VISSZA A LISTÁHOZ
 

Magdalena Marsovszky:
Ungarns ethnischer Kulturbegriff
(In: Culture Europe, published by the Culture Europe Association, Nr. 38, 12/2002: Special Issue: Populist Right, Far Right and Culture), Paris.

Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Krisen und Privatisierung rief die Kulturpolitik von Viktor Orbáns Regierung böse Geister vergangener Zeiten auf – den Antisemitismus und Rassismus – und verursachte eine tiefe gesellschaftliche Spaltung zwischen den „wahren Ungarn“ und den anderen

Am Abend seines Wahlsieges im Mai 1998 verkündete der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, die ungarische Nation sei mit der in Ungarn lebenden Bevölkerung nicht identisch, er jedoch sei Ministerpräsident der gesamten ungarischen Nation. Diese Formulierung, von der Geschichte vergangener Jahrhunderte geprägt, ist in Ungarn auch heute noch von höchster Brisanz und wurde in den vier Regierungsjahren Orbáns zum obersten Leitgedanken des politischen und kulturpolitischen Handelns.

Seine Bemerkung bezog sich darauf, dass sich Ungarn seit der Wende 1989-90 im heftigsten Kulturkampf seiner Geschichte befindet und war sein Versuch, die „kranke“ nationale Identität zu „heilen“. Das ungarische Identifikationsmuster war über mehrere Jahrhunderte hindurch wegen der andauernden unterdrückerischen Fremdherrschaft vor allem über den Mechanismus der Opferhaltung und über Feindbildkonstruktionen definiert. Dieser Mechanismus war nach der Wende und dem Abzug der sowjetischen Truppen obsolet. Zur gleichen Zeit wurde die Kultur – seit Jahrhunderten wichtigstes Identifikationsfeld im unterdrückten Land und besonders in der ‚weichen Diktatur’ wichtigster Bereich des Widerstandes – heftigen Erschütterungen ausgesetzt: Erstens zog sich der Staat – bedingt durch die Finanzkrise der öffentlichen Hand - aus dem Bereich Kultur zu großen Teilen zurück, zweitens führten Privatisierung und neoliberale Tendenzen zur kulturellen Globalisierung.

Das Ideal von „Groß-Ungarn“
In dieser Situation, hieß es, dürfe Kulturpolitik den werteorientierten Gestaltungsanspruch nicht aufgeben und die staatliche Verantwortung für Kultur dürfe nicht durch eine andere abgelöst werden. Für die kulturelle Zukunft des Landes wurde eine ‚geistige Erneuerung’ aller Ungarn angestrebt, also auch derer, die in den vortrianonischen Gebieten leben. Diesem geistigen Revanchismus für das Ideal des ehemaligen großen Nationalstaates Ungarn, den es eigentlich seit dem Mittelalter nicht mehr gegeben hat, verschwor sich Orbán am Abend seines Wahlsieges.

Somit versprach er sich auch gleichzeitig dem Rassismus. Denn viele, die sich im Globalisierungsprozess nicht repräsentiert sahen, zogen sich zurück, und dieser Rückzug war vom Antisemitismus geprägt. Der Antisemitismus, im ungarischen Konservatismus traditionell vorhanden und nach der Wende wieder lebendig geworden, begegnete der gegen Mitte der 90er Jahre auftauchenden neuen Feindbildkonstruktion ‚Freunde der Globalisierung’ und sublimierte sie zum Konstrukt „jüdische Freunde der Globalisierung“. Aus der ‚patriotischen’ Logik heraus wurden wieder die äußeren Feindbilder konstruiert: Zunächst war es das ‚Weltjudentum’, mit dem die inneren „Landesverräter“ kollaborierten, dann die USA, weil von dort aus die Globalisierung ausgehe und zum Schluss Europa, weil es Eigenheiten der ungarischen Kultur im Zuge der Einigung nivellieren würde. Die Einheit der ungarischen Kultur, eine Homogenität also, wurde beschworen, und sowohl die äußere als auch die innere Kommunikation des von der Orbán-Regierung erstellten Landeskulturmarketings wurde nach dieser kulturpolitischen Zielsetzung ausgerichtet. Die äußere Kommunikation war darauf bedacht, im Ausland ein anderes Ungarnbild als die vorherrschenden Klischees (Piroschka und Paprika) zu vermitteln. Da dies jedoch nicht selten mit einer ästhetisierten Vergangenheitsdarstellung einherging, wurden zum Teil neue Klischees geschaffen, die – weil man im Westen über die EU-Anwärterländer schlecht informiert ist - vielfach für wahr genommen wurden. In der inneren Kommunikation wurde durch das Zusammenwirken der politischen Elite, der völkisch gesinnten Intelligenz und der ungarischen christlichen Kirchen vor allem bei den Millenniumsfeierlichkeiten versucht, eine ‚gesamtnationale’ und ‚christlich-ungarische’ Kultur zu postulieren und diese durch die symbolisch-politische Sprache in den öffentlich-rechtlichen Medien und in der regierungsnahen Presse einerseits sowie durch gezielte Ausschreibungen für die Feierlichkeiten andererseits zu fördern. Man strebte nach einer einheitlichen, „ehrwürdigen“ Haltung im Zeichen der ungarischen heiligen Krone, der „sacra corona“, und dafür wurden, wie in einem Gesamtkunstwerk, alle Einzelheiten des Marketings aufeinander abgestimmt. Alles: angefangen vom Kleiderkodex der politischen Elite, über deren Rhetorik, bis hin zur Stilwahl an Bauwerken und zu ‚kulturhistorischen Traktaten’ über die Auserwählung der ungarischen Rasse durch ihre spezielle DNS sollten einen organischen, dem „Ungartum“ immanenten spezifischen Charakter betonen.

