Geld regiert die Welt – wer regiert das Geld?

Die Gefahren des hochspekulativen internationalen Finanzsystems

Für viele Menschen erweist sich die “Welt der Finanzen“ in zunehmendem Maße als ein Mysterium, zu dem nur noch sogenannte Experten Zugang zu haben scheinen. Diese Entwicklung ist von zwei widersprüchlichen Trends geprägt: Während die anscheinend unergründlichen Vorgänge auf den globalisierten Finanzmärkten auf der einen Seite ein Gefühl der persönlichen Ohnmacht entstehen lassen, wächst auf der anderen Seite gleichermaßen ein Bewußtsein dafür, daß eben jene Kapitalbewegungen das gesellschaftliche Leben entscheidend mitbestimmen.

Daß die Mechanismen der Kapitalmärkte in der Tat immer undurchschaubarer werden, läßt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen: Als die Bundesanstalt für Arbeit im Januar dieses Jahres bekanntgab, daß die (offizielle) Arbeitslosigkeit in Deutschland erstmals die Vier-Millionen-Grenze überschritten und somit ein für die Nachkriegszeit neues Rekordniveau erreicht hatte, verzeichnete zeitgleich der Deutsche Aktienindex (Dax) ebenfalls einen historischen Höchststand. Letzterer – als die Meßzahl für die Entwicklung des Kursdurchschnitts maßgeblicher Aktiengesellschaften – gilt als börsliches Konjunkturbarometer der deutschen Unternehmenslandschaft; je höher der Dax, desto höher die Gewinnerwartungen der Betriebe. Für den gesunden Menschenverstand mag das Zusammentreffen von Massenarbeitslosigkeit und Kursfeuerwerk paradox erscheinen – aus finanzwirtschaftlicher Perspektive liegt darin jedoch kein Widerspruch. Vielmehr steigt der Wert der Unternehmen in den Augen der Börsianer gerade (auch) deshalb, weil Beschäftigte entlassen – und damit die betriebswirtschaftlichen Kosten gesenkt – werden.

Es sieht so aus, als hätte sich das Geschehen auf den Finanzmärkten losgelöst vom wirklichen Leben. Und dieser Eindruck ist keineswegs falsch. Im Zuge einer zunächst stillen, aber folgenreichen Revolution haben die Finanzmärkte – wirtschaftlich wie politisch – ungeahnte Dimensionen erreicht. Die inzwischen nahezu uneingeschränkte Bewegungsfreiheit des Kapitals hat eine weltweite Geldmaschinerie entstehen lassen, die ihre eigene Logik jenseits der “realen“ Ökonomie besitzt. Spekulative Finanzgeschäfte in astronomischen Größenordnungen hebeln nationale Geld-, Währungs- und Finanzpolitiken immer stärker aus und verursachen zum Teil schwerwiegende volks- wie weltwirtschaftliche Instabilitäten. Auf diesem Hintergrund sehen wir uns heute mit einer nahezu unregierbaren internationalen Finanz“ordnung“ konfrontiert. Deren Vorteile für eine relativ kleine Gruppe von Vermögenden und Privatunternehmen werden zum Preis einer enormen Zunahme der globalen Risiken erkauft.

Die kritische Auseinandersetzung mit der Finanzwelt und den sich dahinter verbergenden Strukturen könnte wesentlich dazu beitragen, eine öffentliche Debatte über ökonomisch wie politisch tragfähige Konzepte für die Gestaltung einer neuen Weltfinanzordnung auf den Weg zu bringen. Diese Ausgabe von epd-Dritte Welt-Information möchte einen Schritt in diese Richtung tun.

 

Vom einfachen Tauschmittel zum “Cybermoney“

Um die geradezu revolutionären Umwälzungen des Weltfinanzsystems verstehen zu können, ist es notwendig, den historischen Hintergrund der gegenwärtigen Finanzordnung zu beleuchten. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die sogenannten Devisenmärkte, auf denen Geschäfte mit (Fremd-)Währungen abgewickelt werden.

 

Das Bretton Woods-System

Mit dem Übereinkommen von Bretton Woods im Jahre 1944 wurde unter Federführung der USA und Großbritanniens die Grundlage der internationalen Finanzordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen. Einen wesentlichen Bestandteil des Übereinkommens bildete die Fixierung der Wechselkurse, d.h. die Währungen der Länder wurden über festgelegte Umtauschverhältnisse miteinander verknüpft. Dem US-Dollar, der aufgrund einer Garantieerklärung der US-Regierung prinzipiell gegen Gold eintauschbar war (“Gold-Dollar-Standard“), wurde die Funktion des Weltgeldes zugewiesen. Auf die Einhaltung der Wechselkurse hatten die nationalen Währungsbehörden durch Anwendung unterschiedlicher währungs- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen selbst zu achten. Im Falle binnenwirtschaftlicher Schwierigkeiten konnte der eigens dafür gegründete Internationale Währungsfonds (Anpassungs-)Kredite zur Verfügung stellen. Mit Hilfe der festen Wechselkurse sollte die Berechenbarkeit des Welthandels, die in der Zwischenkriegszeit verlorengegangen war, wiederhergestellt werden.

