László V. Szabó

"Hiersein ist herrlich"

Der Nachhall Nietzsche'scher Themen bei Rilke

 

Man is a stream whose source is hidden. (Ralph Waldo Emerson)

 

Will man der Feststellung Winfried Eckels Glauben schenken, dernach die heutige Rilke-Rezeption nach der Begeisterung in der Nachkriegszeit Aktualität und Konjunktur eingebüsst habe, dass man neben Einzeluntersuchungen vor allem struktureller Natur - zu denen Eckel vermutlicherweise auch Paul de Mans umfangreiche Rilke-Studie zählt - eine umfassendere Gesamtsicht von Rilkes Schaffen vermisst (Eckel 1997: 263), so zeigt diese Tendenz in eine der heutigen Nietzsche-Rezeption entgegengesetzte Richtung. (vgl. Gerhardt 1988: 189) Dies ist noch verwunderlicher, wenn man die Gemeinsamkeiten in der Gesinnung der Beiden bedenkt, worauf ja die Forschung nicht selten verwies. Indessen fragt man sich, ob die Möglichkeiten hermeneutischer Zugänge zu Rilke erschöpft (einer solchen Mutmaßung widerspricht Manfred Engels Buch über die Duineser Elegien aufs glänzendste) oder etwa überholt sind. Ist letzterer der Fall, so kann scheinbar auch unsere Interpretation nur auf eine relative Gültigkeit rechnen, die Rilkes Texte - die jedoch immer wieder den Anspruch auf etwas Durchhaltendes erheben und erheben werden - nicht besser, aber anders verstehen will.

Damit haben wir auch die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit zum Teil formuliert. Doch bedarf zugleich auch dieses Durchhaltende einer Grundlage, wonach die Interpreten verschiedenster Ansichten, Philosophen und Theologen nicht weniger als Literaten, unaufhörlich gesucht haben. Auch scheint der Ansatz, diese Interpretationsbasis mit dem Einbezug der Philosophie Friedrich Nietzsches aufzudecken kein bahnbrechendes Unternehmen zu sein. Ähnliche Versuche findet man ja bereits 1936 bei Fritz Dehn, der in seinem Aufsatz die ersten Parallelen zwischen Rilke und Nietzsche aufstellte, vor allem aber bei Erich Heller, der in seinem langen Essay neben dem Einfluss Nietzsches auf den jungen Autor des Florenzer Tagebuchs auch die Berührungspunkte zwischen dem Philosophen und den späteren Werken Rilkes, insbesondere den Elegien und Sonetten sorgfältig nachwies. Heller tritt hier gegen die traditionelle Trennung zwischen Dichten und Denken, sowie "die ungültige Unterscheidung zwischen Denken und Fühlen" (Heller 1975: 94), die auch das Urteil über Nietzsche und Rilke häufig bestimmte, auf, indem er die These T.S. Eliots, dernach der Dichter nicht unbedingt am Gedanken selbst, sondern viel mehr an dessen emotionalem Äquivalent interessiert sei, überprüft, und die Brücke zwischen Dichten und Denken schlägt. Für Heller widerhallen die Schriften des jungen Rilke, Der Apostel (1896), Ewald Tragy (1896) und Christus-Visionen (1896-98) "vom Gehämmer und Gesprenge Nietzsches, ohne indessen auch nur eine Spur der Tiefe und Kompliziertheit von Nietzsches Denken und Fühlen zu verraten" (Heller 1975: 76); sie haben, meint er, Nietzsches Gedanken "weder assimiliert, noch verwandelt", sondern mit einem "Nietzscheanischen Gestikulieren" einfach nur nachgeahmt. Auch das Florenzer Tagebuch zeuge "in seiner verzückten Version des Künstler-Übermenschen" vom "Übermensch-Schall-und-Rauch der frühen Schriften", obwohl es bereits alle "Fäden" der Spätwerke beinhalte. (Heller 1975: 77)

Scheint der frühe Rilke für Heller bloß die Gesten Zarathustras grob nachgeahmt zu haben, so kann diese Position nicht weniger mit Zweifel betrachtet werden als die Behauptung Bruno Hillebrands, in Rilkes Frühwerk sei "Nietzsches Denken kaum aufspürbar", während erst im Spätwerk, in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus (1922), sich die "Profilierung einer Denklinie, die Nietzsche vorgezogen hatte" zeige. (Hillebrand 1978: 31) Rilke entbehrt zwar die Radikalität von Nietzsches Wert-Philosophie, es ist jedoch fragwürdig, ob sein religiöser Ansatz tatsächlich "unvereinbar mit Nietzsches Absage an den substanzlosen Gottesbegriff seiner Zeit" wäre. (ebd.) Denn eben die auch bei Rilke vorhandene immanente Metaphysik gestattet eine Neuinterpretation, die "Umwertung" des Gottesbegriffes, die bei Rilke in der Formel des werdenden Gottes kulminiert, und dabei Gott von jeder moralischen Vorstellung fern hält. Diese immanente Metapysik impliziert zugleich eine Bejahung (ein "Rühmen") alles Irdischen, das Dasein in seiner Totalität, was allerdings - und hier kann man Hillebrand zustimmen - viel mehr eine thematische Komparabilität der Schriften Nietzsches und Rilkes als eine bloße Einflussphilologie bedingt. (Hillebrand 1978: 32)

Die neuere Forschung hat zum einen die Einwirkung Nietzsches auf die frühen Schriften Rilkes unter die Lupe genommen, zum anderen neue Perspektiven der Untersuchung von thematischen Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Rilke aufgezeigt, die im gemeinsamen Erkenntnishorizont der Moderne und im Selbstverständnis, oder, wenn man will, dem "Reflexivwerden" (Zima 1997: 8ff.) der modernen Kunst wurzeln. Für eine Definition der Kunst der Jahrhundertwende und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist aber eine Auseinandersetzung mit Nietzsche kaum entbehrlich. So scheint es auch Manfred Engel plausibel, bei der Bestimmung des Epochenbegriffs der Moderne nicht etwa vom Monotheismus, sondern "von dem dualistischen Modell auszugehen, das Friedrich Nietzsche, einer der wichtigsten Patres der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts, entworfen hat: Im Reich der Moderne herrschen gleichberechtigt Apollo und Dionysos." (Engel 1986: 2) Auf Grund von Nietzsches Kunstauffassung resümiert Engel drei mögliche Paradigmen der modernen Kunst als metaphysischer Tätigkeit des Künstlers: Die "souveräne Artistik und Polyperspektivik" erlauben dem Künstler, sich jenseits festgeprägter Begriffe und Schablone zu begeben und vorgegebene Wirklichkeitsauffassungen mit frei erfundenen Metaphern, Metonymien usw. kreativ zu bereichern. (Engel 1986: 80) Die "Konstruktion und Herstellung von Sinnbezügen", die die moderne Kunst bezeichnet, entspricht einem geistigen Prozess der Wirklichkeitsordnung; die Kunst ist in diesem Prozess der Wissenschaft, Religion, Metaphysik überlegen, insofern sie das Apollinische mit dem Dionysischen verbindet. Mit den Nietzsche entnommenen Bezeichnungen "Ekstase, Reizflut, Rausch, Lebenssteigerung" skizziert dann Engel die Konzeption einer "rauschhaft-dithyrambischen Sprache", die einer "fremden, chaotischen, alogischen Wirklichkeit", einer dionysischen Welt also, Ausdruck zu geben vermag. (Engel 1986: 81)

Will man nun die Moderne als Suche nach Sinnzusammenhängen definieren, so bleibt sie auch der nach Erkenntnis strebenden Kunst nicht erspart. Generationen von Künstlern, Thomas Mann und Hermann Hesse, Rilke und Stefan George, Musil und Gottfried Benn orientieren sich dabei oft nach den Paradigmen Schopenhauers und Nietzsches. Die Nietzsche'sche Formel der Kunst als eine "eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen" (GT: Vorrede) gewährt durch ihre "ästhetische Formung eine elementare Sinngebung", sie bietet eine "beruhigende Reduktion von Fremdheit" (Engel 1986: 78), eine psychische Entlastung von der Absurdität des Daseins. Aber nicht nur macht die Kunst das Dasein erträglicher, sondern rechtfertigt es, wiederum einer Formel Nietzsches entsprechend, als ästhetisches Phänomen: "Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt gerechtfertigt." (GT: Vorrede) Die Kunst ist dem Verstand überlegen, denn sie eröffnet statt einer lebensfremden Spekulation die Dimension des Dionysischen, einer Welt, wo der ekstatische Rausch und die gesteigerten Lebenskräfte den Schein individuellen Seins zerreißen. Der echte Künstler ist ein dionysischer Künstler, der hinter diesen Schleier Majas zu dringen und aus dem Grund des Daseins - in jeder Bedeutung des Wortes - zu schöpfen vermag. Die Dichtung wird unter dem Einfluss Nietzsches und der Lebensphilosophie keine romantische Flucht vor der Wirklichkeit, keine bloße Darstellung einer lebensfremden Traumwelt mehr, sondern dient der Bestrebung, die Welt des Traums "in die Welt hineinzubauen" (Hofmannsthal), damit neue Sinnbezüge in der Welt entstehen. Dem schöpferischen Subjekt wird der Platz im Weltverstehen eingeräumt, parallel mit dem Verzicht auf eine endgültige objektive Wahrheit. Die Künstler fühlen sich nunmehr befugt, auf die Lebenswirklichkeit einzugehen und ihr Sinn und Gestalt zu verleihen. Indem sie die bloße Mimesis äußerer Vorgänge aufgeben, entfernen sie sich von den Naturalisten (den "radikalen Realisten"), und versuchen die Seelenzustände nuanciert, oft mittels der Symbole zum Ausdruck zu bringen. Der deutsche Symbolismus musste allerdings nicht nur mit der Dichtungstheorie des Mallarmé-Kreises, sondern auch mit Nietzsches Philosophie rechnen, der ja den tradierten Dualismus von Natur und Geist aufhob, mithin Brücken zwischen Innen und Außen schlug.

