DIE ZEIT
10. 25. 1996
Januar 25-31, 1996

CD kompakt


Ein Mann summt. Zwei Töne und drei und drei. Und drei und zwei. Nicht mehr. Man hört das Einatmen und das Ausatmen. Manchmal scheint er Wörter zu singen, manchmal nur zu brummen, entspannt und nebenbei. 30 Minuten und 33 Sekunden lang summt der Mann.
Er bleibt nicht allein: zarte, schwebende Synthesizertöne. ein gezupfter Baß wie das Ticken der Uhr, Trommeln, ein verwehender Hall — in sieben Variationen. Aber immer das Summen. Stimmen setzen ein: Männer, Frauen, in ungarisch, englisch, deutsch, spanisch, slowenisch, tschechisch — Sätze von Ludwig Wittgenstein, Sätze, die sich wiederholen, oft nur einmal gesprochen werden, aus dem „Tractatus“ und den „Vermischten Bemerkungen“,in Tokio. Budapest, Bratislava, Wien, Prag und Budakeszi aufgenommen.
Man schaukelt in diesem Klang, denkt, daß dieses Konzept so neu ja nicht ist, Texte zu einer fast gleichbleibenden, minimal sich verändernden Begleitmusik zu sprechen. Doch diesmal ist es anders: kein Nebeneinander, sondern ein Verschieben von unten und oben, das eine läßt das andere aufleuchten: „The light work sheds is a beautiful light, which, however, only shines with real beauty if it is illuminated by yet another light“ (Ludwig Wittgenstein).
Laurie Anderson gelang ähnliches mit ihrem „0 Superman“ und dem englischen Komponisten Gavin Bryars mit seinem „Jesus‘ Blood Never Failed Me Yet“. Der Ungar Tibor Szemző schuf mit „Tractatus“ das unvergleichliche Dritte.
Auf der CD-Hülle finden sich Schriftzeichen, ein japanischer (?) Text, dem europäischen Laien unentzifferbar. Darunter, als Beiblatt und Cover eingeschoben, das Photo eines (Wittgensteinschen) Fahrrads, die Aktentasche am Lenker hängend.
„Wie schwer fällt mir zu sehen, was vor meinen Augen liegt.“ Wie schwer fällt mir zu beschreiben, was vor meinen Ohren... — will man auf Vergleiche verzichten, auf preisende Superlative Bilder und Metaphern. „Der Gegenstand ist einfach“ — ein Summen em Baßton, Sätze aus der Welt des Denkens, Töne aus der Welt des Fühlens Vorsicht! Nichts ist hier naiv. Ludwig Wittgenstein, der hervorragend pfeifen konnte, war ein analytischen Kenner klassischer Musik, die „Vermischten Bemerkungen“ enthalten bedenklich Kluges zu Musik und Leben.
Tibor Szemző, 1955 in Budapest geboren, hat nicht zufällig den Satz „Ich bin meine Welt : (Ein Mikrokosmos)” ins - Zentrum seines Tractatus gestellt. Ein:Rettungssatz für Künstler aus dem Osten, nachdem der sozialistische Große Bruder - ihr erklärter Feind — sie im Stich gelassen und dem geschmäcklerischen Larifari des Westens ausgesetzt hat. Szemző ist ein Mikrokosmos mit einer (Werk-) Biographie, die wie ein Findling auftaucht: aus Minimalismus (für klassisches Ensemble), aus Filmmusik (für Bilder ohne Sprache), aus Performance-Kunst (für Klänge von Schwimmbekken), eine Mischung, wie sie nur in der Isolation des Ostblocks entstehen konnte.
Doch keine Angst, der Feind mag im Westen andere Namen führen, den kleinen Welten des Ostens entsprechen die kleinen Fluchten im Kapitalismus. Leo Feigin heißt der Exilrusse in London, der stur und uneinsichtig nur Improvisationsmusik, die ihn gefällt auf seinem Leo-Label veröffentlicht. Tibor Szemzős Musikmonolith gehört dazu, obwohl er gar nicht dazu paßt. Das meint auch: Man wird wieder eine Grenze überschreiten wird auf die Suche gehen müssen, wie ehedem im Osten nach Radio Luxemburg oder Radio Free Europe. Jetzt heißen die Vertriebs- „Frequenzen“ Satori (Münster,Tel. 0251/53 34 22), Jazzrock (Berlin), Open Door (Freudenstadt), Jazzhausmusik (Köln), Jatt is beck (München). Zum Lohn und Trost (mit L. W.): „Was hörbar ist, ist auch möglich.“

Konrad Heidkamp

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