer großen avantgardistischen Retrospektive erwerben wollen. Daß in der selben Zeit auch die ungarischen Kultusbehörden nicht besser abgeschnitten hatten, darf ich natürlich nicht verschweigen. Die Messe von Hannover wählte Ungarn im Jahre 1994 als Partnerland und bot Museen und Ausstellungsräume an, um die ungarische Kunst in Hannover vorzustellen, worauf die ungarische Seite sehr lange überhaupt keine Antwort gab, nicht einmal eine Absage – folglich standen diese Räumlichkeiten eine Weile leer. Das war ein perfektes Versagen der ungarischen Kulturpolitik.
        5. Man veranstaltete ein Symposium mit dem Titel »Das Marco Polo Syndrom« im April 1995 im »Haus der Kulturen der Welt« in Berlin. Eingeladen waren prominente Vertreter der Kunstwissenschaft und Ausstellungspolitik aus Europa und aus Übersee, also sowohl Professor Hans Belting aus Karlsruhe und Museumdirektor Jean-Hubert Martin aus Paris oder Catherine David, Leiterin der nächsten »documenta« in Kassel, als auch Gerardo Mosquera, Kurator der jüngsten beiden Biennales in Havanna. Mosqueras Anwesenheit war damit zu erklären, daß diesem Symposium eine groß angelegte Schau im Aachener Ludwig-Forum vorausgegangen war, wo man die Exponate der jüngsten Biennale von Havanna (genannt auch »Biennale der dritten Welt«) sehen konnte. Diese Gastveranstaltung aus Havanna war ein Geschenk von Peter Ludwig, der diese interessante kulturpolitische Attraktion von Fidel Castro nach Europa brachte, um dem hiesigen müden Kunstmarkt und Ausstellungswesen neue Impulse zu geben. Das Marco Polo Symposium in Berlin hatte dann die Aufgabe, daraus die Lehre zu ziehen und die Probleme des Nord-Süd Gefälles in der Kunstrezeption bewußt zu machen, d. h. den bisherigen Ost-West Konflikt mit einer Querachse in Richtung Nord-Süd zu ergänzen, um die Verantwortung der Europäer für die Kunst der dritten Welt wach zu halten.
        Ich soll kurz noch darauf hinweisen, daß diese jüngste Biennale aus Kuba nur gegen Dollarscheine in Havanna zu besichtigen war – eine Maßnahme, die die kubanische Bevölkerung aus dieser Ausstellung praktisch ausschloß. Die Schau bot eine bemerkenswert bunte Mischung der Arbeiten talentierter junger Künstler, der lateinamerikanischen Folklore und von rührend aufrichtig arbeitenden Sonntagsmalern. Sie wirkte also tatsächlich wie ein frischer Wind, sie konnte jedoch die europäische Kunstlandschaft nicht verändern. Die Teilnehmer des Symposiums waren teils schockiert, sich mit solchen Problemen abfinden zu müssen, teils machten sie auf die Aussichtslosigkeit der erhofften interkontinentalen Diskussionen aufmerksam. Hans Belting formulierte seine Vorbehalte mit den Worten: – »Unser Standpunkt ist immer ein westlicher, auch bei selbstkritischer Gesinnung.« Auch die in Berlin erschienene Zeitschrift »Neue Bildende Kunst« leitete ihre Berichterstattung über dieses Symposium mit den Worten eines sogenannten »post-kolonialen Kritikers« ein, der für ein Moratorium des westlichen Theorie-Establishments plädierte. Er bat die Experten darum, ihre Vorschläge für die Lösung globaler Probleme vorerst für sich zu behalten. Die Zeitschrift fügte hinzu: – »Mit Sicherheit wird sich niemand daran halten.«
        Und in der Tat: wir sitzen hier – vielleicht nicht um globale Lösungen vorzutragen, aber zumindest uns zu besinnen, was mit der internationalen Kunstrezeption schief gegangen ist. Ich erlaube mir ganz kurz gefaßt einige Bemerkungen zu dem von mir vorgetragenen Ereigniskalender hinzufügen.
        1. Die Kunst, die nicht direkt mit der täglichen Geschäften der westeuropäischen und nordamerikanischen Kunstszene verbunden ist, hat mit der Nabelschau und mit den in die Kunstszene hineinprojezierten Gewissensfragen der etablierten Nationen nichts zu tun. Sie erlebt eine schwere Übergangszeit, die einen solchen Luxus nicht gestattet. Ihre dringende Aufgabe wäre, ein gesundes gesellschaftliches und wirtschaftliches Hinterland aufzubauen.