Rilke, den die Wellen des Expressionismus nicht weniger berührten als die der Wirkung Nietzsches, war an dieser Revolution der Dichtung beteiligt, auch seine "Vorwand-Ästhetik" - so Engels aus der Vierten Elegie stammende Formel (Engel 1986: 106) - strebte einerseits eine Befreiung vom Empirischen zugunsten der Verselbstständigung des Dichter-Ich, andererseits aber ein Aufgehen dieses Ich im All-Leben an; auch er befand sich damit in einem Spannungsfeld, dass sich künstlerisch als sehr produktiv erwies. Seine dichterischen Anfänge sind allerdings noch durch eine mäßige Qualität seiner Dichtung geprägt, die sich an vorgegebene Klischees lehnt und in ihrer Einfalt eine gewisse Rückständigkeit einer nach dem späten 19. Jahrhundert orientierten deutschen Lyrik zeigt. Eine kurze zweite Phase seines Schaffens zeugt jedoch bereits von dem Einfluss der Décadencelyrik des Fin de siècle und des Ästhetizismus, deren Wirkung durch literarische und philosophische Begegnungen, die Lektüren eines Schopenhauer oder Nietzsche, Maeterlinck oder Verlaine noch verstärkt wurde. Gedichte wie Mir zur Feier und Dir zur Feier (ab 1897) bereiten dann eine dritte Phase vor biographisch eingeleitet durch die Begegnung mit Lou Andreas-Salomé, die auch im Leben Nietzsches keine geringe Rolle spielte, und ergänzt durch die Bekanntschaft mit der von Nietzsche beeinlussten Malerin Paula Modersohn-Becker -, die bis zum Buch der Bilder (1902) reicht. Die dritte Phase des Frühwerks wird durch eine Lebensbejahung nach dem Vorbild Nietzsches gekennzeichnet.

Wenn man aber den "Nachhall Nietzschescher Themen bei Rilke" in Anschlag bringen will, kann man sich mit den Gedichten des frühen Rilke kaum begnügen; die erwähnte dritte Phase zeigt ja auch eine Reihe von frühen Prosawerken, wo der Einfluss Nietzsches unverkennbar ist. Die Anfänge von Rilkes Nietzsche-Rezeption sind um 1895 anzusetzen: Belege dafür und Ausdruck davon sind Texte wie Der Apostel, Christus. Elf Visionen oder Ewald Tragy. Eine erneute, intensive Beschäftigung mit Nietzsche, verbunden mit dem Interesse für Jakob Burckhardt (von dem auch der junge Nietzsche begeistert war) und dessen Studium der italienischen Renaissance hinterließ ihre Spuren im Florenzer Tagebuch (1898). Taucht in diesen ersten Schriften Nietzsches Name explizit noch nicht auf (die Ausnahme bildet Ewald Tragy), so ist das erst in den Marginalien zu Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie (1900) der Fall. Aber auch der Samskola-Aufsatz (1904), betitelt nach einer von Rilke besuchten Schule in Schweden, in deren Lebensnähe er den Kontrast zu den Gesetzen "aus Stein" und die Erfüllung von seiner Forderung: "Immer soll, unter dem Vorwande der verschiedenen Fächer, vom Leben die Rede sein" (RW V, 679) sah, zeigt eine Verwandtschaft mit Nietzsches Kritik an den moralisch fundierten modernen Bildungsanstalten. Die Bejahung des Lebens, das Besingen des Irdischen, über dem das Motto "Hiersein ist herrlich" (Siebente Elegie) stehen kann, ist aber ein Hauptmerkmal auch der späteren Werke Rilkes, auf die man in diesem Bezug noch eingehen muss.

Man kann sich aber zunächst fragen, ob die Beziehungen Rilkes, des frühen wie des späten, zu Nietzsche in neuem Licht gezeigt werden könnten, damit auch die anfangs als Forderung erhobene Gesamtsicht entsteht. Eine Lösung wäre nun wohl die Gliederung Nietzsche'scher Themen, die bei Rilke eine Relevanz aufzeigen. Zu skizzieren wäre dann erstens ein Ansatz, der die von Nietzsche formulierten Denkfiguren Pathos der Distanz und Wille zur Einsamkeit vor allem beim frühen Rilke nachweist, zweitens die Neubegründung der Subjektivität als eine Art "Umwertung aller Werte" und die Rolle des Künstlers als höheren Menschen nach Nietzsches Proklamation vom Tode Gottes, drittens der Weg vom Rauschgott Dionysos zur Musikgottheit Orpheus, der auch Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen mit Rilkes Formel der neuen Unendlichkeit verknüpfen kann.

 

Pathos der Distanz und Wille zur Einsamkeit

 

Nietzsches Formel vom "Pathos der Distanz" begegnet man etwa in Jenseits von Gut und Böse als Ausdruck der aristokratisch gefärbten "Erhöhung des Typus Mensch" aber auch der "Selbstüberwindung des Menschen". Denn:

Ohne das Pathos der Distanz [...] könnte auch jenes andere geheimnisvollere Pathos gar nich erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‘Mensch’, die fortgesetzte ‘Selbstüberwindung des Menschen’, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. (JGB: 257)

Das, was Nietzsche als Kennzeichen von echten (also nicht moralisch orientierten) Philosophen und Künstlern betrachtet, ist eine Distanz des Erkenennden von den Mitmenschen, den Massen, deren festgeprägte Einstellung den Blick auf die Zukunft verblendet. Ein so angelegter "höherer Mensch" distanziert sich mit Leidenschaft von den tradierten Welt- und Wertvortellungen, um, bei aller Gefahr der Entdeckung, neue Horizonte der Erkenntnis zu erobern. Er wird von einem "Verlangen nach Größe und Dauer" (Gerhardt 1988: 5) getrieben, wo selbst dem Wort "Trieb" im Sinne der Lebensphilosophie Nietzsches eine vorrangige Bedeutung zukommt. Der vornehme Mensch leidet an der Gemeinheit der Massen und wählt, dem Rat Zarathustras, dieser Präfiguration des Übermenschen folgend, die Verachtung und Einsamkeit: "Fliehe, mein Freund in deine Einsamkeit [...]! Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft weht!" (ZAR I, Von den Fliegen des Marktes) Derselbe Wille also, der ihn von der "Herde" entfernt, treibt ihn in eine unausweichliche Einsamkeit, wo er seine Verachtung des Allzumenschlichen, des Mittelmäßigen deklamieren kann.

Der Fremde in Rilkes früher Erzählung Der Apostel (1896), dessen graue Auge leuchtet, "als ob ein fernes, schimmerndes Ziel sich beständig darin spiegelte", überrascht die schwatzende Bonhomie der Gasttafelgesellschaft mit seiner imponierenden Erscheinung und ostentativen Schweigsamkeit. Seine bloße Präsenz ist eine Herausforderung für seinen Antipoden, die Menge, deren Mittelpunkt, eine geistreiche Baronin, die Gesellschaft zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung auffordert, um ihr Mitleid mit den Opfern eines Brandunglücks zu demonstrieren. Die steigende Spannung kulminiert in der direkten Anrede des Fremden, auf dessen Mithilfe sie rechnet, dessen kategorisch ablehnendes, pathetisch-distanziertes Verhalten aber einen "Apostel" der Lehren Nietzsches entlarvt:

Sie tun ein Werk der Liebe; ich geh in die Welt, um die Liebe zu töten. Wo ich sie finde, da morde ich sie. Und ich finde sie oft genug in Hütten und Schlössern, in Kirchen und in der freien Natur. Aber ich folge ihr unerbittlich. Und wie der starke Lenzwind die Rose bricht, die sich zu früh hervorgewagt, so vernichte ich sie mit meinem großen, zürnenden Willen: denn zu früh ward uns das Gesetz der Liebe. (RW IV, 454)

Der zürnende, herkömmliche Werte zerstörende Wille ist bekanntlich ein Attribut Nietzsche'scher Gesinnung, ein Ausdruck somit des Pathos der Distanz, das das Mitleid, das "Werk der Liebe" im Sinne einer demonstrativen Beihilfe, als Ausdruck (allzu)menschlicher Schwäche und Unreife abstempelt. Der sich als eine Art Übermensch, mithin als ein großer Verachter des Allgemeinmenschlichen darstellender Fremde, dessen Lächeln Spott verbirgt, deklamiert das Unzeitgemäße der christlichen Liebe, die zur Zeit messianischer Predigten die Menschen unvorbereitet fand: "Die Menschen waren unreif, als der Nazarener zu ihnen kam und ihnen die Liebe brachte." Die von Christus - den Nietzsche immerhin "den edelsten Menschen" nannte (MA I: 475), dessen Welterlösung jedoch "misslungen" sei (MA II: 98) - verkündete Nächstenliebe und das von ihr implizierte Mitleid und Erbarmen erscheinen hier ganz im Sinne Nietzsches als Ausdrücke der Schwäche, während eine echte Fähigkeit zur Liebe nur einem "Geschlecht von Giganten" zugesprochen wird. Die Liebe, wie sie vom Fremden verstanden wird, ist für die Schwachen ein "Ruin", während Mitleid, Gnade und Nachsicht als die schlimmsten "Gifte in unserer Seele", d.h. der Stärkeren, bezeichnet werden. (RW IV, 455) Mit der Befolgung der christlichen Lehre habe man einem "wahnwitzigen Befehle gehorcht" (RW IV, 456), was eine entartende Auswirkung auf die "Herrenmoral" der Starken hatte: "Wir haben die Dürstenden aufgesucht, die Hungernden, die Kranken, die Aussätzigen, die Schwachen, die Elenden, und - wir sind selbst dabei dürstend, hungernd, krank, elend geworden!" Nicht anders meinte es ja auch Nietzsche in seiner Genealogie mit dem Auseinanderhalten der "Aufgaben" von Gesunden und Kranken durch das Pathos der Distanz:

Dass die Kranken nicht die Gesunden krank machen [...], das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein - dazu aber gehört vor allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken abgetrennt bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken verwechseln. Oder wäre es etwa Ihre Aufgabe, Krankenwärter oder Ärzte zu sein? [...] - das Höhere soll in alle Ewigkeit auch die Aufgaben auseinander halten! (GM III: 14)

Der Apostel der Verachtung Nietzsche'scher Ausprägung weist den "Weihrauch des Mitleids" ab und erklärt die Menge, ganz im Gegensatz zu den aus Ressentiment gehassten "Großen", für den Fortschritt allerdings nicht in technischem Sinne, sondern als Entwicklung des höheren Menschen unfähig:

Nie kann die stumpfe, vielsinnige Menge Träger des Fortschritts sein; nur der Eine, der Große, den der Pöbel hasst im dumpfen Instinkte eigener Kleinheit, kann den rücksichtslosen Weg seines Willens mit göttlicher Kraft und sieghaftem Lächeln wandeln. (RW IV, 457)

Der Fremde selbst sieht sich, wie später der Autor des Florenzer Tagebuchs die Künstler in der Nachfolge Nietzsches, als einen zur Entwicklung fähigen und entschlossenen höheren Menschen, der auf dem Weg des Reifwerdens und der Vervollkommnung von (und hier klingt Nietzsche am deutlichsten an) "Willen und Macht" geleitet wird: "Auch wir sind unreif, nicht überreif, wie ihr im Dünkel ihr so gerne wähnet. Darum vorwärts! Sollen wir nicht höher steigen dürfen in Erkenntis, Willen und Macht?" (RW IV, 458) Der pathetische Redner verkündet schließlich "ein ewiges Reich" und sieht nach seiner Tyrade "wie ein Gott aus" - als ein diesseitiger allerdings, der als Vergöttlichung des über sich selbst erhobenen Menschen die Ideen Nietzsches verkörpert. Dass der kaltblütige, gefrässige Bankherr am Ende der Erzählung den fremden Apostel einfach als einen Narren abtut, überrascht nicht, wenn man sich nur die, wahrscheinlich auch Rilke bekannten, ersten Reaktionen von Nietzsches Zeitgenossen auf die pathetischen Ausbrüche des Philosophen vor Augen hält.

Verachtung als Pathos der Distanz kommt auch in der anfänglichen Chrakterisierung des jungen Ewald Tragy in der Erzählung von 1898 mit demselben Titel zum Ausdruck: "Und Tragy verachtet sie. Er verachtet überhaupt alle diese Leute." (RW IV, 512) Diese Haltung der Titelgestalt ist zugleich eine Selbstdefinition, die die Wertsetzung "Geld", so bestimmend für die Weltsicht des Vaters und der Mitmenschen, mit ironischer Distanz betrachten muss: "Man liegt vor den Leuten auf dem Bauch, das ist der Weg. Und man kriecht auf dem Bauch zum Geld, das ist das Ziel. Nicht?" (RW IV, 517) Doch Thomas Manns Tonio Kröger ähnlich befindet sich der dichterisch veranlagte Tragy zwischen dem Wunsch und der Unmöglichkeit der Zugehörigkeit zum "Strome" der Welt.

Er möchte so gern einer von ihnen sein, irgendeiner im Strome, und dann und wann glaubt er es fast. Bis eine Kleinigkeit geschieht, welche beweist, dass sich nichts an dem Verhältnis geändert hat: er auf der einen Seite und alle Welt drüben. Und da lebe nun einer. (RW IV, 545)

Tragys Ironie über den Beruf des Dichters, wie dieser von den Bildungsphilistern gesehen wird - "Was soll man sagen? Nur Dichter? Das ist einfach lächerlich." (RW IV, 531) -, erinnert an Nietzsches Gedicht Nur Narr! Nur Dichter!, dessen Wahrheitsanspruch eben als Herausforderung der tradierten Moralgesetze galt. Die entlarvende Erkenntnis der Philistermoral, der "falschen Himmel" (Nietzsche) verstärkt nur das Pathos der Distanz des sich als sein "eigener Gesetzgeber" definierenden höheren Menschen, der keine obere Instanz, nicht einmal diejenige Gottes über sich anerkennt. "Ich bin mein eigener Gesetzgeber und König, über mir ist niemand, nicht einmal Gott." (RW IV, 532) Der Verlust jeden Haltes, der in der Feststellung "Ich habe Alles verloren [...], auch Gott" (RW IV, 534f.) zum Vorschein kommt, prädestiniert aber den Sich-selbst-Gewählten zum Schaffen neuerer Werte. Doch das unerschütterliche Pathos und die feste Selbstüberzeugung des sich bekennden Künstlers im Florenzer Tagebuch fehlen hier noch; viel mehr wird Tragys Kunst in einen lebensfremden Ästhetizismus, einen, in Nietzsches Formulierung, "Nihilismus der Schwäche" (KSA 12, 367), münden. Die Inkompatibilität dieser Einstellung mit der Lebensphilosophie à la Nietzsche wird vom "übermenschlich" geprägten Herrn von Kranz, der sich mit "wie ich Nietzsche überwand" rühmt, entlarvt: "Dunkle Umrisse vor lichtem Hintergrund, nicht wahr? Verschleierte Bilder - nicht? Aber im Leben - Symbole, oh - lächerlich." (RW IV, 549) Während der Nietzsche-alter ego Kranz seinen Austritt aus der Kirche mit der These motiviert: "Einer Gemeinschaft anzugehören, deren Gesetze man nicht erfüllt, ist eine Untreue gegen sich selbst..." (RW IV, 552), die Aufgaben der Kunst in einem "Epos der Zukunft" sieht und den Bedarf nach einer "Höhenkunst", nach "Zeichen, [...]die auf allen Bergen flammen von Land zu Land - eine Kunst wie ein Aufruf, eine Signalkunst -" (RW IV, 555) proklamiert, empfindet der zu Schwäche und Nihilismus geneigte Tragy seine Verse als "eben krank". Mehr noch, er selbst wird krank und das Symptom seiner Krankheit wird ein müdes, resigniertes Lächeln. Kranz steht auch der Jude Thalmann gegenüber, der, um gleichsam Nietzsches Ansichten über die jüdische Moral zu bestärken, eine Art Negation aller Kunst und das Mitleid mit der ganzen Welt predigt und dadurch den jungen Künstler "aus einem bösen Traum" erweckt. (RW IV, 559) Tragys Konklusion: "Wir sind eigentlich für den Traum gemacht, wir haben gar nicht die Organe für das Leben, aber wir sind eben Fische, die durchaus fliegen wollen" (RW IV, 563f.) zeigt schließlich weniger eine Identifikation Rilkes mit Nietzsches Kunstlehre als eine eigene Vorstellung über die Rolle der Kunst, die den Weg zum Leben nicht finden kann. Die Konfrontierung mit Nietzsche drückt sich vor allem in der Gegenüberstellung von Kranz und Tragy aus, in der man mit Nietzsches Begriffen den Kontrast Schwäche-Stärke sehen kann.

Parallel mit dem Schwinden der Gesten Zarathustras nimmt die Verwandtschaft zwischen den Ideen und inneren Haltungen von Rilke und Nietzsche zu, die zur Zeit der Duineser Elegien am deutlichsten zu erkennen ist. Ein Hauptmerkmal dieser inneren Verwandtschaft ist ja die für den modernen Dichter chrakteristische Einsamkeit und Heimatlosigkeit, aber zugleich auch die Bestrebung nach deren Überwindung durch etwas Universelles und Überpersönliches, sei es der Übermensch, der Künstler, oder eben, wie in Rilkes Elegien, der "Engel" oder der "Held", die eine "Substanzgleichheit" mit dem Menschen (Hähnel 1984: 104) zeigen. Die Gegenposition zur Massenvulgarität, vor deren pathetischen Verachtung auch Malte sich schwer zu schützen weiß - "que je méprise" (RW VI, 757) -, die Umwertung festgeprägter Werte lässt ebenso auf Gemeinsamkeiten schließen wie die oft ähnlich klingende Rhetorik und der Sprachstil. Beweise dafür, wiewohl zerstreut, findet man bei Rilke immer wieder. Auch da, wo man es wohl weniger ahnen würde, wie etwa im anscheinend christlich geprägten Buch vom mönchischen Leben (1899), trifft man auf eine Art Proklamation des Willens nach der Art Zarathustras:

Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten

auf dem Wege zur Tat;

und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten -

wenn etwas naht -

unter den Wissenden sein,

oder allein (RW III, 315).