Je internationaler die Wirtschaftsbeziehungen wurden, desto stärker expandierten auch die Devisenmärkte. Sie dienten als eine finanzielle Verkehrsdrehscheibe, die den realen Güter- und Leistungsaustausch der über den Welthandel verbundenen Nationen in Schwung hielt. Damit boten sie einen überschaubaren und stabilen Ordnungsrahmen für die Finanzierung und die Zahlungsabwicklung grenzüberschreitender Transaktionen.

 

Die Ära flexibler Wechselkurse

Der Wendepunkt, mit dem das Vertrauen in das Bretton Woods-System zu schwinden begann, kam Ende der 60er Jahre. Um Programme zur Bekämpfung der Armut zu Hause und den Vietnamkrieg finanzieren zu können, kurbelten die USA die Notenpresse an. Dies überschwemmte die Welt mit US-Dollar. 1971 mußten die USA deshalb die Einlösbarkeit des US-Dollars in Gold aufkündigen.

Nach dem hierdurch hervorgerufenen Zusammenbruch des Fixkurssystems im Jahr 1973 begann das Zeitalter des sogenannten “Floating“. Hierunter werden flexible Wechselkurse verstanden, die durch Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten bestimmt werden, ohne daß die nationalen Währungsbehörden zu Eingriffen verpflichtet sind. Von diesem fundamentalen Systemwechsel versprach man sich die Herausbildung marktgerechter Umtauschverhältnisse, welche die tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen der nationalen Volkswirtschaften widerspiegeln sollten. Statt dessen stellten sich jedoch recht bald Währungsturbulenzen ein. Diese waren insbesondere darauf zurückzuführen, daß zahlreiche Länder aufgrund nationaler Interessen (etwa Beschäftigungsförderung, Inflationsbekämpfung, Schuldenfinanzierung) ihre Währungen je nach Bedarf eigenmächtig auf- bzw. abwerteten. Seitdem kennzeichnen immer neue, heftige Wechselkursschwankungen zwischen den wichtigsten Zahlungsmitteln der Welt die internationale Währungs- und Finanzentwicklung – mit der Konsequenz, daß mitunter gravierende Preisschwankungen und -verzerrungen die die Verläßlichkeit ökonomischer Entscheidungen für die Akteure an den Weltmärkten beträchtlich mindern.

 

“Derivative“ Finanzinstrumente

Da Käufer und Verkäufer von Waren und Dienstleistungen ohne ein hinreichendes Maß an Geldwertstabilität nicht dauerhaft disponieren können, entstand ein immer größerer Bedarf nach Absicherung gegen die Preisänderungsrisiken. Diesem Zweck dienen die derivativen (d.h. abgeleiteten) Finanzinstrumente. Definitionsgemäß besteht ihre zentrale ökonomische Funktion darin, ihrem Nutzer im Falle etwa von Wechselkursschwankungen eine möglichst risikoarme Verwertung seines Kapitals zu ermöglichen. Dies geschieht nach folgendem Muster: Ein deutscher Fabrikant vereinbart mit einem US-amerikanischen Kunden die Lieferung einer Werkzeugmaschine in sechs Monaten zu einem Preis von 10.000 US-Dollar. Die Kalkulationsbasis für den in Dollar festgelegten Betrag bildet der Wechselkurs zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Da der Exporteur nicht weiß, wieviel der Dollar zum Zahlungszeitpunkt in einem halben Jahr wert sein wird und somit einen Verfall des Dollarkurses nicht ausschließen kann, schließt er mit einer Bank ein sogenanntes “Future“-Geschäft ab. Dieses berechtigt ihn, die 10.000 US-Dollar am Zahltag zum Kurs des Vertragsabschlußtages einzutauschen, so daß er sich trotz einer eventuellen Abwertung des Dollars auf die kalkulierte Einnahme in D-Mark verlassen kann. Wäre der Preis dieses Geschäfts in D-Mark vereinbart worden, so hätte sich der Kunde aus den USA durch ein ebensolches Geschäft gleichermaßen gegen eine mögliche Aufwertung der D-Mark “versichert“.

