GEORGES SCHLOCKER (PARIS)
 
BILDERSUCHT AUF DER BÜHNE

In Sibiu in Siebenbürgen fand kürzlich ein internationales Theaterfestival statt, an dem sich bestätigte, was der Romancier Theodor Fontane vor mehr als hundert Jahren beobachtete. Er schrieb nicht nur anrührende von tiefer Menschenkenntnis zeugende Romane, sondern war auch während langer Jahre als Theaterkritiker in Berlin tätig. 1883 fasste er seine Beobachtung in die Worte : « Das Stück beherrscht nicht mehr die Szene, sondern die Szene beherrscht das Stück. » .
 Diese Worte zielen mitten ins Herz des heutigen Bildertheaters, das einen in Sibiu geradezu verfolgte. In Rumänien wirkt seit über einem Jahrzehnt ein Regisseur, den man einen wahren Bildermagier nennen kann : Silvio Purcarete. Theater faßt er als eine große Verblüffungsanstalt auf. Das gilt vorzugsweise für die Stücke, die er für seine Truppe selber schreibt. Ein Beispiel dafür war seine Gargantuabearbeitung, in der er zu einer wilden Abfolge von Bilderzusammenstellungen ausholte
 Arrangements ohne Zahl und vor allem ohne tiefere Bedeutung jagen einander. Prinzip ist das kaleidoskopartige Zusammenschießen einzelner Bildteile Das Theater verwandelt er in  einen Ort der Beliebigkeit um, auf dem ein surreales Geschehen stattfindet, das seine Rechtfertigung einzig aus seiner Willkür zieht. Diese sich überstürzenden Bilder arten handkehrum in Unfug aus. Es versteht sich von selbst, daß bei der Auswahl der Bildelemente die Mode das Szepter führt.. Was gerade der letzte Pfiff auf dem Boulevard ist, das kommt auf dieser Bühne als Echo zu uns.
Anders sieht es immerhin aus, wenn er sich einer strikten Textvorlage unterwirft, mit der er nicht nach Belieben umspringen kann. « Was ihr wollt » ist von allen Shakespearestücken das biegsamste, was die Rollenverwandlung betrifft. Der Wucherung auf sich selbst bezogener szenischer Einfälle, der er sonst mit Begeisterung erliegt, kann er hier nicht so leicht nachgeben. Damit bleibt auch die Lesbarkeit des Bühnengeschehens besser bewahrt.
Wie soll sich das Publikum auf dieses pausenlose Kapriolenspiel einen Vers machen, werden doch  die Sinngehalte dabei an den Rand gedrängt ? Komödien widerstehen der permanenten Bilderanhäufung besser. Aber eindeutig bringt das vom Text unbeglaubigte Jonglieren der Bilder eine Verwirrung des aufnehmenden Geistes samt entsprechender Verarmung mit sich. Die  Malvoglio-Episode z.B. reizt zweifelsohne zum Lachen, daß aber auch  einer solchen Spottgeburt der dichterische Blick Duldsamkeit und Verständnis entgegenbringt und ihr damit Tiefe verleiht, das läßt sich auf diese Weise  sicher nicht vermitteln.
Ein anderer Regisseur von ähnlicher Geistesart tritt neuerdings aus dem südöstlichen Europa ins Licht. Den ukrainischen Theatermann Andrij Scholdak hat vor kurzem Luc Bondy an die Wiener Festwochen geholT und mit diesem Gastspiel künstlerisch nobilitiert. Er wird, um das vorherzusagen, braucht man kein Prophet zu sein, in kürzester Zeit großen Beifall finden. Auch er ist ein Bildzauberer, genauer : er verwandelt die  Bühne in ein Spannungsfeld der Halluzinationen, denen man sich schwerlich entziehen kann. 
»Venedig – Goldoni » betitelte er den selbst ausgedachten Extrakt aus Goldonis  Lebensgeschichte, Wie unter Hochspannung, die Blitze versendet, agieren auf der Bühne die Figuren. Das Arrangement, dem sie unterliegen, ist unbezweifelbar ihre « raison d’etre « :in einem Kaleikdoskop schießen die einzelnen Glasstückchen ja auch immer zu neuen Konfigurationen zusammen. Hier nun löst das Raumkaleidoskop durch die Beziehungslosigkeit seiner Bilderkonstruktionen einen Schwindel aus, der wohllüstig erlebt wird. Vorgänger dieser effekthascherischen Theaterkunst ist ganz gewiß die surrealistische Malerei. Dali hat diese gegen die Vernunft gerichtete Bildsüchtigkeit künstlerisch vorgelebt. Aber wir müssen in unser Urteil auch die Zeit des langen Darbens der Kunstproduktion in der Epoche des Sozrealismus einbeziehen. Nicht nur die Einspurigkeit der Kunstaussage hatte Kunsterstarrung zur Folge, in der die Wünsche eines freien Geistesspiels  zu Grabe getragen wurden, die ersehnte Freiheit wurde vielmehr dadurch zum Synonym für impulsives Spiel der Phantasie.
Die Aushöhlung des kritischen Sinns, die diese Perversion mit sich bringt, hat freilich auch Wurzeln in der rumänischen Theaterkunst. Die Verführungsbereitschaft des Geistes durch Glanz und schmeichlerisches Gaukelspiel geht in diesem Land auf eine lange Vorliebe zurück, die heute noch nicht verblaßte. So läßt beispielsweise Anca Bradu Tschechows « Drei Schwestern »  auf einer total verspiegelten Bühne spielen, damit alle Gestalten sich vervielfachen und ihrer Realität verlustig gehen. Was ein (zweifelhafter) Effekt im Moment ist, wird damit zum Dauerzustand, der den kritischen Sinn einlullt..
Die « Perser » des Aeschylus sind ein einziger aufwühlender Klagegesang des bei Salamis geschlagenen Heeres. Zu unserem Erstaunen steckt der Regisseur Mihai Maniutiu die erschütterten Klageführer in Einreiher von heute, die aus Goldstoff geschnitten sind. Goldgefärbte Strohhüte gehören mit zu ihr Ausstaffierung, mit denen sie wie in einer Revue von Maurice Chevalier Ende der Zwanzigerjahre dem Publikum zuwedeln. Daß hier Bühneneffekte schonungslos sich über das Stück hinwegsetzen, wie Fontane es vorausgesehen, das läßt sich nun wirklich nicht leugnen.
Der gleiche Regisseur, auf dessen Konto diese Geschmacksverirrung geht, zeichnet auch für die Aufführung der « Elektra » verantwortlich. Und da schien er ein völlig anderer. Allen billigen Glitzer verbannte er daraus. Im Gegenteil Elektra und Orest erscheinen im Halbdunkel, Das ganze Ambiente gibt Bedrückung und Ausweglosigkeit zu verstehen. Das  Theater steigt in jenes uranfängliche Chaos hinab, wo es seiner tiefsten Daseinsberechtigung begegnet. Bohrende Volksweisen aus der rumänischen Provinz Maramuresch umtönen die Schreckenshandlung. Ja da griff die Bühne  auf jene Wirklichkeit zurück, in der Kinkerlitzchen sich von selbst zerstören und Heuchelei tödlich ist.

 

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