Im Namen von Nationalismus und Christentum
Mit zunehmender Betonung des ‚Nationalen’ und des ‚Christlichen’ nahm der Antisemitismus zu, da diese Begriffe im ungarischen konservativen Denken traditionell die Negation von ‚jüdisch’ bedeuten. Zudem führte das Streben nach Einheitlichkeit zur Bagatellisierung von Gegensätzen und zur Nichtbeachtung von Ängsten, die aus Ambivalenzen resultieren. Nicht fundiertes historisches Wissen führte zur Verklärung des Völkischen und damit zur Geschichtsverfälschung, ungenügende Vergangenheitsbewältigung führte zur Vertuschung von Schuld, und die Mythisierung des ‚Urtümlichen’ führte einerseits zur Ästhetisierung des Provinziellen statt zur Bewahrung von Authentischem, andererseits zur Ablehnung des Kosmopolitischen und Urbanen und damit zur Ausgrenzung von Andersdenkenden.

Infolge des ethnisch verstandenen Kulturbegriffs entstand in den vier Jahren der Orbán-Regierung eine paradoxe Situation: Einerseits ist es ihr gelungen, viele der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn auch verwaltungsmäßig (durch das sog. Statusgesetz, als Statusungarn mit einem Statuspass) als ‚wahre Ungarn’ dem ‚Ungartum’ zu integrieren, andererseits erfuhr der ursprüngliche rassistische Ansatz eine Erweiterung, so dass jetzt etwa die Hälfte der Gesellschaft innerhalb der Landesgrenzen von dieser Entwicklung ausgesperrt bleiben sollte. All diejenigen, die moralische oder politische Bedenken äußerten, wurden zu „Nicht-Ungarn“ ja zu „Unmenschen“ erklärt und damit versucht, sie in ein kulturelles Ghetto zu drängen. Heute gibt es zwei Parallelgesellschaften im Land, die einander aufs Schärfste bekämpfen – in heftigen, manchmal gewalttätigen Zusammenstößen.

Seit April 2002 ist die ‚andere Seite’ Ungarns an der Macht, eine sozialliberale Regierungskoalition. Doch sie hat keine Alternativvisionen, und an das Grundübel des ethnischen Kulturbegriffs scheint sie sich nicht heranzutrauen. So aber erschöpfen sich ihre noch so gut gemeinten Gegenmaßnahmen in konzeptionslosem Nebeneinander.

Der Bereich Kultur bleibt auch im Prozess der europäischen Einigung unangetastet, denn sie ist bestimmungsgemäß eine nationale Angelegenheit. Da jedoch ein ethnischer Kulturbegriff zum Paternalismus, zu kulturellen Säuberungen, zur Ausgrenzung und letztlich zum Kulturkampf führt, ist dieser mit dem Grundgedanken der EU, einer politisch-kulturell-wirtschaftlichen Gemeinschaft mit gleichem ethischem Konzept, nicht vereinbar.