Angesichts der zahlreichen Risiken, die mit dem heutigen Geschäftsgebaren auf den (Welt-)Märkten einhergehen, finden Derivate inzwischen in nahezu allen Bereichen Anwendung. So können ihnen neben Devisen- auch Aktien,- Kredit- und Zinsgeschäfte (allesamt sogenannte Finanzderivate) zugrunde liegen; des weiteren existieren Rohstoffderivate beispielsweise für den Kaffee- oder Erdölhandel. Die am stärksten verbreiteten Derivate sind die “Futures“ (siehe obiges Beispiel) sowie die sogenannten “Optionen“ (siehe nachfolgenden Kasten). Beide Finanzinstrumente werden, da Lieferung und Bezahlung der Ware erst zu einem späteren Termin, aber zum Kurs des Vertragsabschlußtages erfolgen, als “Termingeschäfte“ bezeichnet. Ihr Unterschied besteht darin, daß ein Future ein rechtsverbindlicher Kontrakt ist, den es in jedem Fall zu erfüllen gilt, während eine Option – gegen eine zu entrichtende “Optionsgebühr“ - lediglich das Recht, nicht aber die Verpflichtung auf die Ausübung eines Termingeschäftes beinhaltet.

Die erste “Option“ der Finanzgeschichte:

Das fraglos wichtigste und vielseitigste derivative Finanzinstrument wurde von dem griechischen Philosphen Thales von Milet bereits in der Antike erdacht. Durch Beobachtungen der Sterne und des Wetters sah er für das folgende Jahr eine Rekordernte bei Oliven voraus. Noch bevor sich die ersten Früchte zeigten, ging er reihum zu allen Besitzern von Olivenpressen und bot ihnen eine Vorauszahlung für das Recht (d.h. eine Option), während der Ernte ihre Geräte zu pachten. Auch über den Mietpreis verhandelte er im voraus. Im darauffolgenden Jahr brach die Ernte tatsächlich alle Rekorde. Thales bezahlte den Besitzern der Pressen die vereinbarte Pacht und diktierte den Olivenbauern jeden Preis, den er wollte, weil sich sämtliche Pressen in seiner Hand befanden. Weil Thales den Pachtzins für die Olivenpressen schon lange vor der Ernte vereinbart hatte und sonst niemand die große Nachfrage zur Erntezeit voraussah, konnte er einen niedrigen Pachtzins aushandeln. Er bezahlte die Pacht aber nicht sofort, sondern zahlte eine einmalige Gebühr für das Recht, die Pressen zur Erntezeit zu pachten. Wäre die Ernte wider Erwarten doch schlecht ausgefallen, wäre er nicht gezwungen gewesen, die Pressen tatsächlich zu mieten und hätte nur die einmalige Vorauszahlung (die Optionsgebühr) eingebüßt.

 

Der “Kasino-Kapitalismus“

Insbesondere seit Ende der 80er Jahre haben die Märkte für derivative Instrumente ein explosionsartiges Wachstum verzeichnet. Die Summe der an den Weltbörsen gehandelten Derivate hat sich allein zwischen 1988 und 1995 mehr als verdreizehnfacht, und das Volumen der außerhalb von Börsen getätigten Derivategeschäfte nahm zwischen 1990 und 1995 um sage und schreibe 2.200 Prozent zu (siehe Graphik). Im Jahr 1995 wurden weltweit 1,21 Millionen solcher Derivategeschäfte abgewickelt. Nicht zuletzt hierdurch haben die internationalen Finanzmärkte inzwischen einen Umfang erreicht, der größer ist und schneller wächst als der des internationalen Handels und der gesamten Weltproduktion.

Das Erreichen dieser fast unvorstellbaren Dimensionen wurde dadurch begünstigt, daß sich sowohl die technischen als auch die rechtlichen Voraussetzungen an den internationalen Finanzmärkten grundlegend gewandelt haben. Erstens resultierte aus der Einführung modernster computergesteuerter Kommunikations- und Handelstechniken, daß sich die Finanzmärkte zu einem vollständig vernetzten und jederzeit interaktionsfähigen System zusammenfügten. Im Rahmen dieser Infrastruktur können Geldströme jedweder Art rund um die Uhr in Sekundenschnelle etwa zwischen New York, London, Tokio und Frankfurt/M. (um nur die weltweit wichtigsten Finanzplätze zu nennen) ausgeführt werden. Zweitens haben umfangreiche Deregulierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen (z.B. Aufhebung nationaler Kapitalverkehrskontrollen, uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit für Banken, Zulassung kaum kontrollierter Finanzplätze) seitens der Politik den ordnungspolitischen Rahmen so verändert, daß dem Handlungsspielraum der Marktteilnehmer kaum noch Grenzen gesetzt sind. Nirgendwo ist die Globalisierung weiter fortgeschritten als auf den Finanzmärkten.

