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Georges Schlocker

Selbstgewählter Kolonialismus

In Lessings " Emilia Galotti " wird uns ein Prinz in voller  Rücksichtslosigkeit beim Verfolgen seiner Ziele gezeigt. Wenn er gut gelaunt eines Morgens den Maler Conti aufsucht, fragt er ihn leutselig, was denn die   Kunst mache. Eine Redefloskel, auf die Conti, den des Fürsten   menschenverachtende Herablassung erbost, unverblümt antwortet : " Sie geht nach Brot, Prinz".

So lautet die Devise im 18. Jahrhundert im erwachenden Bürgertum. Heutzutage lautet sie indes in den ehemaligen Satellitenländern nicht anders. Die Marktwirtschaft nimmt die Kunst ins Schlepptau, das bedeutet, dass die die reproduzierenden Künste, Musik und Theater, vor westlichen Agenten oder Intendanten Schlange stehen und um Gastspiele buhlen. Die  Beziehungen zwischen östlichen Bühnnenproduktionen und westlichen Abnehmern fahren auf Bahnen, die westlichen Vorstellungen oder Wünschen von Traditionalismus gerecht werden. Das liess sich vor wenigen Wochen am Festival von Avignon überprüfen, etwa bei einer Darbietung mit dem Titel " Hotel Europa ". Da waren Sketchs von verschiedenen Ländern aufgefädel :
Bulgarien, Slowenien, Russland, Lettland und Litauen hatten sich zusammgetan, um ein anthologisches Produkt für den westlichen Markt auf die Beine zu stellen. Grundtenor war die Sehnsucht, zu Europa zu gehören, aber vorgebracht wurde er auf so herkömmliche Weise, dass der Betrachter das Ende der Veranstaltung herbeisehnte.

Der Festival von Avignon ist weltberümt, sein Leiter enthüllte ein  Unternehmen, das den Namen " Theorem " trägt und sich zur Aufgabe macht, originelle Köpfe oder originelle Produktionen aus Osteuropa im Westen vorzustellen. Das ist diesen Sommer im Falle Ungarns gelungen : der junge Regisseur Laszlo Hudi mit seiner Theatergruppe Mozgo Haz bearbeitete Imre Madachs " Tragödie des Menschen " so, dass sie zeitgenössischen Erfahrungen der uneingeschränkten Weltdurchfurchung gerecht wurde. Das Aufsehen war umso grösser, als die Stoffvorlage von Madach im Westen unbekannt ist. Die Multimedialität erwies sich in diesem Fall nicht als Gag, mit dem die Bühne den Weg des verwirrenden Augenreizes einschlägt. Hudi hat dank der Schwerelosigkeit des Virtuellen, dem ungarischen Romantiker das gegeben, worüber dieser zu seiner Zeit nicht verfügen konnte. Das war ein Triumpf für Theorema : offensichtlich ist im Südosten Europas etwas zu holen, wovon Franzosen, Deutsche oder Engländer sich nichts träumen lassen.

Häufig sind solche entdeckungen freilich nicht. Die Fälle überwiegen, in denen eine hergebrachte nationale Tradition zum x-ten Male vorgetragen wird. Im Westen der Ukraine besteht seit fünf Jahre weein Theaterfestival in Lwow (im 19. Jahrhundert unter österreichischer Herrschaft Lemberg genannt). Dort zeichnen sich was die östlichen Produktionen anlangt. divergierende  Entwicklungslinien ab die eine geht ins träumerisch Verblasene, die andere ins schrill Gewalttätige., Eine der einheimischen Truppen, das Voscressinia-Theater liebt besonders zart verschwimmende Farben, die wie Gazeschleier über psychedelischem Tanz der Visionen übergeworfen sind. Pirandellos bittere unvollendete Zukunftsprophezeiung vom Sieg des  Faschismus, " Die Riesen vom Berge ", verwandeln sich dabei in eine schillernde Choreographie, über welche Gummischnüre oberhalb von Kopfhöhe gespannt sind. Die Schauspieler verwandeln sich auf diese Weise in Trapezkünstler, wenn sie über die elastischen Färben hinweggehen, ohne dass der Aussage des Stücks etwas Neues abgerungen wäre. Damit äussert sich vielmehr eine Art von " l’art pour l’art " zwecks Erzeugung dessen, was fälschlicherweise Poesie genannt wird.

Rohe Gewalt vornehmlich Frauen gegenüber scheint die Aussage eines bestimmten russischen Theaters der Dreissigjährigen zu sein. Auch das ist mittlerweile unter dem Einfluss des Films zu einem Topos geworden und erlaubt den Anhängern nicht mehr sich daraus zu befreien. Die beiden Tendenzen stehen im Gleichgewicht : je willkürlicher eine gewisse Zartheit sich unter, die ihnen zuteil werden. den Figuren artikuliert, umso stärker wächst die Willkür der Fusstritte und Faustschläge. In jedem Fall drückt sich darin ein Schematismus der künstlerischen Komposition aus, dessen noch nicht vorhersehbare Überwindung erst dem Theater dieser Länder künstlerische Selbständigkeit und damit Originalität einbringen wird.

 

 

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