Auch die Einsamkeit wird pathetisch als ein Mittel zu einer neuen Erkenntnis bezeichnet:

Denn nur dem Einsamen wird [Gott] offenbart;

und vielen Einsamen der gleichen Art

wird mehr gegeben als dem schmalen Einen. (RW III, 332)

Man hat schon behauptet, die Milde von Rilkes Äußerungen unterscheide ihn von dem gebieterischen Ton Nietzsches, ein Unterschied ergreifbar nach Heller in den Symbolen des Abends und des Mittags; die beiden seien letztendlich "nur zwei Stimmungen desselben Herzens", so dass die "geflüsterte Nachricht" und die "dramatische Offenbarung" (Heller 1975: 79) im Grunde genommen dasselbe aussagen. Doch an dramatischer Offenbarung fehlt es, wie auch die obrigen Zeilen bezeugen, bei Rilke kaum. In Rilkes späteren Werken kommt eine Art "abendlicher Religion" zum Ausdruck, die die Schärfe der Tageslicht-Proklamationen Zarathustras zwar nicht besitzt, doch ihren prophetischen Inhalt teilt. Darin kan mann Hellers brisanter Formulierung: "Rilke ist der heilige Franziskus des Willens zur Macht" (Heller 1975: 80) nur zustimmen.

 

 

Die Neubegründung der Subjektivität

 

Doch zur Zeit der Entstehung von Christus. Elf Visionen (1896-98) steht Rilke von der Frömmigkeit des heiligen Franziskus fern. Nietzsches Kritik am christlichen Glauben, der "in praxi die Lüge um jeden Preis" (AC: 47) sei, führte bekanntlich zur Entthronisierung der göttlichen Instanz als des obersten moralischen Gesetzes, mithin zum Abgrund des modernen Nihilismus, der mit nie zuvor gestellten Fragen drohte. Wenn in einer der Christus-Visionen Rilkes der Narr "wie der Mann am Kreuz" aussieht (RW III, 135), dann ist die christliche Lehre selbst in Frage gestellt, deren lebensfremde Moral vom "Erbarmen" antithetisch unterstrichen wird:

Ihr wollt ins Leben, und das bin ich nicht,

ihr müsst ins Dunkel, und ich bin das Licht,

ihr hofft die Freude, ich bin der Verzicht,

ihr sehnt das Glück und - ich bin das Gericht. (RW III, 137)

In den Worten des Malers wird dann die Möglichkeit einer Reevaluation des Glaubens an einen werdenden Gott angedeutet, der vom "Ruf der Menge" entbunden wird:

Da ward ich - Gott. Und nur der niebewusste

Gott könnte groß sein, der nicht folgen musste

dem ungestümen Ruf der Menge, die

ihn brünstig brauchte. (RW III, 142)

Schockierend für einen christlich eingestellten Leser ist eine "Die Nacht" übertitelte Stelle, wo Gottes Sohn seinen Zweifel am eigenen Gottsein zu einem Weib bekennt:

Was lachst du, Weib? So spei mir ins Gesicht,

ich weiß es, ich verdiene deinen Spott.

Und meine Reue, Nein, ich bin es nicht,

ich bin kein Gott!... (RW III, 151),

um schließlich eine stark Nietzscheanisch-antichristliche Folgerung zu ziehen:

Wir sind der ewge Erbfluch dieser Welt;

Der ewige Wahn ich - du die ewige Dirne. (RW III, 152)

Auch die Worte des im Judenfriedhof in Prag erscheinenden Christus, der "der arme Jude" ist, "nicht der Erlöser", sind voller Reue und Beschwerde bei dem grausamen Vater: Das "große Er", das der Gottessohn predigte, ließ den Gekreuzigten mit seinem Leiden allein, was Zweifel an seiner Existenz überhaupt weckt:

Und dann von tausend Erdensorgen schwer

stieg meine Seele in den hohen Himmel,

und meine Seele fror; denn er war leer.

So warst du niemals - oder warst du nicht mehr,

als ich Unsel ger auf die Erde kam. (RW III, 158)

Auf eine bittere Verzweiflung an der Gleichgültigkeit oder gar Inexistenz Gottes, die man wohl noch bei Dostojewski so prägnant vorfindet, folgen die Ausbrüche der Gefühle von Rache und Hass: Christus bittet den Rabbi um einen, an Nietzsche anklingenden Fluch, "dass ich des Himmels blaues Lügentuch/ mit seiner Schneide kann in Stücke reißen", ein Mittel, um "herben Hass zu stiften"; er will Pest und Seuche auf die Menschheit schicken, damit "die ganze Welt zugrund geht an der Liebe!". (RW III, 159)

Rilke wäre wohl ohne die vorangehende antichristliche Kritik Nietzsches zu diesem kompromisslosen Ausdruck der Erschütterung des überlieferten Gottesglaubens nie gekommen, was aber die Ästhetik der Visionen keineswegs beeinträchtigt. Der Autor der Elf Visionen bleibt auch hier ein Dichter par excellence, der gemäß den Anforderungen Nietzsches an die Kunst, alte Wahrheiten hinter sich lässt, um neue zu schaffen. Bei Rilke tritt allerdings nicht der Übermensch an die Stelle Gottes, viel mehr wird aber ein durch die Tradition der Moral versteinerter Gottesbegriff (etwa der grausame, rachsüchtige Gott) im Sinne eines - immanent, mithin diesseits - werdenden Gottes, der den Menschen, den Dichter insbesondere, zu seiner unaufhörlichen Verwirklichung braucht, neu interpretiert. Die Unerlässlichkeit des Subjekts für das Konzept des werdenden Gottes wird bereits im Gebet des Mönches im Buch vom mönchischen Leben offenbart:

Was wirst Du tun, Gott, wenn ich sterbe?

Ich bin Dein Krug, - wenn ich zerscherbe?

Ich bin Dein Trank, - wenn ich verderbe? (RW III, 334)

Wenn "Gott ist, so ist alles getan und wir sind triste", heißt es auch im ursprünglichen Schluss (betitelt Tolstoj) der Aufzeichnugen des Malte Laurids Brigge (RW VI, 967), und wenn sich Lew Tolstoj, "bangsam zu dem fertigen Gott entschloss, [...] zu dem verabredeten Gott derer, die keinen machen können und doch einen brauchen" (RW VI, 970), dann hat es der russische Meister aufgegeben, einen Gott im eigenen Innern zu bilden, betont Rilke. "Gott ist", heißt es in Malte, "nur eine Richtung der Liebe, kein Liebesgegenstand." (RW VI, 937) Der so verstandene Gott, von dem "keine Gegenliebe" zu erwarten sei, der "die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen", der "für die Schwachen ein Helfer war", ist für Malte - Nietzsche hätte es auch nicht anders formuliert - für die "Starken ein Unrecht." Auch in der letzten, sehr eigenartig erzählten, mehr Nietzscheanisch als biblisch geprägten Geschichte des verlorenen Sohns findet man eben einen solchen Starken, der vor Geliebt- und Bemitleidetwerden flüchtet. Mit einer "innige[n] Indifferenz seines Herzens" (RW VI, 938) befindet sich dieser vor dem Geheimnis "seines noch nie gewesenen Lebens" (RW VI, 939), das ihn anzieht und trotz der Liebe seiner Familie - "die nur ein schwaches Herz" hat (RW VI, 940) - in die Welt ruft. Nietzsches Zarathustra ähnlich, der statt Nächstenliebe die "Fernstenliebe" predigt, begreift der verlorene Sohn "sein an Fernen gewohntes Gefühl", das jedoch hier nicht ohne eine Gottesvorstellung konzipiert ist, sondern "Gottes äußersten Abstand" erkennen lässt. (RW VI, 943) Gott ist damit für Rilke nicht ein für allemal "tot", sondern einer Korrektur seines Verstehens bedürftig. Eben dies wäre nun die Aufgabe des Künstlers im Verständnis Rilkes: Die einer Umwertung aller Werte und dadurch einer Neubegründung der Subjektivität.

Zur deutlichsten Formulierung der Umwertung und Aufwertung der Rolle des Künstlers kam aber Rilke bereits in seinem Florenzer Tagebuch.