Der Boom im internationalen Finanzgeschäft mit Derivaten erklärt sich jedoch nicht etwa – wie man von ihrer eigentlichen Funktion her annehmen sollte – als eine Reaktion auf die zunehmenden Marktrisiken. Vielmehr werden die derivativen Instrumente inzwischen zum weit überwiegenden Teil zu rein spekulativen Zwecken mißbraucht. Risiken werden ganz bewußt in Kauf genommen, um möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Die Problematik dieser Spekulationsdynamik veranschaulicht folgendes Beispiel: Ein ängstlicher Daimler-Aktionär möchte sich für den Rest des Jahres vor Kursverlusten schützen, um keinerlei Einbußen verzeichnen zu müssen, selbst wenn die Kurse tief in den Keller fallen. Deshalb sucht er einen Geschäftspartner, der sich verpflichtet, einen Teil seiner Daimler-Papiere im Dezember zum Preis von heute zu übernehmen – egal, was bis dahin passiert. So kommt es zu einem “Aktienfuture“-Geschäft. Doch denkt der Geschäftspartner nicht im Traum daran, jemals Daimler-Aktien zu kaufen. Er will nur spekulieren. D.h., er will den Aktienfuture so schnell wie möglich zu einem höheren Preis wieder loswerden. Das funktioniert, wenn es einen anderen Spekulanten gibt, der zum Ende des Jahres einen so hohen Daimler-Kurs erwartet, daß das Recht, die Aktien zum Preis von heute kaufen und teurer weiterverkaufen zu können, für ihn Gold wert ist. Dem Daimler-Aktionär könnten die Geschäfte anderer “mit seinem Risiko“ eigentlich gleich sein, denn sein Kontrakt gilt – unabhängig davon, wer ihn am Ende besitzt – auf jeden Fall. Dennoch ist der Daimler-Aktionär die wirklich tragische Figur in dem Stück. Seine Suche nach Sicherheit entpuppt sich als die Ursache der Gefahr, vor der er sich zu schützen glaubt: An den Börsen werden weltweit aufgrund gewaltiger Spekulation viel mehr Kontrakte zur Sicherung von Aktien(kursen) gehandelt als Aktien, so daß die Kurse um ein weiteres instabiler werden. So bleibt dem Daimler-Aktionär nichts anderes übrig, als für seine restlichen Aktien erneut ein Sicherungsgeschäft abzuschließen – und so die Teufelsspirale eine Stück weiter zu drehen. Ein Entrinnen scheint unmöglich.

 

Die Ent“stoff“lichung der Ökonomie

Kurioserweise werden die an sich sinnvollen Sicherungsinstrumente somit aus Spekulationsmotiven pervertiert und das den Finanzmärkten ohnehin schon innewohnende Risiko um ein Vielfaches erhöht. Es findet gewissermaßen eine doppelte Abstraktion statt: Die von realen Transaktionen weitgehend losgelösten Finanzgeschäfte geben einem übergestülpten Spekulationskreislauf Nahrung, wobei dessen Umfang bei weitem den Wert der zugrundeliegenden Sicherungsgeschäfte und sogar die weltweite Geldmenge übersteigt. Die primäre Funktion des Geldes, den realwirtschaftlichen Produktionsprozeß und die damit verbundenen Geschäfte zu fördern, tritt immer stärker hinter einer Verselbständigung der finanziellen Kreisläufe zurück.

Diesen Tatbestand machen vor allem die internationalen Devisenmärkte deutlich. Nur knapp zwei Prozent ihres durchschnittlichen Tagesumsatzes von zur Zeit etwa 1,26 Billionen US-Dollar dienen der Finanzierung aller Im- und Exporte. Die übrigen 98 Prozent bestehen aus Spekulationsgeschäften. Somit belaufen sich die spekulativen Kapitalströme allein an den Devisenmärkten auf das 50-fache des gesamten Welthandels – die Finanzwelt hat sich von der Welt der Waren und Dienstleistungen abgekoppelt.

 

Droht ein Kollaps der Weltwirtschaft?

