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GEORGES SCHLOCKER Journalist. Stammt aus Schweiz, lebt in Paris.

Georges Schlocker

Gelehrtenflucht

Nun ist der reputierte Ethnologe Maurice Godelier, wie seit etlicher Zeit in Pariser Kunstkreisen gemunkelt wurde, als wissenschaftlicher Leiter des neu-gegründeten" Museums früher Kunst" (Musée des arts premiers) zurückgetreten. Allein dieser Titel ist heute bereits in der Abstellkammer verschwunden und dies vielleicht dank Godeliers Einsatz. Das von Jacques Chirac unter Mithilfe seines Kunsthändlerfreundes Jaques Kerchache begünstigte Projekt stösst an allen Ecken und Enden in der öffentlichen Meinung an.

"Frühe" Kunst soll darin gezeigt werden, wenn 2003 der von Jean Nouvel entworfene Bau am linken Seine-Ufer nahe beim Eiffelturm bezugsbereit sein wird. Darunter versteht das Kunstberaterteam nach dem lautstarken Protest von Ethnologen und Kunsthistorikern neuerdings nicht mehr einen zeitlichen, sondern einen räumlichen Rahmen, der aussereuropäische Kunst umfasst. Die Wissenschaftler machten ungesäumt auf die verkürzte Entstehungszeit von Kunstäusserungen vorab in Afrika, aber auch in anderen "primitiven" Kulturen aufmerksam. Doch "primitiv" (in der französischen Bedeutung von ursprungsnah) soll man diese Kunst heute eben nicht mehr nennen. Hinter diesem Terminus steckt Kolonisatorenhochmut, lautet die Anklage. Ergebnis dieser political correctness: das embrionale Museum trägt heute den Namen "Musée du quai Branly", eine topographische Bezeichnung, die künstlerische Definitionen offen lässt.

Nicht aus diesem Grund gab Maurice Godelier jedoch seinen Rücktritt, sondern wegen der Dürftigkeit, die finanziell und theoretisch für die wissenschaftliche Aufbereitung des ausgedehnten ethnologischen Stoffs vorgesehen ist. Das neue Museum tritt nämlich die Nachfolge zweier berühmter Institutionen an. Das "Musée de l'homme", eines der weitgespanntesten ethnologschen Museen der Welt soll seine Bestände hergeben und ebenfalls das "Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie", auf daß mit seinen umfangreichen Sammlungen das neue Museum bestückt werden kann.

Was wird jedoch aus den in beiden Museen aufgebauten grossen Bibliotheken? Werden sie zusammengehalten, was die bibliographisch bessere Lösung wäre, oder werden sie auf verschiedene Bibliotheken aufgeteilt? Eine klare Antwort, die sich auch im Haushaltsplan äussern müsste, steht noch aus. Dass die Bestände digitalisiert wer-den, dafür hatte sich Godelier früh eingesetzt. Obwohl der Vorsteher der Baugesellschaft, Stéphane Martin, im Gespräch auf ein beträchtliches Anwachsen dieses Budgetpostens hinweist, kann er Zweifel daran nicht zerstreuen, dass dieser Haushaltposten den durch Umzug sowie Neustrukturierung des Lehrbetriebs anwachsenden Kosten gerecht wird. Die Wissen-schaftler fühlen sich auch heute noch, nachdem gerade Godelier in der Vergangenheit zur Besänftigung der Gemüter wesentlich beitrug, als Stiefkinder gegenüber den allein auf Schaueffekte begierigen Vorkämpfern eines Museums, das durch seine exotischen Ausstellungsstücke zu imponieren vermag. Einen Vorgeschmack dessen liefert die seit einiger Zeit im Louvre untergebrachte Auswahl von fabelhaften Stücken "exotischer" Kunst. Da triumphiert ein Ästhetizismus, der dem Museum in erster Linie Betörungskraft zuschreibt und damit einlädt, auf komplexe Erklärungen von künstlerischen Erzeugnissen fremder Zivilisationen zu verzichten.

Misstrauen in dieser Hinsicht entspringt einer Durchmusterung der Kostenverteilung. Godelier Skepsis blieb bislang unwiderlegt, als er sagte: "Die Voraussetzungen eines Museum, das aus der Verschmelzung zweier verschiedener Institute hervorgeht, sind nie richtig veranschlagt worden. Bei der Aufstellung des Haushalts ist der Posten "Forschung und Lehre" nicht gründlich genug durchdacht worden". In der Tat scheint eine einzige Sorge im Mittelpunkt der Kostenschätzung gestanden zu haben: Niedrighaltung des Budgets, damit die Kosten für das neue Museum billiger erscheinen als seinerzeit François Mitterrands Bauten. Kann dies Unternehmen an sich schon nur mit Mühe den Eindruck tilgen, in blossem Wetteifer mit den zahlreichen (und grösstenteils verdienstvollen) Bauten des Vorgängers zu stehen, wirft die plötzlich sichtbare Idealkonkurrenz der Bauwerke einen nicht unbedenklichen Schlagschatten auf den "Verewigungswillen" des heutigen Staatspräsident.