Das Florenzer Tagebuch (1898) ist das früheste unter den drei Tagebüchern des jugen Rilke und wurde, wie der Autor es selbst vorausschickt, als kein Reisehandbuch, "keine vollständige, lückenlose und chronologisch geschlichtete Sammlung" (FT: 15), sondern viel mehr als ein künstlerisch-subjektives Bekenntnis konzipiert, dessen Adressat Lou Andreas Salomé war. Den Anlass bot eine von Rilkes Reisen nach einem von Deutschen wie Goethe, Wagner oder Nietzsche oft aufgesuchten Land, Italien (1898), die, wie es noch mit seinen zahlreichen Reisen oft der Fall war, in seinen Aufzeichnungen ihren literarischen Niederschlag fand. Doch es sind nicht nur die unmittelbaren äußeren Reiseerlebnisse, die berühmten Denkmäler in Florenz und Rilkes in der prachtvollen Renaissancestadt gewonnen Eindrücke, die hier sprachlich gestaltet werden, sondern - wie auch später nicht selten, man denke nur an den Malte - auch die Leseerlebnisse des Dichters, die sich hier um Nietzscheanisch anklingende Reflexionen konzentrieren. Der Name des Philosophen wird allerdings nicht explizit ausgesprochen, doch die Form, Stil und Inhalt des Buches klingen stark an den Autor des Also sprach Zarathustra. Von einer bloßen Stilimitation, der man etwa Hermann Hesse nach der Erscheinung von Zarathustras Wiederkehr verdächtigte, kann man indessen kaum sprechen, wenn man auch einen gewissen Grad von Unterschied in der Originalität zwischen dem Tagebuch und den späteren Werken Rilkes feststellen mag. Tatsächlich legt Das Florenzer Tagebuch, wie wohl keine andere Schrift Rilkes, von einem starken Einfluss Nietzsches Zeugnis ab, der mit den ersten Nachweisen von Rilkes Nietzsche-Lektüren ab 1895 in Einklang steht. Auch der Name von Lou Andreas Salomé, die Nietzsche bereits 1882 kennenlernte, und die Rilke, in Einklang mit Zarathustras "Von Tausend und einem Ziele", mit "Du bist nicht ein Ziel für mich, Du bist tausend Ziele" anspricht, (FT: 112) bürgt für eine Übermittlung von Nietzsches Gedankenwelt, deren Funken die einzelnen Reflexionen des Dichters beim Schreiben des Tagebuchs entfachten. Die zur Sprache gebrachten Reflexionen sind indessen keine passiven Übernahmen von Nietzsches provokativen Formulierungen, ein solcher Verdacht selbst würde den ästhetischen Wert des Tagebuchs in Frage stellen und seinen Autor, wie viele andere, vom Philosophen beeinflusste Künstler seiner Generation, als einen bloßen Nietzsche-Epigonen herabwürdigen. Es reicht indessen einen Blick in die Passagen über die Florentiner Kunst, die keinen unerheblichen Teil des Tagebuchs ausmachen, zu werfen, um Rilkes eigenen Stil, der allerdings erst später zur vollen Reife gelangte, genießen zu können, diese essayartigen Überlegungen über eine Renaissancekultur, die auch Nietzsche kannte, über die er sich aber, im Gegensatz zur griechischen Antike, nie weitläufig ausließ. Man kann sonst von einem aphoristischen Stil des Tagebuchs sprechen, der auch die Werke Nietzsches, den Zarathustra inbegriffen, kennzeichnet, und der es dem "Gesamtkunstwerk" Nietzsches nähert. Hier kann man aber Rilke wieder keine Nachahmung vorwerfen, denn die einzelnen "Aphorismen" folgen nicht abrupt mitten in den Beschreibungen, sondern bilden einen integrierenden Teil im Fluss der Reflexionen. Ihr deklamativer Stil und thematischer Inhalt erinnern zum Teil an Nietzsche, sie werden aber von eigenen Ideen fortgesetzt und nehmen auch solche Grundgedanken vorweg, die beim späteren Rilke ihre vollständige Bedeutung gewinnen. Sie bilden somit den verbindenden Faden zwischen dem zwanzigjährigen Nietzsche-Begeisterten jungen Künstler und dem Autor der Sonette an Orpheus.

Die Neubegründung der Subjektivität zeigt sich im Florenzer Tagebuch folgendermaßen: Aus dem Erlebnis der Renaissance-Kunst, aber auch der Nietzsche-Lektüren erwächst die verabsolutierte Figur des einsamen Künstlers von übermenschlicher Größe, eine Art Künstlergott, der den toten Gott als diesseitiger Schaffender ersetzt. Rilke rühmt sich zwar nicht mit der "höchste[n] Art alles Seienden", (HW IV, S. 548) wie es Nietzsche in Ecce homo, auf seinen Zarathustra zurückblickend, tat, aber monumentalisiert das mit dem empirischen Ich nicht gleichgesetzte künstlerische Ich auf eine Weise, das es letzten Endes über jeder etablierten Konvention und tradierten Welt- und Wertvorstellung steht. Auch will Rilke keinen "Begriff des Dionysos selbst" (HW IV, S. 549) explizit zum Ausdruck bringen, doch scheint sein Idealbild des prophetisch angekündigten Künstlers eine dionysische Tiefe jenseits einzelner Erscheinungen und Sinnbilder zu verkörpern:

Es wird nichts sein außer ihm; denn Bäume und Berge, Wolken und Wellen sind nur Symbole gewesen jener Wirklichkeiten, die er in sich findet. Alles ist in ihm zusammengeflossen, und alle Mächte, die sonst zerstreut einander bekämpften, zittern unter seinem Willen. (FT: 113)

Auf Grund der stark an Nietzsche anklingende Rhetorik - "Mächte", "Willen" - und Symbolik - "Berge", "Wellen" - lässt sich Das Florenzer Tagebuch als ein Nachhall von Nietzsches Geburt der Tragödie und vor allem Also sprach Zarathustra lesen, welche Lesart aber Rilkes eigene Stimme nicht verkennen lassen darf: Diese Stimme wird ja später einen immer eigenartigeren Ausdruck finden, der weniger den Einfluss Nietzsches verrät, als höchstens auf eine kommensurable geistige Position beider schließen lässt.

Jede Kunst ist der Gegensatz der christlichen Lehre, die sie "ins Reich der Lüge verweist" - lautet eine der vielen Kunstdefinitionen Nietzsches (GT: Vorrede), die von der Hochschätzung solcher Künstler wie Goethe, Dostojewski oder Stendhal bis zur Verabschätzung solcher wie Carlyle oder George Sand, von seiner früheren Wagner-Begeisterung bis zu seiner späteren Wagner-Kritik reichen. Von der Kunst erhofft sich Nietzsche eine Befreiung von jedem Moralisieren, dem christlichen inbegriffen, einen Ausdruck dionyischer Stärke, so wie er sie in seinem Zarathustra verwirklicht zu haben glaubte. Der Künstler, der diesem Anspruch gewachsen ist, nimmt gleichsam die Rolle eines höheren Menschen ein, der über den aktuellen, moralisch fundierten Geschmack des breiten Publikums weit hinaus ein fernes Ziel der Gattung Mensch anvisiert. Der Künstler, der nur den Bildungsphilister bedienen will, wird, so sieht es auch Rilke, eine Art "Onkel", der "seinen Neffen und Nichten (dem geneigten Publikum) einen Sonntagsspaß vormachen soll", sein Werk eine entartete Kunst, die das Publikum schont:

Das ist das Kunstwerk [...] So möchte das Publikum den Künstler; deshalb diese philisterhafte Furcht vor dem Unerfreulichen in der Kunst, vor dem Traurigen oder Tragischen, dem Sehnsüchtigen und Grenzenlosen, dem Furchtbaren und Drohenden, - dessen man im Leben hinreichend hat. Darum die Zuneigung zu dem harmlos Heitern, dem Spielerischen, Ungefährlichen, Nichtssagenden, Pikanten, - zu jener Kunst von Philistern für Philister, die man genießen kann wie einen Nachmittagsschlaf oder wie eine Prise Schnupftabak. - (FT: 26)

Doch nicht nur fürchtet sich die Philisterkultur vor der echten Kunst, sondern, so Nietzsche, sie hasst sie auch: "Wir verstehen es, warum eine schwächliche Bildung die wahre Kunst hasst; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang." (GT: 20) Rilke nimmt gegenüber der "Kunst von Philistern für Philister" ganz im Stile von Nietzsches Zarathustra - man denke nur an dessen Dimant-Gleihnis- Stellung: "Aber wir müssen hart sein, um stark zu bleiben." (FT: 27) Dieses "Wir" definiert eine prophetische Rolle des einsamen Künstlers, der das angeredete "Ihr" über die Beschaffenheit einer Kunst, wie sie vom Dichter erfordert wird, aufhellt. "Wisset denn, dass die Kunst ist: das Mittel Einzelner, Einsamer, sich selbst zu erfüllen. Was Napoleon nach außern war, das ist jeder Künstler nach innen. Es geht über Siege wie über Stufen aufwärts." Die so verstandene Kunst ist "ein Weg der Freiheit", die Erfüllung des Künstlers selbst: "Wisset denn, dass der Künstler für sich schafft - einzig für sich. Was bei euch Lachen wird oder Weinen, muss er mit ringenden Händen formen und aus sich hinausheben." Der Weg des Künstlers heißt "Hindernis um Hindernis überbrücken und Stufe um Stufe bauen, bis er endlich hineinblicken kann in sich selbst", eine "Heimkehr in sich selbst" (FT: 28), sein Schaffen ist ein "Orden", denn "er stellt aus sich hinaus alle Dinge, die klein und vergänglich sind: seine einsamen Leiden, seine unbestimmten Wünsche, seine ängstlichen Träume und jene Freuden, welche welken werden." Der Schaffende, den auch Nietzsches Zarathustra als den Träger der Zukunft immer wieder anspricht, ist auch für Rilke "der weitere Mensch, der, über welchen hinaus die Zukunft liegt" (FT: 29), die Kunsttat ist Befreiung, aber nur für den Künstler, den einzigen Kulturschaffenden selbst: "So ist die Kunst der Weg zur Kultur für den Künstler. Aber nur seine Kunst und einzig für ihn," unterstreicht Rilke. (FT: 30) Denn: "Eine gemensame Kultur gibt es aber nicht. Kultur ist Persönlichkeit; das, was man bei einer Menge so nennt, ist geselschaftliches Übereinkommen ohne innere Begründung." (FT: 32) Die zur Einsamkeit verurteilten Künstler sollen aber nicht nur die Menge vermeiden, sondern auch einander: "Künstler sollen einander meiden. Die große Menge rührt nicht mehr an sie, wenn ihnen erst bestimmte Befreiungen gelungen sind. Einsame aber sind eine große Gefahr füreinander." (FT: 33) Die Kunst "geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg" (FT: 40), die Künstler zeigen den Weg, den sie bereits hinter sich gelassen haben:

Wir aber müssen unsere Vergangenheit in Werken aus uns herausstellen, abschließen. Sie sind erst vollendet, wenn sie nicht mehr Teile sind unser selbst, wenn sie übersetzt sind in eure Umgangsprache, das heißt, wenn das Buch Buch, wenn das Bild Bild in eurem Sinne ist. Dann ist keine Brücke mehr von uns dazu, dann sind sie hinter uns, und wir können uns auf sie stellen. (FT: 42f.)