Die von ihrer stofflichen Grundlage weitgehend abgelöste Finanzwelt führt nicht nur längst ein Eigenleben – vielmehr können mit ihrer “Virtualisierung“ unbestritten auch schwerwiegende Folgen für die Realwirtschaft einhergehen. Ein wesentlicher Grund hierfür ist das paradoxe Verhalten der Akteure an den internationalen Finanzmärkten. Da die Spekulationen mit den Derivaten nicht der Risikominderung dienen, sondern längst Selbstzweck geworden sind, gilt das Interesse der Finanzjongleure konsequenterweise auch nicht mehr der Analyse ökonomischer “Fundamentaldaten“ wie etwa der Konjunkturlage einer Volkswirtschaft. Statt dessen spielen Erwartungen und somit letztlich psychologisches Geschick eine führende Rolle. Die Marktakteure verlassen sich nicht auf langfristig gültige wirtschaftliche Kennziffern, sondern auf Erwartungen, die von eher kurzfristiger Natur, da sie auf die neuesten Nachrichten sofort reagieren und somit rapide umschlagen können. Sowohl die Erwartungslastigkeit als auch die Kurzfristorientierung haben einen überaus destabilisierenden Einfluß auf die Finanzmärkte. So verursachte Anfang der 80er Jahre die – ökonomisch völlig irrelevante – Meldung, Präsident Reagan habe ein Nasenkarzinom, einen beträchtlichen Einbruch des New Yorker “Dow Jones“-Aktienindex.

Ein weiteres Beispiel für die Widersprüchlichkeit der Verhaltensmuster der Spekulanten ist der sogenannte “Herdentrieb“. Die Furcht, schlechter abzuschneiden als andere Marktteilnehmer, kann dazu führen, gänzlich irrationalen Marktbewegungen zu folgen und diese durch das eigene (“prozyklisch“ genannte) Agieren letzlich noch zu verstärken. Dieser Mitläufereffekt wird noch dadurch verstärkt, daß alle Marktteilnehmer für ihre Erwartungsbildung ähnliche Computerprogramme heranziehen. Dies läßt sie der Überzeugung sein, daß wenn nur alle genügend Kapital auf dasselbe “Pferd“ setzen, sich der Kurs schon in die gewünschte Richtung bewegt. Ein solcher Fall ereignete sich 1987, als zigtausend Börsenhändler weltweit gemeinsam auf steigende Aktienkurse spekulierten. Als sich diese Kursphantasie jedoch nicht erfüllte und die Aktien – zunächst nur geringfügig – sanken, begannen die Spekulanten aus Angst und wegen Finanzierungsproblemen zu verkaufen, um zu retten, was noch zu retten war. Durch diese Verkaufswelle gerieten die Aktien immer stärker unter Druck und rissen immer mehr Finanzakteure mit in den Abwärtsstrudel. Am Ende sah sich die (Finanz-)Welt mit dem schwerwiegendsten Börsencrash seit dem “Schwarzen Freitag“ von 1929 konfrontiert.

Jedoch zeigt der Fall “Baring“ (siehe nebenstehenden Kasten), daß man nicht mit dem Trend rennen muß, um Milliardenverluste zu machen und die internationalen Finanzmärkte in einen Schockzustand zu versetzen. Denn die Derivate erleichtern es den Spekulanten, unüberschaubar große Risiken einzugehen. Und da Derivate im Prinzip nichts anderes sind als

Desaster ohne Vorwarnung:

Binnen weniger Wochen schaffte es der 28-jährige Geldhändler Nick Leeson, seinen Arbeitgeber, die 233 Jahre alte, renommierte englische Privatbank “Baring“, in den Ruin zu stürzen. Leeson, der schon seit einigen Jahren im Geschäft war, hatte es aufgrund einer guten “Spürnase“ für Marktentwicklungen zum wichtigsten Spekulanten der Baring-Niederlassung in Singapur und zu einem Jahresgehalt von einer halben Million Mark gebracht. Zum Verhängnis wurden dem Yuppie (und “seiner“ Bank) Termingeschäfte auf den führenden Tokioter Aktienindex “Nikkei 225“. In der Erwartung, daß dieser steigen werde, hatte Leeson schon 1994 mehr als 20.000 Futures gekauft, um diese kurz vor ihrem Auslaufen am 15. März mit Gewinn weiterzuverkaufen. Nicht auf seiner Rechnung hatte Leeson jedoch das Erdbeben im japanischen Kobe, das den Aktienindex einbrechen ließ. Die Gefahr eines möglichen Verlustes witternd, schloß Leeson immer riskantere Geschäfte ab – in der Hoffnung auf die Wende. Letztere blieb jedoch aus, und ein finanzielles Debakel war nicht mehr abzuwenden. Deshalb tauchte Leeson Ende Februar – also zwei Wochen, bevor die Fehlspekulation herausgekommen wäre – einfach unter. Der von ihm anfänglich hinterlassene Verlust von 1,15 Milliarden D-Mark nahm tagtäglich weiter zu, weil der Nikkei nach Bekanntwerden der Krise einen weiteren Kurssturz erlitt. Da der Gesamtverlust von 1,6 Milliarden D-Mark bei weitem das Eigenkapital der Bank überstieg, mußte Baring Konkurs anmelden.