Der Selbstquäler

Michel Houellebeque hat drei Romane publiziert, deren jeder in Frankreich und kurze Zeit später im Ausland von sich Reden machte. Nicht seiner literariscen Qualitäten wegen, darüber ist sich die Kritik einig, Sein Trick besteht vielmehr darin, Herrn Jedermanns Sprache im Mund umzudrehen und von der Normallinie ihrer Vorurteile kein Iota abzuweichen. Seine Romane prangern die Sitten der globalisierten Welt an und brechen zugleich in eine wütende Klage über sie aus.

Wie man zu literarischem Ruhm kommt, über dies unerschöpfliche Thema spekuliert einmal mehr in diesen Tagen die französische Öffentlichkeit im Angesicht von Michel Houellebeques drittem Roman "Plattform".("Plateform" im Verlag Flammarion, Paris). Dreizehn Tage nach dessen Auslieferung an den Buchhandel, waren bereits 200 000 Exemplare verkauft. Die Zahl dürfte sich in Kürze verdoppeln. Die Faszination des grossen Erfolgs löst einen Herdeneffekt aus, aber der Beobachter der Szene fragt sich, wieso gerade ein Houellebeque solche Anziehung aufs Publikum ausübt und weshalb ein wenige Wochen zuvor ausgelieferter Roman von Frédéric Beigbeder mit dem Titel "99 francs" nach aufflackerndem Interesse in den Buchhandlungen liegenbleibt?

Man kann die beiden Fälle deshalb miteinander vergleichen, weil beide Autoren geeichte Skandalauslöser sind. Houellebeque hat freilich das grössere Talent, mit provozierenden Erklärungen die Medien auf Trab zu bringen. Beigbeder warf im Protest die Tür der Werbeagentur hinter sich zu, für die er jahrelang Slogans ausheckte und macht nun in seinem Buch Front gegen Meinungsmanipulation durch Werbung. Die heutige Welt wird an der Nase herumgeführt, verkündet er: als eine Brandfackel hat er seinen Roman zur Aufklärung darüber ausersehen. Einen kurzen Augenblick lang schlug diese angriffige Stimme die Öffentlichkeit in Bann, dann versackte sie.

Auch Houellebeque ist ein Polemiker, der gegen die Welt von heute vom Leder zieht. Dazu hat er sich allerdings ein anderes Kampffeld ausgesucht: den Sex. So trägt sein zweites Buch, "Die Elementarteilchen" eine Klage über sexuelle Pauperisation vor, deren Anschauungsunterricht zwei Halbbrüder erteilen, die im Mittelpunkt stehen. Von ihnen hat der eine ein üppiges Sexleben und der andere nicht. Die Lösung findet der Zukurzgekommene durch die Entdeckung einer chemischen Verbindung, die Begierde in Wollust umzuwandeln versteht.

Die "Plattform" nun handelt vom Sextourismus, den er brandmarkt und zugleich mit kruden Einzelheiten vorführt. Ein Thema getreu Houellebeques Devise "Sei widerlich, aber sei wahr". Zu den Rundumschlägen, von denen er nicht genug bekommen kann, gehört das Ankläffen des "Guide du routard", eines beliebten Reiseführers, der jungen Leuten praktische Tipps für ihre Reise gibt. Auf das Konto seiner Lust am Herunterreissen wird man auch das Interview in der Zeitschrift "Lire" buchen, in der er kürzlich vom Islam als der "dämlichsten Religion" sprach und behauptete, der Islam sei "eine gefährliche Religion und dies von allem Anfang an. Die Werte des Materialismus sind verachtenswert, aber immerhin weniger zerstörerisch und grausam als der Islam". Wohl erschreckt von dem Sturm in der Presse, den er auslöste, widerrief er am nächsten Tag und schwur, kein Rassist zu sein; der Alkohol habe bei diesen Worten aus ihm gesprochen.

Aufschlussreich ist diese Anpöbelung des Islams nicht nur des Konformismus wegen, den diese Phobie verrät, die ja genau der landläufigen Unüberlegtheit nach dem Munde spricht. Sie kann zurückspiegelnd des Autors Biographie beleuchten. Von Hause aus hat er nicht die geringste Beziehung zum Islam. Was ihn in jungen Jahren verstörte, war die Scheidung der Eltern und damit die Lebenserfahrung der Unsicherheit von Bindungen, auf die er mit Ressentiment auf die Welt antwortete. Daraus ging die Erfahrung sozialer Schattenseiten hervor. Als ungerecht erweist sich die Welt und die vielgepriesene Freiheit ist eine Illusion. Wer sie entlarvt, der rührt den französischen Roman auf, ist dieser doch heute noch auf Psychologie und Paarverhalten eingeschworen. Lässt er hinter seiner Erzählung gar eigene Betroffenheit durchscheinen, ist im Leser das "human interest" geweckt und das Buch erscheint "authentisch". Houellebeque, der als Verwundeter andere zu verwunden trachtet, kann man als Vorläufer eine poetischen Gestalt Baudelaires zuschreiben, die im Gedicht "Der Selbstquäler" von sich selbst gesteht: "ich bin das Messer und die Wunde." (" Je suis le couteau et la plaie ")

 

 

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