Die Künstler bringen "Klarheit hinter jeder Nacht" (FT: 43), eine Art Morgenröte - das Symbol Nietzsches -, schaffen neue Gesetze, während sie die "alten Tafeln", gleich Zarathustra, zerbrechen. Kunst ist Gesetzgebung genialer Künstler, die einen Sinn für die Zukunft haben - "Wir sind die fernen Erben, die berufen wurden um der vielen Vermächtnisse willen" -, und die dann von "intellektuellen Köpfen" in der Form von Regeln nachgeahmt werden:

Es ist übrigens eine eigene Sache um die Gesetzgebung - den Künsten gegenüber. Es müssen erst immer große Werke geschehen, aus welchen intellektuelle Köpfe dann die Regel ableiten. Die Zeit aber, welche klare Kunstregeln besitzt, ist stets schon eine Verfallsperiode und - was noch ärger scheint - eine Epoche der Nachahmung. (FT: 45)

Die prophetische Stimmung, die gelegentlich archaisierende - "Und Klarheit geschah" (FT: 69) - pathetische Stilhaltung sind für Rilkes Tagebuch nicht weniger bezeichnend als für Nietzsches Prosadichtung. Die Aphorismen wie "Eure Sehnsucht müsst ihr über euch haben, wo ih auch seid. Fassen müsst ihr sie mit beiden Händen und sie in die Sonne tragen, wo sie am seligsten ist; denn eure Sehnsucht muss gesund werden", "Es wird eine Zeit kommen, da keinen das Schicksal besiegt, ehe er nicht fruchtbar war" oder "Es werden Tage der Ernte kommen" (FT: 58) könnten ebenso aus der Feder Nietzsches stammen wie die einzelnen Gleichnisse wie etwa "Ich möchte eine Stimme haben wie das Meer und doch ein Berg sein und im Sonnenaufgang stehen, damit ich euch alle wachleuchten, überragen und aufrufen könnte", oder die Wortspiele wie "Es wird keiner Frucht finden, der nicht Ehrfrucht hat." (FT: 61) Von einer bloßen Nachahmung darf aber wiederum keine Rede sein. Viel mehr scheint es adäquater zu behaupten, dass Rilke, unter der Einwirkung Nietzsches, ein modernes Künstlerbild entwirft, das mit dem tradierten, etwa klassischen Kunstverständnis (Kunst als eine Art moralische Anstalt) bricht, um statt dessen an eine zukunftsorientierte, lebensnahe, prophetische Bestimmung der Kunst zu apellieren, in deren Dienst er den aus Daseinsfreude schaffenden Künstler als einsamen, "höheren Menschen" stellt. Rilke selbst scheut sich nicht, Bezeichnungen wie "höhere Menschlichkeit" (FT: 33) oder gar "höhere Gattung" (FT: 29) zu verwenden. Der von einer Bestrebung nach der höheren Gattung Mensch ergriffene Künstler zeigt eine "Sehnsucht nach sich selbst" (erneut, Zarathustras "Von der großen Sehnsucht" klingt an) und empfindet in der Stunde des Schaffens die - auch von Nietzsche in Ecce homo beschriebene - gesteigerte Schaffens- und Daseinsfreude in sich:

Das Leben in seiner friedlichen Festigkeit schien mir in dieser Stunde wie ein weiter Rahmen, in welchem alles Raum hat, und das Ende verlor seine Furcht, weil nahe neben ihm der Beginn stand und der Ausgleich der beiden wie in leiser und lächelnder Verabredung und nicht anders wie ein wiegendes Wellenschlagen geschah. (FT: 65)

Hieraus ergibt sich die "Seligkeit" des Lebens und Schaffens, die sich äußern will:

Denn ich weiß etwas in mir, [...] eine neue große Helligkeit, die meiner Sprache Macht und eine Fülle von Bildern gibt. Ich entdecke mich jetzt manchmal dabei, wie ich mir selbst lauschend bin und in staunender Ehrfurcht von meinen eigenen Gesprächen lerne. Es tönt etwas tief aus mir, welches über diese Seiten, über meine lieben Lieder und über alle Pläne von künftiger Tat hinaus zu den Menschen will. Mir ist, als müsste ich reden, jetzt im Augenblicke der Kraft und Klarheit, da mehr aus mir spricht denn ich selbst: meine Seligkeit. (FT: 92)

Der Wert des Versuches, das innere Erlebnis sprachlich zu gestalten, wird vom Dichter selbst formuliert:

Und nun dieses Buches letzter Wert ist die Erkenntnis eines Künstlertums, das nur ein Weg ist und in einem reifen Dasein endlich sich erfüllt. [...] Und der letzte, welcher nach lange kommt, wird alles in sich tragen, was um uns wirksam und wesenhaft ist; denn er wird der größte Raum sein, erfüllt mit aller Kraft. Das wird nur einer erreichen; aber alle Schaffenden sind sind die Ahnen dieses Einsamen. [...] Alles in ihm ist zusammengeflossen, und alle Mächte, die sonst einander zerstreut bekämpften, zittern unter seinem Willen. (FT: 133)

Diese extatisch-prophetische Ankündigung der Ankunft eines "Einsamen" erinnert wieder an die Predigten Zarathustras, der unter dem Motto "wir wollen, dass der Übermensch lebe" alle "höheren Menschen" als Zwischenstufen zu dieser letzten Realisierung menschlichen Daseins und Willens betrachtet. Rilke spricht allerdings nie das Wort Übermensch aus, sondern setzt an die Spitze jeder Generation von "reiferen Wesen" einen im irdisch-immanenten Sinne verstandenen "Gott" als letzte Verwirklichung und einheitlichen Ausdruck einer im ständigen Wandel und Werden begriffenen Welt: "So rankt sich jedes Geschlecht wie eine Kette von Gott zu Gott. Und jeder Gott ist die ganze Vergangenheit einer Welt, ihr letzter Sinn, ihr einheitlicher Ausdruck und zugleich die Möglichkeit eines neuen Lebens." (FT: 112f.) Ist für Nietzsches Zarathustra der Übermensch der "Sinn der Erde", des menschlichen Seins überhaupt, so erfüllt hier ein diesseitiger Menschen-Gott die gleiche Funktion. Die Rolle des Künstlers in diesem Weltbild ist dabei die, den Weg eines solchen Gottes vorzubereiten: "Aber für uns ist die Kunst der Weg". (FT: 113) Diese Vorstellung ist nur bestärkt durch des Dichters starkes Gefühl, dass die einsamen Künstler wie er selbst die Garantie für die erhoffte und erwünschte Zukunft sind: "Ich fühle also: dass wir Ahnen eines Gottes sind und mit unseren tiefsten Einsamkeiten durch die Jahrtausende vorwärtsreichen bis zu seinem Beginn." (ebd.)

Damit wird der Weg in die Zukunft des Menschen in dem Zwischenzustand nach dem Tode des christlich tradierten Gottes und vor dessen Neuinterpretation parallel mit der Neubegründung der Subjektivität ausgezeichnet. Eine Religion im überlieferten Sinne scheint für Rilke nicht möglich, die Umwertung aller Werte muss erfolgen, und der Kunst kommt in diesem Prozess eine eminente Rolle zu. Doch der Prozess ist für Rilke nicht neu: Er entspricht einem ständigen, zyklischen Aufeinanderfolgen der Generationen:

Es wechseln immer wieder drei Generationen. Eine findet den Gott, die zweite wölbt den engen Tempel über ihn und fesselt ihn so, und die dritte verarmt und holt Stein um Stein aus dem Gottesbau, um damit notdürftig kärgliche Hütten zu bauen. Und dann kommt eine, die den Gott wieder suchen muss. (FT: 24)

Die Frage blieb immerhin, für Rilke, aber auch für Viele seiner Zeitgenossen, ob die letzte Aufgabe der Kunst in der Vergöttlichung des Einsamen, das heißt des Einzelnen bestehe, ob die Neubegründung der Subjektivität nicht in die Neuinterpretation des Daseins überhaupt mittels der Kunst überführen könnte.

 

Dionysos und Orpheus: Mythos als Daseinsbejahung

Der Neubegründung der Subjektivität korrespondieren in Rilkes späteren Werken, so in Duineser Elegien die Symbole des Engels oder der Puppe. Der Held dagegen (VI. Elegie) unterscheidet sich von diesen, der Monumentalisierung des Ich im Florenzer Tagebuch entsprechend, durch sein "Wikliches und Widerständiges", und zeigt damit Affinitäten zu Nietzsches "Übermensch". Der Held und die Figurengruppen wie Kinder, Sterbende, Tote gehen, obwohl auf verschiedene Weisen, in einem "dionysishen All-Leben" jenseits von Reflexion und Todesfurcht auf. (Engel 1986: 136) Dieses dionysische All-Leben bedeutet zugleich die Annahme der Fremdheit von Wirklichkeit, Schicksal, Leid, Schmerz, ein Bekenntnis zum "Hiesigen" im Sinne einer diesseitigen, nach-metaphysischen Philosophie, wie sie von Nietzsche - nicht aber von Heidegger, für den Nietzsche nur der Gipfelpunkt metaphyssichen Denkens, nicht aber dessen Überwindung war - konzipiert wurde. Doch die dionysische Bejahung diesseitiger, irdischer Wirklichkeit führt bei Rilke zu keiner Deklarierung des Willens zur Macht, der sich auch als Pathos der Distanz definieren ließe, sondern zu einer Art apollinischem Humanismus, einem Bündis der Wesen durch Liebe. Auch Nietzsches Absage an Besitzverhalten verwandelt sich in eine Seligsprechung der Armut im Stundenbuch und Malte. All dies entspricht allerdings Rilkes Bestrebung, ein Gegenbild zur Verdinglichung des modernen Menschen zu entwerfen, so wie diese etwa auch in Malte als Klage über das fabrikmäßige Sterben der Menschen zum Vorschein kommt. (RW VI, 713) Das Konzept der Gemeinsamkeit der Menschen taucht übrigens auch in den Marginalien zu Nietzsche Geburt der Tragödie auf und wird nach dem Modell der Identifizierung der Zuschauer mit dem Chor in der antiken Tragödie vorgestellt. (RW VI, 1163ff.)