Wetten auf die Zukunft, ziehen sie auf magische Weise Hasardeure an: Je öfter Spieler mit kleinem Einsatz große Profite machen, desto sorgloser werden sie. Ein solch unrühmliches Kapitel schrieb Nick Leeson.

Fehleinschätzungen eigener Risikopositionen, das Herdenverhalten und schockartige Erwartungs- oder Marktpreisveränderungen können allesamt zum Ausfall einer großen Anzahl von Marktteilnehmern oder dem Platzen spekulativer Blasen führen. Derart auf einzelnen Märkten verursachte Krisen können sich über Domino- und Ansteckungseffekte weltweit ausbreiten und ein systembedrohendes Ausmaß annehmen. Angesichts der zahlreichen Börsen- und Bankenkrisen des internationalen Finanzsystems in der jüngeren Vergangenheit ist ein solcher Super-GAU des internationalen Finanzsystems keineswegs auszuschließen. Die Folgen, die ein derartiger Kollaps für die Weltwirtschaft als Ganzes hätte, lassen sich nur schwer erahnen – in jedem Fall aber wären sie katastrophal.

 

Die Wirkungsweisen vom Geld im Überfluß

Keineswegs aber bedarf es erst einer solchen Horrorvision, um die nachweislich negativen Rückwirkungen des Geschäftsgebarens an den Finanzmärkten auf die Realökonomie deutlich zu machen. Zwar wird unter Verweis auf den Börsencrash von 1987, in dessen Folge die befürchteten verheerenden Konsequenzen für die Weltwirtschaft glücklicherweise weitgehend ausblieben, argumentiert, dieser habe nur “Spielgeld“ und nicht etwa Geld für realwirtschaftliche Investitionen vernichtet. Jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, daß die globalen Finanzmärkte mit ihren fiktiven Geschäften Geldbestände binden, die ansonsten einer “produktiven“ Verwendung zugeflossen wären. Solange reine Spekulationsgeschäfte höhere Renditen abwerfen als die sogenannten “Sachinvestitionen“, wird Kapital in immer größerem Umfang im Dickicht des weltweiten Finanzdschungels versickern. Gemäß der “Kreislaufwirtschaft“ dieses in sich geschlossenen “Biotops“ werden erzielte Spekulationsgewinne erneut und unmittelbar einem spekulativen “Recycling“ zugeführt. Ein derart expandierender und sich verselbständigender Finanzsektor, so der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger James Tobin, bewirkt langfristig Produktions-, Beschäftigungs- und Wohlfahrtsverluste im realen, stofflichen Sektor. Und da Geld derjenige wirtschaftliche Produktionsfaktor zu sein scheint, mit dem sich am besten (und am “unproduktivsten“) Geld verdienen läßt, könnten sich diese sogenannten “Entzugseffekte“ in immer stärkerem Maße zu Lasten der Realökonomie auswirken. Dieser Trend läßt sich bereits seit vielen Jahren an der Bilanz der “Siemens AG“ ablesen:

“Die einzige Ressource, mit der sich heute Geld verdienen läßt, ist Geld. Deshalb leben wir heute in der kapitalistischsten Zeit, die je existierte.“

Hans-Jörg Rudloff, Schweizer Bankier (1996)

Deutschlands zweitgrößter Konzern “erwirtschaftet“ einen Großteil seines Gewinns nicht etwa durch den Verkauf von Atomkraftwerken oder Computern, sondern vielmehr durch die Geldgeschäfte seiner Finanzabteilung – weshalb der Weltkonzern mitunter auch als “die einzige deutsche Bank mit eigener Elektroabteilung“ bezeichnet wird.

Ein weiteres negatives Begleitmoment der vagabundierenden Kapitalströme liegt darin, daß das ihnen zugrundeliegende Spekulationsmotiv realwirtschaftliche Entwicklungen zu brechen und gar umzukehren vermag. Für die Realökonomie wichtige “Preise“ wie insbesondere Wechselkurse und Zinsen sind mitunter nicht mehr realwirtschaftlich, sondern spekulativ bestimmt. Somit gelangen stoffliche Phänomene wie Produktion und Beschäftigung unter den Einfluß des finanziellen Sektors – letzterer tritt aus der ihm zugedachten “Neutralität“ hervor und degradiert die Realsphäre zum bloßen Signalempfänger. Aus dieser dramatischen Gewichtsverlagerung resultieren gleich zwei volkswirtschaftlich schädliche Konsequenzen. Erstens führt das “Unwesen“ der Spekulanten zu einer “Fehlallokation“ produktiver und finanzieller Ressourcen. Beispielhaft hierfür stehen die Devisenmärkte, an denen aufgrund riesiger Spekulationswellen unrealistische Wechselkurse entstehen können, die Produkte und Dienstleistungen eines Landes künstlich verbilligen bzw. verteuern. Angesichts dieser verzerrten Preissignale kann etwa Kapital nicht so eingesetzt werden, daß es volkswirtschaftlich den größtmöglichen Nutzen erbringt.