        Selbst, wenn man es nur ungern wahrnimmt, immer der Kunstmarkt ist es, was alles reguliert, und die Institutionen sind dazu da, um für eine Kontrolle zu sorgen. Sie sollten die Kunst, die sich schon bewährt hat, historisieren, sozusagen museumsfähig machen. Ohne die beiden Pfeiler »Institutionen« und »Kunstmarkt« sind die sog. peripherischen Länder viel zu schwach, ihr nationales Kulturerbe zu schützen und zu bewahren oder ihren Künstlern die Geltung und internationale Rolle zu sichern, die sie vielleicht verdienten. Die meisten kulturellen Nachteile und die damit verbundenen Probleme würden in kurzem nicht mehr so gravierend sein, wenn es den Ostländern gelänge, eine solide Wirtschaft, gut ausgebaute Kunstinstitutionen und auch einen eigenständigen Kunstmarkt hinter sich zu wissen. So lange, daß aber es nicht geschieht, sind die Bemühungen, den Osteuropäern die Tränen aus den Augen zu wischen, umsonst. Eine solch sentimentale Haltung kann höchstens selbstgefällig wirken und mehr schaden als nützen.
        2. Die Länder auf den fünf Kontinenten haben sehr verschiede Schwierigkeiten mit der Bewahrung ihrer Kultur. Sie können mit den industriellen Ländern sicher nicht Schritt halten. Dies bedeutet, daß ihre Probleme nicht gelöst werden und die Kultur vielerorts einfach untergehen wird.
        Die mittel- und osteuropäische Region ist jedoch in einer besseren Situation. Die einzelnen Staaten hier verfügen über ein ziemlich gemeinsames kulturelles Erbe, das hier nicht nur die Länder und Völker untereinander verbindet, sondern sie auch mit den Westländern verknüpft. Es stammt noch aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg und das ist die Kunst der Gründerzeit, des Symbolismus, des Jugendstils und der frühen Avantgarde.
        Dieses Erbe wurde in den darauffolgenden Jahrzehnten in Mittel- und Osteuropa fast völlig zerstört. Polen gelang es, die Kontinuität noch am besten zu erhalten, Böhmen, Ungarn, die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und die baltischen Republiken konnten ihre moderne Kunst nur in einem absteigenden Maß in der jetzt genannten Reihenfolge lebendig halten. Am schlimmsten erging es Rußland, wo die Kontinuität der Modernen unreperabel zerrüttelt wurde. Alle diese Länder führten den Modernismus dann als Rückimport aus den Westen in die eigene Kultur zurück, wobei man leicht beobachten konnte, daß die zurückgebrachte Avantgarde um so mehr mit dem neuen Manierismus der siebziger und achtziger Jahren gemischt war, je später dieser Rückimport erfolgte. Im Grunde genommen haben jedoch all diese Länder untereinander heute eine mehr oder weniger ähnliche Kunstszene, die in ihrem pluralistischen Stilverständnis und eklektischen Tonanschlag auch mit den gegenwärtigen westlichen Postmodernen vergleichbar ist.
        3. Es ist auffallend, daß der wichtigste und auch für die internationale Kunstszene maßgebende Sektor der Ausstellungspolitik in den westlichen Ländern immer weniger in der Hand jener Institutionen bleibt, die diese Ausstellungen eigentlich machen sollten, sondern zunehmend von privaten Initiativen gesteuert wird oder bestimmte Regierungskreise ihn auf dem direkten Weg beeinflussen oder verwalten. Das eine hat mit dem wissenschaftlichen Niveau und der Glaubwürdigkeit nichts zu tun, das andere ist im Begriff, eine offizielle Staatskunst mit all ihren schwerfälligen Zügen und ihrer Tolpatschigkeit zu schaffen.
        Die deutschen Kunstinstitutionen, wenn sie tatsächlich nach ihrem eigenen, wissenschaftlich fundierten Verständnis handelten, betrachteten die Kunst der mittel- und osteuropäischen Region auch bisher nicht als ein fremder Kontinent oder ein weit entfernt liegendes kulturelles Ausland – zumal sie selbst ein Teil von dieser Region waren. Sie verstanden, daß der Unterschied zu dem Westen in erster Linie darin bestand, daß diese mittel- und osteuropäischen Länder den Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg (auch im kulturellen Bereich) viel später angefangen haben als jene, die auf der westlichen Seite des Eisernenvorhangs lagen. Sie müssen wegen dieses unglücklichen Umstands mit Lücken und Versäumnissen rechnen, die nachträglich nur schwer zu reparieren sind.
        Doch was diese Länder mit ihrer Kunst aussagen und wie sie es aussagen, hat dieselben Wurzeln und eine sehr ähnliche Struktur wie im Westen. Wird diese nahe Vewandschaft, nachdem sie in die Hände wohlwollender Amateure, ehrgeiziger Äußenseiter oder unsensibler Bürokraten gekommen war, in der Zukunft wieder mit mehr Sachverständnis behandelt?