Nietzsche griff in der Geburt der Tragödie, wie auch Rilke in seinen Sonetten an Orpheus, auf einen antiken Mythos zurück. Die beiden bilden damit freilich keine Einzelfälle der Moderne, man kann ja sogar von einer Renaissance des Mythos von der Frühromantik bis ins zwanzigste Jahrhundert eines Th. Mann, Hesse, Broch, T.S. Eliot, D.H. Lawrence sprechen. Der Mythos erscheint sogar als Gegenbild zur "Dialektik der Aufklärung" und der zivilisatorischen Gegenwart. Das Schöpfen aus dem Mythos vermehrt die kreative Kraft und das Potential der Sinngebung in einer in infinite Wahrheiten zerfallenen Welt. Das Schaffen, der schöne Schein des Apollo entspringt der dionysischen Basis und trägt zur Bereicherung weltlicher Erscheinungsformen bei, es ist, in Manfred Engels Formulierung, eine "Verbindung von Apollinischem und Dionysischem in ganzheitlichem Erkennen und Gestalten." (Engel 1986: 199) Die Gesinnungsverwandtschaft zwischen Nietzsche und Rilke, die in den thematischen Entsprechungen manifest wird, zeigt sich auch in ihrer Interpretation des Dionysos- bzw. Orpheus-Mythos. Auch da, wo keine Gottheit genannt wird, scheint Rilke das tiefste Verständnis für das Dionysische zu zeigen, wie bereits an einer Stelle im Florenzer Tagebuch, wo es heißt:

Es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken sehe ich tief in die Erde hinein. Und sehe die Ursachen aller Dinge wie die Wurzeln breiter, rauschender Bäume. Und sehe, wie sie alle aneinander greifen und sich halten wie Brüder. Und sie trinken alle aus einem Quell. (FT: 64)

Auch lag für Nietzsche der Geburt der Tragödie eine gemeinsame Quelle hinter der Erscheinungswelt, der Dinge und Bäume nicht weniger, als der Kunstwerke, der dionysischen Tragödie in erster Linie. Der junge Rilke war gewiss ein fideler Leser der Geburt der Tragödie. Doch der spätere scheint sich von dieser "Quelle" auch nicht zu entfernt zu haben, ganz im Gegenteil. Denn es ist eben die mythische Gestalt des Orpheus, die die feinste Verwandtschaft mit Dionysos zeigt. Sie sind verwandt, dieser Orpheus und Dionysos, beide "eingeweiht in die Alchimie der Einsamkeit" (Heller 1975: 80), aber auch in die des Schmerzens und Leidens, die Schattenseiten des Lebens, die doch integraler Teil desselben sind. Beide bejahen somit das menschliche Dasein in dessen Totalität, verklären es in ein Übermaß an Seligkeit. Aus dieser Perspektive der vorbehaltlosen Daseinsbejahung heraus, die dem Leben als Ganzem eine zusätzliche Intensität verleiht und die Schöpferkraft vermehrt, kann man ebensowohl von einer orphischen Weltanschauung Nietzsches als, umgekehrt, von einer dionysischen Weltanschauung Rilkes sprechen. Orpheus "Gesang ist Dasein", heißt es in Rilkes III. Sonette, sein Herz "vergängliche Kelter/ eines den Menschen unendlichen Weins" (Sonett I/IV), er rühmt "Erfahrung, Fühlung, Freude" (I/XIII) mittels einer "Musik der Kräfte" (I/XII); und auch Zarathustras "Trunkenes Lied" preist die dionysische Lust am Dasein, die dessen Ewigkeit will: "doch alle Lust will Ewigkeit -/ - will tiefe, tiefe Ewigkeit! -" Beide, Orpheus und Dionysos, setzen eine existentelle Tiefe hinter der Vielfalt der Erscheinungen und Gefühle, einen (Ab)Grund des Seins voraus, an den sie gemahnen wollen, und aus dem zu "schöpfen" sie die heiligste Aufgabe des Künstlers erblicken. Das beste Medium beider Götter ist die Musik, so wie die dionysische Tragödie aus dem Geiste der Musik geboren wurde, so wie Orpheus Saiten Menschen, Tiere und Pflanzen und auch die Unterwelt verzauberten, das ewig rollende Rad des Ixion zum Stillstand brachten. Orpheus Musik ist die Kunst schlechthin, er selbst das Urbild jedes Künstlertums, und deshalb ewig, so wie auch in Rilkes Florenzer Tagebuch das Idealbild des Künstlers die dem täglichen Tun entgegengesetzte aber zugleich darin wirksame Ewigkeit repräsentiert: "Der Künstler ist die Ewigkeit, welche hineinragt in die Tage." (FT: 29) Wo aber Orpheus zur Laute greift, um sein unaussprechliches Leiden durch Gesang zum Ausdruck zu bringen, da ruft Dionysos den Gott des schönen Scheins, Apollo zu Hilfe, um Kunst zu werden. So wird dieser über dem Chaos des Dionysos Herr und gestaltet, wie Rilke in einem berühmten Brief von 1904 schreibt, die "Millionen reifen, feinen, goldenen Formen", "ein ganz und gar ausgegorenes und durchglühtes apollinisches Gebilde." (nach Heller 1975: 85) Wenn Orpheus die gestaltlose Kunst ist, die Musik selbst, die Diesseits und Jenseits durchdringt um beide in Gesang zu vereinigen, so gestaltet Apollo das Kunstwerk, indem er ihm Sprache und Form verleiht. Der schaffende Künstler, der sowohl Orpheus Gesang als den Seinsgrund des Dionysos wahrnimmt, ist mehr als ein Nachahmer vorgegebener Schönheit, denn er vermag durch diese Wahrnehmung neue Wahrheiten, seien sie schön oder schrecklich - "Alle Engel sind schrecklich", heißt es in der Ersten Elegie - zu schöpfen, die die bereits existierende, aber im ständigen Wandel begriffene Welt mitschöpfen. Diese durch tiefsten und inneren Wahrheiten sind aber nicht unbedingt philosophisch oder theologisch prästabilierte orthodoxe Wahrheiten, denn letztere sind viel mehr Ausprägungen des Zeitgeistes als dionysisch-orphische Erkenntnisse. Nietzsche, der Dionysos dem Gott der Christen vorzog, meinte es auch nicht anders, als er "jeder Wahrheit, sogar der schlichten, herben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit" Seinsberechtigung zuerkannte. (GM I: 1) Auf diesem Grund schöpferischer Erkenntnis entschwindet jede Scheidewand zwischen Dichten und Denken, die Dichtung selbst wird Erkenntnis, so wie es etwa auch von Brochs Vergil erhofft und verlangt wurde.

Eine solche Kunst, die Erkenntnis werden will, ist offenkundig keine art pour l'art, sondern wohl eine art pour l'homme, dessen Werden zu fördern sie sich zum Ziel setzt. Die Anforderung dieser Kunst mit existentiellen Ansprüchen wird weniger an den modernen Menschen wie er ist, an den nie zum Bewusstsein seines Seinspotentials gelangenden Schlafwandler (um wieder an Broch zu erinnern), sondern viel mehr an den Menschen "wie er sein soll" im Sinne Nietzsches gerichtet. Um den Menschen aus seiner inauthentischen Existenz, aus seinem bedenkenlosen Laufen - "Leute laufen, überholen sich" (RW VI, 710) - herauszureißen, muss seine Wandlungsfähigkeit angesprochen und erfordert werden: "Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert." (Sonett II/XII) Erst der in Werden und Wandlung begriffene Mensch kann durch den schönen Schein der Kunst erlöst werden. Durch den Gesang des Daseins wird der Künstler selbst zum Verklärer des Daseins, er übernimmt gleichsam die Rolle des "verklärenden Genius" des Apollo, nicht aber um bei dem principium individuationis zu verbleiben, sondern, im Sinne der von Nietzsche formulierten "dionysisch-apollinischen Anthropologie", in der Gesellschaft von Dionysos den Bann der Individuation zu zersprengen und dem Menschen den Weg "zu dem innersten Kern der Dinge" aufzuzeigen:

Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii invividuationis, durch den allein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: während unter dem mystische Jubelruf des Dionysos der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. (GT: 16)

Wenn der Künstler, der schlechthin Erkennende und zur Erkenntnis Auffordernde hinter den Schleier Majas in den innersten Kern der Dinge eindringt, dann tut sich ihm ein Blick auf, der seinen Erkenntnishorizont um eine Dimension erweitert. Die so erlangte Erkenntnis wirkt auf den Erkennenden zurück, der seine Wesensgleichheit mit den Dingen hinter der Welt des schönen Scheins entdeckt und mit ihnen ein Bündnis auf Grund des erweiterten und vertieften Verstehens schließt. Bereits im Florenzer Tagebuch las man ja:

Und dabei wird es mir immer klarer, dass ich gar nicht von den Dingen rede, sondern davon, was ich durch sie geworden bin, [...] dass ich den Dingen immer mehr ein Jünger werde, der ihre Antworten und Geständnisse durch verständige Fragen steigert, der ihnen Weisheiten und Winke entlockt und ihre großmütige Liebe mit der Demut des Schülers leise lohnen lernt. (FT: 70f.)