Zweitens führt die Fähigkeit der Finanzmärkte, wichtige wirtschaftspolitische Steuerungsinstrumente zu beeinflussen, zu einer Entmachtung der Politik. Denn bestimmen die Spekulanten z.B. die Wechselkurse, dann ist weder sowohl eine nationale wie auch eine international koordinierte Währungspolitik kaum mehr möglich. Für die Geldpolitik, die sich außerstande sieht, etwa die Zinsen und die Geldmenge zu steuern, gilt ähnliches. Allein der tägliche Umsatz der Devisenmärkte ist zehnmal größer als die Devisenreserven der zehn ökonomisch wichtigsten Länder der Erde. Deren Zentralbanken bzw. Regierungen können angesichts dieser Relationen kaum noch etwas ausrichten, um stabilisierend auf die Devisenmärkte einzuwirken. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Marktakteure einen nicht unwesentlichen Teil des wirtschaftspolitischen Machtpotentials an sich gerissen haben.

Die aufsehenerregende “Tequila-Krise“, die sich im Dezember 1994 in Mexiko ereignete, ist hierfür ein beredtes Beispiel. Mittels umfangreicher “Investitionen“ in mexikanische Staatsschuldverschreibungen hatten ausländische – insbesondere US-amerikanische – Spekulanten für einen Boom an den dortigen Finanzmärkten gesorgt. Als die Anleger diese Gelder aufgrund innenpolitischer Probleme in Mexiko, die sie in ihren Erwartungen nicht berücksichtigt hatten, unvermittelt abzuziehen begannen, drohte das “Musterland“ Mexiko erneut international zahlungsunfähig zu werden. Die mexikanische Regierung vermochte dieses ökonomische Beben lediglich ohnmächtig zur Kenntnis zu nehmen, da sie auf das Verhalten der Marktakteure keinen Einfluß nehmen konnte. Nur ein historisch einmaliges “Rettungspaket“ von Internationalem Währungsfonds und US-Regierung in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar konnte den lateinamerikanischen “Tiger“ (wie auch US-amerikanische Investitionsfonds) vor dem Konkurs retten. Dennoch leidet Mexiko noch heute an den unmittelbaren Folgen: Das Bruttosozialprodukt sank mit etwa sieben Prozent beträchtlich, und die Arbeitslosigkeit schnellte um mindestens eine Million nach oben.

 

Es ist fünf vor Zwölf: höchste Zeit für die Politik!

Die beträchtlichen Gefährdungspotentiale, die von den internationalen Finanzmärkten in ökonomischer wie in politischer Hinsicht ausgehen, werfen unweigerlich die Frage auf, wie es um gesetzliche Regulierungen bestellt ist, die den drohenden Gefahren Einhalt gebieten könnten. Das Augenmerk richtet sich in diesem Zusammenhang naturgemäß auf die Politik – und zwar sowohl auf die nationalstaatliche wie auf die suprastaatliche.

 

Die Finanzmärkte als “Nebenregierung“

Zunächst ist festzustellen, daß es “die“ Politik selbst war, die durch die Verabschiedung entsprechender Gesetze die Liberalisierung und Deregulierung der jeweils nationalen Finanzmärkte vorangetrieben hat, so daß diese zu einem einzigen, den gesamten Globus umspannenden Markt zusammenwachsen konnten. Hieraus resultiert letztlich der Tatbestand, daß wir uns heute einem Finanzsystem gegenübersehen, dessen Handlungsspielraum größer ist als der politische Raum seiner Kontrolle. Auf die Globalisierung der Finanzmärkte folgte zwangsläufig die Entmachtung nationaler Politiken. Jedoch ist diese Entwicklung kein unabänderliches Schicksal: Sowohl auf nationaler als auch insbesondere auf internationaler Ebene können politische Maßnahmen getroffen werden, um die spekulativen Auswüchse und die damit einhergehenden schädlichen Auswirkungen zu unterbinden.

Jedoch haben sich die Einzelstaaten allesamt in ein sogenanntes “Gefangenendilemma“ manövriert: Vor dem Hintergrund des weltweiten Standortwettbewerbes meinen sie den verselbständigten Finanzmärkten gegenüber kein anderes als ein “marktkonformes“ Verhalten zeigen zu können. Statt sie gemeinsam zu regulieren oder gar einzuschränken, treten die Staaten als Konkurrenten gegeneinander auf. Diese fatale Situation erklärt sich aus folgenden Gründen. Zum einen entspricht dieses Verhalten dem neoliberalen Credo der Politik, dem zufolge das möglichst freie Walten einer konkurrenzorientierten Marktwirtschaft die größte gesellschaftliche Wohlfahrt hervorbringt. Zum anderen ist die überwiegende Zahl der Nationalstaaten selbst längst gegenüber den Finanzmärkten in einem Abhängigkeitsverhältnis gefangen, weil sie ihre hohen Staatsschulden nur über die internationalen Anleihemärkte finanzieren können. Somit üben die Finanzmärkte eine “disziplinierende“ Funktion auf die Politik aus. Hieraus erklärt sich auch, weshalb etwa die Steuern auf Kapitaleinkünfte weltweit immer stärker sinken: Aufgrund der Befürchtung, das mobile Kapital könne sich an lukrativere Standorte – und somit außer Landes – “flüchten“, ist die Politik stets um die Verbesserung seiner Verwertungsbedingungen bemüht. Statt dessen wird an anderer Stelle “gespart“ – etwa durch den Abbau von Sozialleistungen oder eine stärkere Besteuerung des Produktionsfaktors Arbeit.

Diese Entwicklung wurde unlängst aus berufenem Munde bestätigt. Nach

“Der Markt regiert, die Regierung verwaltet nur noch.“

Alain Juppé, französischer Premierminister (1996)

Ansicht von Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, haben die internationalen Finanzmärkte die Aufsicht über die nationale Politik übernommen. Der oberste deutsche Geldwächter sieht hierin jedoch nichts Anstößiges, sondern begrüßt diese Entwicklung als einen “wünschenswerten, da heilsamen Effekt“. Nicht zuletzt hieran wird deutlich, daß die Finanzmärkte inzwischen als ein Instrument begriffen werden, das zur Steuerung der Gesellschaft insgesamt dient. Anstelle der Demokratie als der “Herrschaft, die vom Volk ausgeht“ scheint die “Logik“ des Marktes unser aller Leben in immer stärkerem Maße zu bestimmen.

 

Perspektiven und Optionen

Trotz des offensichtlichen Kontrolldefizits bei den Finanzmärkten sind keine einschneidenden Schritte seitens der Politik in Richtung einer “Re-Regulierung“ zu erwarten. Vielmehr – und das zeigen die jüngsten Maßnahmen – beschränkt sich die Politik weitgehend auf kosmetische Korrekturen. Der in dieser Angelegenheit federführende “Baseler Ausschuß für Bankenaufsicht“ hat Ende 1995 lediglich die Offenlegung der Derivategeschäfte von Banken und Wertpapierhäusern zur Pflicht gemacht. Zudem sollen in Kürze Vorschriften erlassen werden, die die Geldhändler verpflichten, ihre Risikogeschäfte durch die Hinterlegung von Eigenkapital stärker abzusichern. Kritische Experten erachten diese Initiativen als gänzlich unzureichend.

Um die internationalen Finanzmärkte im Sinne einer ökonomisch wie politisch verantwortlichen Weise zu kontrollieren, erscheinen der Aufbau einer unabhängigen internationalen Finanzmarktaufsicht, welche die Fehlentwicklungen auf den Märkten aufzeigt und unterbindet, die Einführung einer Devisenumsatzsteuer (der sogenannten “Tobin-Tax“) zur Vermeidung von hoch risikobehafteten Derivategeschäften sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerflucht als die notwendigsten Aufgaben. Hinreichend wäre eine Reform jedoch erst dann, wenn zudem die internationale Währungsordnung auf neue, demokratisch legitimierte Füße gestellt würde. Entsprechende Alternativkonzepte sind bereits entwickelt. Die Bemühungen um einen solchen Richtungswechsel werden jedoch keine Früchte tragen können, ohne daß hierzu in aller Welt öffentliche Debatten geführt werden und so der Druck auf die Politik wächst. Es gilt, sich einzumischen...

Martin Gück

Hinweise

Literatur:

Matthias Albert und andere, Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft, Frankfurt/M. 1995

Jürgen Gaulke, Kursbuch Spekulation, Frankfurt/M. 1994

Wilhelm Hankel, Das große Geld-Theater. Über DM, Dollar, Rubel und Ecu, Stuttgart 1995

Jörg Huffschmid, Eine Steuer gegen die Währungsspekulation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/1995

Gregory J. Millman, Der heimliche Raubzug. Wie Geldhändler die Notenbanken ausplündern, Reinbek 1995

werkstatt ökonomie, Finanzderivate – Formen, Märkte, Crashs, Kontrollen (Werkstattbericht 14), Heidelberg 1996

 

Adressen:

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