Diese Erkenntnis ist insofern Metaphysik, dass sie die Begrifflichkeit und physische Greifbarkeit der Dinge hinterfragt, ohne indessen ihren transzendentalen Ursprung vorauszusetzen. Nicht einmal das Symbol (das Bezeichnende, wenn man der Semiotik gerecht werden will) des Engels wird als ein transzendentales Wesen konzipiert. Die vom Dichter besungenen Dinge, wie vor allem in den frühen Gedichten Rilkes, die einfachen, wohlbekannten Gegenstände wie eine Geige oder ein Ball, sind Erscheinungen, an deren Wesen sich das erkennende Subjekt heranwagt. Aber die Immanenz der Dinge tut sich nur insofern auf, dass das Subjekt gleichsam auf die eigene Subjektivität Verzicht leistet und das Objekt in einem Prozess der Wahrnehmung penetriert. Das Objekt wird damit, wie auch bei einem Mallarmé oder Georg Trakl, nicht mehr dem erkennenden Subjekt untergeordnet, sondern offenbart seine Wesensgleichheit mit dem entpersönlichten Subjekt. Im immanenten Wesen der Dinge verschwindet die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, ihr apollinischer Schein wird entlarvt, sie zelebrieren ihr gleichzeitiges Einssein in einer Welt, die zum Bewusstsein seines Selbst gelangt ist. Die Bezeichungen Subjekt und Objekt überhaupt werden relativ, ihre Koinzidenz annuliert ihre gewohnte Unterscheidung und lässt nur diejenige Erkenntnis übrig, die man getrost dionysisch nennen darf. Denn sie spricht die Einheit alles Seins aus.

Dieser Standpunkt verneint jede Trennung von Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Mensch und Ding, Gestalt und Gestalt, Begriff und Begriff (auch "Gut und Böse"), er lehnt mithin das principium individuationis in einem Ineinanderschmelzen von Immanenz und Transzendenz ab. Er proklamiert die Notwendigkeit einer authentischen Existenz, wo der Mensch seinen Zustand des Nicht-mehr-zu-Hause-Seins "in der gedeuteten Welt" (Erste Elegie) überwindet. Ist mit dem Tod Gottes die traditionelle Metapysik und mit ihr jede herkömmliche Sinn- und Seinsdeutung erschüttert worden, so bleibt dem Dichter, Rilke nicht weniger als Nietzsche, die Atlassche Aufgabe auf die Schultern zu nehmen, jenseits von Begriffen und Kategorien neue Horizonte irdisch-menschlicher Existenz auszuzeichnen. Die "Struktur" hinter ihren Werken verrät die gleiche "Einfalt aller fragelosen Hingabe" (Heller 1975: 104) an die Welt, an die Erde, die es nach Kräften zu rühmen galt. Aus der Verneinung des Menschen wie er ist erwächst der Anspruch auf den Menschen und einen "Menschensinn" (Nietzsche), die die Hoffnung der Zukunft tragen. Doch diese Zukunft wird nicht in eine nie erreichbare und nie aussagbare Transzendenz projiziert, sondern im Augenblick des Hier und Jetzt, des "Hiersein ist herrlich" festgehalten, wo zwischen Rilkes "Ein Mal" - "Aber dieses / ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: / irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar" (Zehnte Elegie) - und Nietzsches ewiger Wiederkunft im eigentlichsten Sinne kein Unterschied vorliegt. Denn die Ewigkeit des Augenblicks ist, hier wie dort, die Erlösung von der Nichtigkeit individueller Existenz. Der Mensch, Erlöser seines selbst im Grenzland zwischen Immanenz und Transzendenz, erlebt diesen ewigen Augenblick mit der höchsten Freude, die nicht nur jedes irdische Leiden übersteigt und überwindet, sondern auch schöpferhaft macht.

Mit dem Orpheus-Mythos schöpfte Rilke bekanntermaßen aus einer reichen symbolistischen Tradition: So hat die explication orphique de la terre gegenüber der deviation homerique bereits bei Mallarmé eine poetologische Relevanz. (vgl. Hoffmann 1987: 195) Orpheus verfügt über eine Kraft des Perennierens, die vermöge der zur Sprache und Dichtung gewordenen Musik aus der Vorzeit her als immer Seiendes - "Denn immer ists Orpheus, wenn es singt" in der Gegenwart und der Zukunft weiterwirkt. Sein Gesang ist keine entrückte, dem Menschen unzugängliche Transzendenz, sondern die "Artikulation eines universalen Bewusstseins" (Hoffmann 1987: 197), mithin eine immanente Sphäre, die jedoch die Grenze des menschlichen Erkenntnisvermögens umweht. Als mythische Gestalt ist er ebenso wenig greifbar wie die Musik oder die reine Poesie, erst durch seine "Metamorphose in dem und dem" tut er sich den Sinnen auf und wird begreifbar. Sein Bild, das es dem Menschen zu wissen gilt, übersteigt die Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz, denn: "aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur" (Sonett I/VI). Der Aufruf "Wisse das Bild" ist insofern eine Antwort auf die zentrale, an den Menschen gerichtete Frage des Dichters "Wann aber sind wir?", dass er eine Erkenntismöglichkeit jenseits der Alltagswirklichkeit, doch diesseits menschlicher Existenz anbietet. Er ist eine Gemahnung an ein dionysisches "unbegrenztes In-Allem-Leben", von dem Rilke in seinen Marginalien zu Nietzsches Geburt der Tragödie schreibt. Die Aufgabe der Dichtung, insofern sie Orpheus treu bleiben will, ist nun eben die Ausdehnung menschlicher Horizonte der Wahrnehmung. Für den nach Erkenntnis strebenden Dichter ist deshalb jedes Singen ein orphisches Ereignis, eine Offenbarung des Unzeitlichen in der Zeit.

Der so begriffene Orpheus ist keine Gottheit des Hades, aus dem es, wie aus der Toteninsel Alfred Böcklins, keinen Rückweg gibt, sondern eine Imagination, die die Lethe in beide Richtungen überqueren kann. Seine Stimme ist keine stille Verlockung ins Jenseits, sondern ein Preislied des Daseins trotz der Einmaligkeit menschlichen Lebens. Er entspricht vollkommen den Absichten eines Dichters, der das menschliche Dasein trotz jedes Leidens und jeder Vergänglichkeit besingen und bejahen will. Und eben auf diese Weise kann Orpheus die gleiche Funktion bei Rilke erlangen, wie Dionysos bei Nietzsche.

Paul de Mans Einwand: "Was die Innerlichkeit von Dingen zu sein scheint" sei "keine substantielle Analogie zwischen dem Selbst und der Dingwelt, sondern eine formale und strukturelle Analogie zwischen diesen Dingen und den Figuralen Mitteln von Worten" schaltet allerdings eben diese oben skizzierte Metapysik, die einzige "Artisten-Metaphysik", die Nietzsche zuließ, (GT: Vorrede) aus, zu Gunsten von einem "Vorrang des Lautelements", den man nicht nur im Stunden-Buch, sondern auch beim späteren Rilke bestätigt finde. (de Man 1988: 70) Aus demselben Standpunkt ergibt sich allerdings auch die Feststellung "Die Entsprechung [zwischen dem dichterischen Selbst und den Dingen] bestätigt nicht eine versteckte Einheit, die in der Natur der Dinge und Wesenheiten vorhanden ist; sie ist viel mehr wie das nahtlose Zusammenstecken einzelner Stücke in einem Puzzle." (ebd.) Dieses Puzzlespiel mit eigenen, in erster Linie lautlichen Regeln, diese "List" der dichterischen Sprache sei somit ein Wesensmerkmal, das Rilkes Lyrik durchzieht. Wenn sich aber de Man fragt, ob die Dichtung Rilkes "wirklich die Sprachkonzeption teilt, die ihr zugewiesen wird" (de Man 1988: 59), so erscheint doch auch die Rückfrage gleichberechtigt, ob die Aus-legung einer Sprache die hermeneutische Voraussetzung der Daseinserkenntnis erübrigen kann oder darf. Wenn man sich gegen die Interpretation der (dichterischen) Sprache als von bloßem "Hilfsmittel in ihrer Beziehung auf eine Grunderfahrung" (de Man 1988: 58) zur Wehr setzt, und das Spiel in der Sprache ohne ihren Ursprung im menschlichen Dasein als Zusammenwirkung von Zeichen behandelt, dann scheint jede Frage nach einer dionysischen Erkenntnis in den Hintergrund zu rücken. Doch eben als Hintergrund vermag die Erkenntnis die Sprache an den Tag zu fördern, die nicht ihr Werkzeug, sondern ihre wahnnehmbare Erzeugung und Entsprechung ist. Die Sprache des Dichters und das Dasein der Dinge sind ebenso komplementär, wie Apollo und Dionysos, und wer jene zerlegt und dieses nicht wahrnimmt, der wird allerdings, wie Sokrates, kein Ohr für Dionysos haben.

 

 

Literatur:

 

FT= Rilke, Rainer Maria: Florenzer Tagebuch. Frankfurt a.M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1994.

RW= Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Band I-VI. Frankfurt a.M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1987.

KSA= Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. München: DTV; Berlin: W. de Gruyter, 1980.

Die Abkürzungen der (mit Absatznummern) zitierten Werke Nietzsches:

AC= Der Antichrist

GT= Die Geburt der Tragödie

GM= Zur Genealogie der Moral

JGB= Jenseits von Gut und Böse

MA= Menschliches, Allzumenschliches

ZAR= Also sprach Zarathustra

 

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de Man, Paul: Tropen (Rilke). In: Ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt a.M: Suhrkamp, 1988. S. 52-90. (es 357)

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Engelhardt, Hartmut (Hrsg.): Materialien zu Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. (2. Aufl.)

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